Nach dem Golfkrieg

Der juristische Wüstensturm

von Martin Gräbener

Eine Welle von Prozessen richtet sich gegenwärtig gegen jene, die An­fang des Jahres mit Verweigerungs- und Desertionsaufrufen an Solda­ten gegen den Irak-Krieg aktiv wurden. Vor allem scheint es um die Funktionsfä­higkeit der staatlichen Machtinstrumente zu gehen, um die im militärischen Bereich seit Januar - bedingt durch ein explosives An­schwellen der Verweigerungszahlen um mehr als 600 % - durchaus be­gründete Zweifel kreisen.

Im Vordergrund des Staatsschutz-Inter­esses steht der Appell der Grünen an die Soldaten der Bundeswehr, im Falle des Einsatzbefehls an den Golf den Kriegs­dienst zu verweigern und Fahnenflucht zu begehen, wohl auch weil dieser eine Art Initial-Funktion hatte und in der Öffentlichkeit durch das Vorgehen der Bonner Staatsanwaltschaft große Auf­merksamkeit fand.

Bundesweit hat es bislang vier Prozesse gegen insgesamt sieben Aktive gegeben. Zwei davon in Bonn gegen drei Mit­glieder des vormaligen Bundesvorstan­des der Grnen (R.Damus, Ch.Str”bele, J.Maier), den früheren grünen Ge­schöftsführer E.Walde und die Pres­sesprecherin A.Nilges. Auf dieser Ebene sind alle zu Geldstrafen (zwischen 1500,- und 7000,-DM) entsprechend ih­rer Einkünfte wegen Strafbarem Aufruf zur Fahnenflucht gem. 111 StGB in Verbindung mit  16 WStGB verurteilt worden, im ersten Verfahren gegen Walde, Damus und Strübele zur Hölfte unter dem Antrag der Bonner Staatsan­waltschaft, im 2. Verfahren (Maier und Nilges) entsprechend dem StA - Antrag. Alle haben Revision eingelegt.

In Nürnberg wurde eine Flugblatt-Ver­teilerin aus der Friedensbewegung (nicht Mitglied der Grünen) freigespro­chen. In München wurde ein Verfahren wegen eines englischen Aufrufs, der sich direkt an GI's richtete, wegen er­wiesener Rechtsunkenntnis der Straf­barkeit eines solchen Aufrufs an alliierte Soldaten in Deutschland einge­stellt.

Bekannt sind in Bonn weitere zwei An­klageschriften, die zu Prozessen führen sollen: Einmal gegen den für den Kom­plex verantwortlichen Mitarbeiter des Bundesvorstandes der Grünen und ein­mal gegen den früher presserechtlich Verantwortlichen der Bonner Grünen-Zeitung GRßZE.

Ansonsten wurden bundesweit bislang 12 Strafbefehle auf Bußgeldstrafen in Höhe von im Schnitt 600,-DM wegen Verbreitung des Aufrufs = Unterstüt­zung einer strafbaren Handlung zu­rückgemeldet. Bei etwa der Hälfte wurde Widerspruch eingelegt, bei den anderen muß von Zahlung der Strafe ausgegangen werden.

Interessant ist in diesem Zusammen­hang, daß mindestens zwei Verfahren gegen damalige grüne MdB's zwischen­zeitlich eingestellt wurden. Wirkt da ein Prominenten-Bonus, wie ja auch teil­weise im Rahmen der Pershing-Blocka­de-Prozesse zu beobachten ge­wesen ist?

An Ermittlungsverfahren sind bundes­weit außerhalb Bonn's bisher ca. 40 be­kannt, wobei mit 20 allein in Münster dort ein Schwerpunkt liegt. Aber auch in Krefeld und Andernach wird ermittelt.

In Bonn selber laufen im grünen Be­reich noch ca. 10 Ermittlungsverfahren gegen Flugblattverteiler, die noch nicht mit Strafbefehlen behelligt worden sind, und angeblich über 200 Ermittlungsver­fahren gegen die Unterzeichner des in gleiche Richtung zielenden Aufrufes von Pax Christi.

Noch im April und im Mai, also Wo­chen nach dem Ende der Kriegshand­lungen im 2. Golfkrieg, wurden Ge­schäftsräume und Privatwohnungen der DFG-VK NRW in Dortmund und Bochum wegen diesem und einem DFG-VK eigenen Aufruf vom Januar durchsucht sowie der Friedensladen Heidelberg wegen Rekruten-Aktionen.

Zu diesem Komplex staatlich-juristi­scher Belästigung sind in den letzten 4 Wochen noch Ermittlungsverfahren we­gen des Göttinger Aufrufs aus der Frie­densbewegung von der Bundeskonferenz der Friedensbewegung am 7./8.12.90 hinzugekommen (wegen Aufruf zur Unterstützung strafbarer Handlungen - gemeint ist der Aufruf, flüchtigen Soldaten Unterschlupf und Hilfe zukommen zu lassen -), bekannt sind derzeit zwei Ermittlungsverfahren, wobei sich eines wiederrum gegen E.Walde richtet als presserechtlich Ver­antwortlichen eines Flugblattes des Bundesverbandes der Grünen aus der ersten Januar-Woche 91 kurz vor Ablauf des Ultimatums an Irak, in dem aus­zugsweise der Text der Göttinger Er­klärung abgedruckt war.

Dazu kommt aktuell ein Ermittlungsver­fahren wegen Bannmeilenverletzung beim Bundestag in Bonn im Zuge einer angemeldeten Mahnwachen-Demon­stra­tion am 14.1.91 (Sondersitzung des Bundestages zum Golfkonflikt), bei der die Bonner Polizei sehr zu ihrem eige­nen Ärger mit einer spontan entschlos­senen und mehrstündigen erfolgreichen Blockade des Haupteinganges des Bun­destages konfrontiert wurde, ohne daß ihr angesichts des geschlossenen Vor­gehens aller Beteiligten auch beim Rückzug aus der Bannmeile die Ver­haftung oder Feststellung sogenannter Rödelsführer gelungen wäre.

Sinnigerweise richtet sich das Ermitt­lungsverfahren gegen den Anmelder der Mahnwache außerhalb der Bannmeile (Bonner Friedenskooperative) und ge­gen Unbekannt aufgrund von Polizei-Videos bzw. Fotos, die den bzw. die von der Bonner Polizei angenommenen Rö­delsführer in Aktion zeigen sollen(?).

Wegen Flugblattwerfens von der Tri­büne bei dieser Bundestagssitzung hat das BT-Präsidium beim Europa-Parla­ment die Aufhebung der Immunität von Cl.Roth und W.Telkömper beantragt. Was daraus geworden ist, ist momentan nicht bekannt.

Bundesweit läuft angeblich seitens der Bundesanwaltschaft immer noch ein Er­mittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen Bildung einer kriminellen Ver­einigung namens Aktion Winterur­laub, der aktiven Hilfe für unterge­tauchte GI's. Von irgendwelchen Fort­schritten seitens der Ermittler ist nichts bekannt. In Tübingen läuft ein gleiches Ermitt­lungsverfahren gegen den Freundeskreis Absent Soldiers. Zu den Mitbegründern gehört Walter Jens, der sich nach eigenem Bekunden auf öden Prozeß freut.

Ansonsten sind alle Verfahren wegen des Grünen Bundesverbands-Plakats Sagt Nein ! eingestellt worden.

Bewertung:
Politisch-juristisch treibender Faktor ist nach wie vor die Staatsanwaltschaft Bonn auf angeblich höhere Weisung aus Karlsruhe, die in bestimmten Berei­chen zusätzlich zu den Flugblattverfah­ren, wie die neuen, nachgeschobenen Ermittlungsverfahren zeigen, noch zule­gen möchte. Wobei die Vorgehensweise auf mich den Eindruck von Abschreckung in den Bereich der aktiven Frie­densbewegung und antimilitaristisch ak­tiven Teil der Grünen hinein macht, vor dem Hintergrund des Golfkrieges, aber eben angesichts der geplanten „Out of Area“-Beteiligung der Bundeswehr auch darüber hinaus für künftige Aus­einandersetzungen.

Mein Eindruck ist, daß die im Dezember und v.a. Januar geradezu explosionsartig angestiegenen und nicht zuletzt durch unsere Aufrufe ausgelösten Verweige­rungszahlen bei aktiven Soldaten, Re­servisten und Wehrpflichtigen (über 600 % mehr alleine im Januar) den Herr­schaften auf der Hardt-Höhe und im Kabinett doch einiges Kopfzerbrechen gemacht haben.

Zumal ja die gesamte militärpolitische Orientierung sich im Umbruch befindet und angesichts des Schwindens der bis­herigen Legitimation durch den „bösen Feind im Osten“ und den noch nicht so richtig zur adäquaten Bedrohung heran­gewachsenen im Süden - trotz kräftigem Aufpäppelns - sowas wie ein Vakuum für die Bundeswehr entstanden war (bei genauer Betrachtung immer noch ist).

Ein Vakuum, in das wir zumindest in­nenpolitisch in Deutschland seit Sep­tember mit dem Bundeswehr-Aufruf ei­nerseits und der Anti-Rüstungsexport-Kampagne andererseits mitten hineingestoßen sind und deshalb auch mit unse­rem politisch-offensiven Vorgehen ge­gen diesen Krieg und die bundesdeut­sche Beteiligung und Verantwortung daran die Bundesregierung zumindest zeitweilig auf dem falschen Fuß er­wischt haben.

Allerdings ist das Vorgehen andererseits nicht so massiv und druckvoll, wie dies angesichts der politischen Brisanz und zukünftigen Entwicklung erwartet wer­den könnte, wahrscheinlich gerade des­halb nicht.

Eher scheint mir die Gegenseite daran interessiert zu sein, wiederum nach au­ßen nicht zu viel Aufsehen zu erregen, um Solidarisierungen und öffentliche Debatte um die juristische Aufarbeitung der innenpolitischen Auseinanderset­zung in Deutschland vor, während und nach dem 2.Golfkrieg zu vermeiden und trotzdem für künftige Auseinanderset­zungen abzuschrecken.

Angesichts der „Ergebnisse“ dieses Krieges für die „neue Weltordnung“, die mit viel Aufwand am Golf herbei gebombt werden sollte und jetzt ihre Ma­nifestation beispielsweise in der Situa­tion der Kurden findet oder in der Vor­bereitung neuer „Friedensmissionen“  durch intensivierten Waffenexport (nach gegenseitiger Marktabsprache wie in Paris vereinbart, man(n) möchte sich ja gegenseitig nicht mehr so massiv wie früher in die Quere kommen) und durch das zukünftig möglich werdende Auf­treten neuer Mitspieler (das vereinte Deutschland, die Europäische Union), würde eine richtig geführte und politisch zugespitzte Auseinandersetzung um diese juristische Aufarbeitung seitens der politischen Staats-Justiz durchaus Sinn machen. Schließlich hatten wir in so ziemlich je­der Hinsicht Recht, was unsere Arbeit gegen diesen Krieg und die „neue Welt­ordnung“ dahinter angeht.

Kein Grund also, die Verfahren und im Grunde doch massiven Beschneidungs­versuche  unserer politischen Beweg­lichkeit und Handlungsfreiheit einfach hinzunehmen und die Betroffenen damit einfach alleine zu lassen.

Überdies birgt der Fortgang der Top-Verfahren in Bonn einiges an politisch-juristischen Möglichkeiten unsererseits, gegenüber dem realen NATO/Bundes­wehr - Out of Area Prozeß politische Punkte und gegenüber der ebenso realen Tendenz der diesbezügli­chen Verfassungsaushöhlung auch juri­stische Punkte zu machen. Wenn wir wollen.

Was getan werden könnte - nächste Schritte
(Grundsätzlich natürlich: Nicht nachlas­sen in der antimilitaristischen Beeinflus­sung der jetzigen und künftigen Solda­ten und Infragestellung von Existenz und Auftrag von Bundeswehr und NATO und Militär überhaupt. Dazu vor dem Hintergrund der Out of Area-Pla­nungen in Bälde mehr.)

  1. Betroffenen-Konferenz mit anschlie­ßender Pressearbeit zum Stand der Dinge im September oder Oktober in Bonn in Trägerschaft Friedensbewe­gung/Kooperative Netzwerk Bonn
  2. Aufruf an die Friedensbewegung und die Gliederungen der politischen Parteien, die friedensbewegt aktiv sind, sowohl Solidarität durch politi­sche Aktivität hierzu als auch Solida­rität durch Bildung eines Rechtshilfe-Fonds auf Bundesebene zu leisten.
  3. Entsprechende Öffentlichkeitsarbeit durch klug und zeitgerecht geschal­tete Anzeigen und Presse-Hinter­grund Gespräche, um die Medien zu interessieren. Eine lapidare, etwas flapsig gehaltene Pressemitteilung 1 oder 2 Tage vor einem solchen Pro­zeß lockt natürlich kaum jemanden hinter dem Ofen hervor.
  4. Prozeßbeobachtung und Beglei­tung/Auswertung in o.g. Sinne: Die kommenden 2. und evtl. letztinstanz­lichen Verfahren bieten bei entspre­chender juristischer und  publizisti­scher Beachtung - die natürlich orga­nisiert werden müßte - einiges an po­litischen und juristischen Möglich­keiten der Profilierung unserer Posi­tion.
  5. Erstellung einer Dokumenta­tion: (Arbeitstitel)- Unsere erste Kriegs­zeit: Antikriegsflugblätter zur rechten Zeit und die Folgen.

Letztere könnte sich in der Erscheinung zeitlich an der „Betroffenen-Konferenz“ im September bzw. Anfang Oktober orientieren.

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Initiativen
Martin Gräbener arbeitet in der Arbeitsgruppe "Keine Grundgesetzänderung" der Friedenskoperative mit.