Rassismus

Die Stützpfeiler der Polizeigewalt ansägen

von Sarah Freeman-Woolpert
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Black Lives Matter verlagert die Macht zu den einfachen Menschen, indem sie die Pfeiler ins Visier nehmen, die die Polizeigewalt stützen. Von Nationalgardisten, die ihre Schilder niederlegen, bis hin zu Busfahrer*innen, die sich weigern, Protestierende ins Gefängnis zu bringen, greifen Aktivist*innen auf ein mächtiges Prinzip des gewaltlosen Widerstands zurück. Der folgende Beitrag ist eine gekürzte Fassung eines Artikels, der in voller Länge im Internet zur Verfügung steht.

"Mein Vorgesetzter sagte: 'Du darfst nicht niederknien.‘ Also sagte ich: 'Hier ist mein Ausweis, und ich komme nicht zurück.'“In einem Video beschreibt Keval Williams, wie er seinen Job als Justizvollzugsbeamter im Oklahoma City Sheriff's Department kündigt, während er am 1. Juni in einer Protestkundgebung steht und ein Schild mit der Aufschrift "Black lives > whitefeelings" hochhält. Für Williams, einen Schwarzen, dessen Freundin im neunten Monat schwanger ist, war die Kündigung seines Jobs eine harte, aber notwendige Entscheidung inmitten eines landesweiten Aufstands gegen rassistische Polizeigewalt.

(…) Um die Macht von Black Lives Matter zu verstehen, müssen wir untersuchen, wie die Bewegung die Stützpfeiler untergräbt, die das rassistische System der Polizeiarbeit in den Vereinigten Staaten - und möglicherweise die Trump-Administration insgesamt - aufrechterhalten.

Pfeiler 1: Die Polizei
Die Polizei stellt eine der wichtigsten Zwangssäulen eines jeden Regimes dar. Sie ist die erste Verteidigungslinie, um ungerechte Gesetze gegen Zivilist*innen durchzusetzen, und wenn Polizeibeamt*innen anfangen, an ihrer Loyalität gegenüber der Macht zu zweifeln, gewinnt eine Bewegung auf den Straßen mehr Macht. Ungehorsam oder das Wechseln der Seite durch Polizist*innen werden wahrscheinlicher, wenn der Polizei befohlen wird, Gewalt gegen ihre eigenen Gemeinschaften anzuwenden. Denn es führt zu einer moralischen Krise, wenn sie wissen, dass sich ihre Freund*innen und Familienangehörigen in der Menge befinden könnten.

Die gegenwärtige Protestwelle hat eine Welle der öffentlichen Empörung gegen Polizeigewalt mobilisiert, was viele Polizist*innen dazu veranlasst hat, sich über die Misshandlungen zu äußern, die sie bei der Polizei erleben, und einige zwingt, aus Protest ihre Arbeit aufzugeben. Wie nach dem Rücktritt von Keval Williams, der sich den Demonstrant*innen in Oklahoma City anschloss, sympathisieren immer mehr Polizist*innen im ganzen Land mit den Demonstrant*innen. (…)

Natürlich haben die meisten Polizisten ihren Job nicht aufgegeben - aber die Säule beginnt, auch auf andere Weise, Risse zu zeigen. Zahlreiche Videos von jüngsten Protesten, wie z.B. vom 31. Mai in Flint, Michigan, zeigen Polizist*innen, die ihre Kampfausrüstung ablegen und an der Seite der Demonstrant*innen marschieren. Obwohl diese Aktionen als Publicity-Stunts kritisiert wurden - die Polizei kniet in symbolischer Unterstützung nieder, nur um Stunden später Tränengas einzusetzen -, könnte dies auch auf den internen Konflikt hinweisen, mit dem einige Polizist*innen zu kämpfen haben, insbesondere Schwarze Polizist*innen, die vor ihrem Eintritt in die Truppe Polizeibrutalität erlebt haben oder während ihrer Arbeit mit Diskriminierung konfrontiert waren. Für einige, wie z.B. einen ehemaligen Polizeibeamten, der einen Artikel mit dem Titel "Geständnisse eines ehemaligen Bastard-Cops" veröffentlichte, können die Proteste die Beamt*innen dazu zwingen, sich gegen das System auszusprechen und schließlich ihre Zustimmung zurückzuziehen.

Pfeiler 2: Das Militär
Wie die Polizei übt auch das Militär Zwangsgewalt aus, um ein repressives System aufrechtzuerhalten, aber sein Einfluss kann ebenfalls durch Überlaufen und Nicht-Kooperation untergraben werden. Nachdem die Nationalgarde in Washington D.C. zur Unterdrückung friedlicher Proteste eingesetzt worden war, begannen Mitglieder des Militärs, ihre Befehle in Frage zu stellen - oder sich gänzlich zu verweigern. Organisationen, die sich für die Rechte der GIs einsetzen, haben einen Anstieg der Zahl der Armeeangehörigen beobachtet, die Informationen über ihr gesetzliches Recht anfordern, an Protesten teilzunehmen, sich Befehlen zu widersetzen oder Kriegsdienstverweiger*innen aus Gewissensgründen zu werden.

In der Zwischenzeit gehen Veteran*innen auf die Straße, um sich den Demonstrationen in voller Uniform anzuschließen, und eine Gruppe Soldat*innen der Nationalgarde in Tennessee legte auf Bitten der Demonstrierenden ihre Schilde nieder. (…)

Andere hochrangige Militärs und Pentagon-Beamte, wie der ehemalige Verteidigungsminister James Mattis, haben öffentlich den Einsatz von Militäreinheiten zur Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte amerikanischer Demonstrant*innen kritisiert - was zeigt, dass innerhalb der Trump-Administration selbst eine erhebliche Spaltung bestehen könnte. Wenn dies geschieht, schürt es die Unterstützung der Bevölkerung für eine Bewegung und untergräbt die Legitimität eines herrschenden Regimes.

Pfeiler 3: Das Bildungssystem
Das Bildungssystem spielt eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung einer herrschenden Machtstruktur, denn Lehrer*innen bilden die jüngere Generation aus, und sie sind in der Regel gut respektierte Mitglieder einer Gemeinschaft. Öffentliche Schulbehörden im ganzen Land haben damit begonnen, ihre Beziehungen zu den Polizeibehörden von Minneapolis über Portland bis Denver abzubrechen und Verträge mit ihnen zu beenden. Viele Colleges und Universitäten im ganzen Land sind diesem Beispiel gefolgt und weigern sich, weiterhin Verträge mit der örtlichen Polizei für die Sicherheit auf dem Campus und bei Sportveranstaltungen abzuschließen. (…)

Pfeiler 4: Beschäftigte im öffentlichen Dienst
Unzählige Menschen bilden die Regierungsbürokratie, und ihre Handlungen bestimmen, ob die grundlegenden öffentlichen Dienste weiterhin funktionieren. Wenn sie ihre Teilnahme und Zustimmung zurückziehen, wird es für einen Regierenden nahezu unmöglich, Kontrolle zu erzwingen. Eines der bekanntesten Beispiele für Widerstand unter Beamt*innen bei den aktuellen Protesten ist die Weigerung von Busfahrer*innen in Städten wie New York und Boston, Polizist*innen zu Protesten oder die Demonstrant*innen, die sie verhafteten, zu fahren. Die Amalgamated Transit Union veröffentlichte eine Erklärung, in der sie erklärte, dass Busfahrer*innen das Recht haben, ihre Dienste zur Unterstützung der Polizei bei Protesten zu verweigern, und dies als „Missbrauch des öffentlichen Verkehrs“ ansah. (…)

Pfeiler 5: Religiöse Institutionen
Ähnlich wie Lehrer*innen spielen religiöse Führungspersonen eine Schlüsselrolle bei der Sicherung der Legitimität der Machthaber. Sie stellen eine moralische Instanz dar und genießen in der Regel mehr Respekt in der Öffentlichkeit. Wenn die Polizei bei einer Demonstration Gewalt gegen religiöse Führer anwendet, neigt sie dazu, nach hinten loszugehen und die öffentliche Empörung zu schüren.

Genau dies geschah am 1. Juni, als Truppen der US-Parkpolizei und der Nationalgarde Tränengas und Gummigeschosse einsetzten, um friedliche Demonstrant*innen vom Lafayette Square in Washington, D.C., zu vertreiben, damit Trump für ein Foto mit der Bibel vor der St. John's Episcopal Church posieren konnte. Unbeabsichtigt setzten sie einige der Priester in der Kirche dem Tränengas aus, was zu einem massiven Aufschrei von Glaubensführer*innen in aller Welt führte. Der Papst forderte die US-Konferenz der katholischen Bischöfe auf, die Protestierenden zu ermutigen, was sie auch taten, und Sprecher*innen vieler anderer Glaubensgemeinschaften, darunter die Southern Baptist Convention, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sowie das orthodoxe und reformierte Judentum, haben ihre Unterstützung für die Bewegung zum Ausdruck gebracht. …

Pfeiler 6: Wirtschaftsinstitutionen und Gewerkschaften
Auch Unternehmen und Gewerkschaften spielen eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung von Machtstrukturen, und viele Akteure im Wirtschaftssektor haben begonnen, sich mit Protestierenden zusammenzuschließen - oder sehen sich mit öffentlichen Gegenreaktionen und Boykotten konfrontiert. Einige Beschäftigte haben direkte Maßnahmen ergriffen, wie z.B. der örtliche Taco-Shop in Ohio, in dem die Beschäftigten die Arbeit niederlegten, anstatt eine große Bestellung für die Polizeistation abzuwickeln, und ein Café, in dem die Beschäftigten aus Protest gegen einen Rabatt für Polizeibeamt*innen streikten. Ein Donut-Laden in Rhode Island hat seinen Polizei-Rabatt ganz gestrichen.Diese Einzelfälle können sich zu einem größeren Trend auswachsen, wenn Aktivist*innen weiter die Dynamik ankurbeln. Demonstrant*innen haben zu einem Boykott von Amazon aufgerufen, das mit über 600 Polizeidienststellen Verträge über den Verkauf von Überwachungsausrüstung abgeschlossen hat, was das Unternehmen dazu veranlasste, ein einjähriges Moratorium für den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie durch die Polizei zu verkünden. Aktivist*innen haben auch eine Kampagne #GrabYourWallet

gestartet, um eine Reihe von Firmen zu boykottieren, die für die Trump 2020-Kampagne spenden, darunter CVS, Planet Fitness und Charles Schwab. (…)

Fazit
Jede dieser Säulen kann für sich genommen den normalen Ablauf in der Gesellschaft stören und spürbare Veränderungen in bestimmten Bereichen bewirken. Zusammengenommen jedoch droht der Entzug der Zustimmung zu diesen entscheidenden Pfeilern gleichzeitig die weit verbreitete öffentliche Akzeptanz und Zusammenarbeit zu zerschlagen, die die Strukturen der rassistischen Polizeiarbeit in den Vereinigten Staaten seit langem aufrechterhalten haben. (…)

 

Der Artikel wurde am 16. Juni bei Waging Nonviolence veröffentlicht: https://wagingnonviolence.org/2020/06/pillars-of-support-police-violence-black-lives-matter/ Übersetzung: Christine Schweitzer.

Die vollständige Übersetzung des Beitrags findet sich hier: https://www.soziale-verteidigung.de/shop/stutzpfeiler-polizeiarbeit-ansagen

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Krisen und Kriege
Sarah Freeman-Woolpert ist Schriftstellerin, Forscherin und Organisatorin; sie lebt in Boston.