Illiberale Demokratien

Eine Ära jenseits der Scham

von Ruth Wodak
Schwerpunkt
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In einer Rede am 17. Juli 2018 in Johannesburg warnte der frühere US-Präsident Barack Obama, dass „eine Politik der Angst und Ablehnung und Einmauerung … jetzt auf dem Vormarsch [ist]. … Ich bin nicht alarmistisch, ich stelle nur Fakten fest. … Politik der starken Hand wächst, während Wahlen und scheinbare Demokratie bewahrt bleiben – ihre äußere Form –, aber jene an der Macht versuchen, jede Institution oder Norm zu unterminieren, die Demokratie eine Bedeutung geben.“ (1)

Obama benutzte, wie man sieht, nicht die Begriffe „illiberale Demokratie“, „Neo-Autoritarismus“ oder „Populismus“. Aber er legte seinen Finger auf die drastischen sozio-politischen Veränderungen, die auf globaler Ebene stattfinden, auch in den Mitgliedsstaaten der EU, besonders seit der so genannten „Flüchtlingskrise“ 2015. In der Tat zeigt eine 2016 in acht EU-Staaten durchgeführte Studie (2), dass über 50% der WählerInnen rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien die Globalisierung als die größte Bedrohung der Zukunft ansehen. 53 Prozent von jenen, die Globalisierung fürchten, betrachten Migration als die größte globale Herausforderung und 54 Prozent zeigten Ausländerfeindlichkeit.

Obwohl viele PolitikerInnen in der EU und auf nationaler Ebene, ebenso wie andere prominente Intellektuelle, ausdrücklich vor dem europäischen und globalen Trend hin zu mehr (Ethno-)Nationalismus, illiberalen Demokratien und Autoritarismus – und damit vor Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen internationaler Verträge und EU-Normen und Werten – warnen, sind die offiziellen Reaktionen von Seiten der EU langsam und folgen komplexen, institutionell definierten Prozeduren (Artikel 7 des EuropäischenVertrags).
Aus Platzgründen kann ich nicht auf die institutionellen Kämpfe auf Ebene der EU und die verschiedenen Versuche, mit Ungarn und Polen zu verhandeln, eingehen. Doch die Regierungen dieser beiden Länder scheinen überzeugt, dass die EU-Konventionen nicht für sie gelten. In anderen Worten, kontextabhängige diskursive Strategien, um Schuldzuweisungen zu vermeiden, Leugnen, manichäische Teilung der Welt in Gut und Böse, Umkehrung von Täter und Opfer und eristische Argumentationen dominieren die offizielle Kommunikation. Sie wird begleitet von immer extremerem Nationalismus, Chauvinismus und Nativismus.

Eine Ära jenseits der Scham
Dieser Sichtweise folgend behaupte ich, dass solche Ablehnung von Dialog eine Ära jenseits der Scham anzeigt und nicht nur, wie viele WissenschaftlerInnen meinen, lediglich einer „Ära jenseits der Wahrheit“. Anti-Elite und anti-pluralistische, ausschließende Rhetorik, symbolische Politik (z.B. Konzentration auf die ‚Kopftücher“ der muslimischen Frauen, während man komplexe sozioökonomische Themen, die mit Migration und Integration verbunden sind, vernachlässigt), „digitale Demagogie“, „schlechtes Benehmen“ und „Anti-Politik“ unterstützen dieses sich dem Dialog verweigernde Verhalten mächtiger PolitikerInnen. Deren Verhalten gilt oft als „authentisch“ bei ihren AnhängerInnen, Parteien oder Regierungen. Statt Lösungen für die großen sozio-politischen Probleme wie die global anwachsende Ungleichheit und Jugendarbeitslosigkeit zu diskutieren und zu finden, dienen Geflüchtete und MigrantInnen als Sündenbock und einfache Erklärung für alles, was falsch läuft. Der Staat selbst, das gesamte politische System wird kritisiert, wie in einer Reality-Fernsehshow: Schamlosigkeit, Demütigung anderer TeilnehmerInnen, Diffamierung, Lügen und persönliche Angriffe dominieren. Dies konnte zum Beispiel in Fernsehdebatten während der Wahlen in Österreich 2016 beobachtet werden, wo sie von dem rechtsextremen Kandidaten der „Freiheitlichen Partei Österreichs“ (FPÖ), Norbert Hofer, angewendet wurden.

Der Weg Österreichs: Vorbild für andere Länder?
Die in Österreich zu beobachtende Verwandlung der Österreichischen Volkspartei ÖVP in die „Neue Volkspartei“ unter Kanzler Sebastian Kurz, der eine Koalition mit der populistischen, rechtsextremen FPÖ eingegangen ist, droht Österreich in eine illiberale Demokratie nach dem Vorbild von Orbán zu verwandeln. Dies muss als ein Prozess der „Normalisierung“ angesehen werden – die Normalisierung von rechtsextremen Ideologien in Inhalt und Form. Solch ein schleichender Prozess kann auch in den Niederlanden beobachtet werden, wo Geert Wilders Freiheitspartei (PVV) viel Einfluss auf den Mainstream ausgeübt hat.

Die FPÖ muss von anderen populistischen rechtsextremen Parteien im Hinblick auf ihre Geschichte und ihre ununterbrochenen Verbindungen zum Nationalsozialismus sowie durch ihre nativistische, ausländerfeindliche, anti-pluralistische und rassistische Ideologie unterschieden werden. Nachdem Heinz-Christian Strache 2005 ihre Führung übernahm, bot sie nach außen ein scheinbar gemäßigtes Bild, was extremistische Positionen anging, während gleichzeitig nationale Symbole (Flagge, Hymne usw.) massiv bespielt wurden. Sie begann, sich als „Soziale Heimatpartei“ zu bezeichnen – wie es übrigens die NPD in Deutschland auch tut. Weitere Provokationen waren die Nutzung religiöser Symbole (Strache mit christlichem Kreuz auf einer Demo gegen den Bau einer Moschee in Wien) und die Umdefinierung von religiösen Konzepten wie „Nächstenliebe“ in nationalistische Begriffe. Dazu passte die Behauptung, man „verteidige“ das christliche Erbe in Österreich gegen eine angebliche „islamistische Invasion“ – wogegen sich u.a. die Katholische Kirche verwehrte.

Die Parlamentswahlen am 15.10.2017 zeigten die schamlose Normalisierung der zuvor rechtsextremen Positionen der FPÖ. Die ÖVP, traditionell immer die stärkste oder zweitstärkste Partei in Österreich, veränderte Agenda und Struktur und beschäftigte sich fast ausschließlich mit Migrationsthemen (indem sie alle Geflüchtete als „illegale MigrantInnen“ bezeichnete). Kurz übernahm hier fast wörtlich das Programm der FPÖ. Angstmache war die überzeugende Strategie in den Wahlkampagnen beider Parteien. Sie wählten bewusst spezifische Sündenböcke, die für das Elend oder die Bedrohung verantwortlich seien: „Illegale MigrantInnen“, Muslime und Islam, der jüdische Philanthrop George Soros, Nichtregierungsorganisationen, die EU und die Medien sowie die frühere Regierungskoalition – obwohl Kurz in ihr sechs Jahre als Außenminister gedient hatte – und die Integration von MigrantInnen. Kurz und Strache stellten sich als die Retter des „wahren österreichischen Volks“ dar, die die angeblichen Probleme lösen würden, zum Beispiel indem sie die Grenzen schließen und „illegale MigrantInnen“ deportieren würden. Gleichzeitig wurde ein positives Narrativ geschaffen, das Hoffnung wecken sollte, das als ein nicht näher definierter Wandel und „Veränderung“ angekündigt wurde.

Entwicklung eines „Orbánismus“
Die neue österreichische Regierung betreibt eine extrem restriktive Immigrationspolitik und Politik der geschlossenen Grenzen (selbst gegenüber Südtirol und Italien). Sie verbreitet schamlos Gerüchte und falsche Informationen, die zusammen genommen in einem Bedrohungsszenario einer angeblichen „Invasion“ münden. Um die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention zu umgehen und den Verlust von noch mehr WählerInnen an die FPÖ zu verhindern, bezeichnen PolitikerInnen der ÖVP jetzt Menschen, die verfolgt wurden und fliehen mussten, in ihrem Regierungsprogramm als „illegale MigrantInnen“. Dies impliziert, dass sie in Wahrheit in die reichen europäischen Länder kämen, um von deren Wohlfahrtssystem zu profitieren und dadurch den Reichtum dieser Länder bedrohten. Solche Falschheiten schaffen Ablehnung und Neid: „Warum sollten AusländerInnen Zugang zu Leistungen bekommen, die sie ‚uns‘ wegnehmen?“ Solch ausländerfeindliche Politik entspricht dem Wohlfahrts-Chauvinismus anderer rechter populistischer Parteien in Europa, wie der AfD in Deutschland, den Schwedendemokraten oder der niederländischen PPV.

Antisemitismus, Rassismus und historischer Revisionismus
Wie Hans-Hennig Scharsach (2017) in seinem Buch „Stille Machtergreifung“ argumentiert, haben sich die inneren Strukturen der FPÖ deutlich verändert, seit Strache 2005 ihre Führung übernahm. Mitglieder von schlagenden Burschenschaften, die nur 0,4% der österreichischen Bevölkerung ausmachen, haben die FPÖ de facto übernommen. Dazu gehören Politiker wie Strache, Norbert Hofer (Infrastruktur-Minister), Johann Gudenus (Clubchef der FPÖ im Parlament) und Manfred Haimbuchner (Vizechef von Öberösterreich). Kernmerkmale der extremen Rechten wie Anti-Liberalismus, autoritäre Führung und Gehorsam, eine so genannte „Volksgemeinschaft“, traditionelle Geschlechterpolitik und Ausgrenzungsrhetorik prägen die meisten schlagenden Burschenschaften. Direkt nachdem die neue Regierung im Dezember 2017 gebildet war, störten zahllose Skandale, die sich auf antisemitische und revisionistische Dokumente bezogen, den Alltag der Regierung. Es ging u.a. um Facebook-Posts, um Liederbücher mit Naziliedern und explizit antisemitischen Stereotypen, wie sie für solche Burschenschaften typisch sind. Dazu sprach FPÖ-Innenminister Herbert Kickl davon, Asylsuchende an einem Ort zu „konzentrieren“ – die Assoziation mit den Konzentrationslagern der Nazis liegt nahe. Die Mitte-Links-Zeitung „Der Standard“ ergänzt regelmäßig eine Liste von euphemistisch „Einzelfälle“ genannten Vorfällen von antisemitischem Revisionismus, die fast wöchentlich auftreten, und hält die FPÖ so in den Schlagzeilen.

Verschwörungstheorien sind eine wirksame Strategie geworden. Sie bedienen sich des traditionellen antisemitischen Stereotyps einer „Weltverschwörung“, wie es auch Nazi- und faschistische Ideologien kennzeichnet. So veröffentlichte zum Beispiel Victor Orbán eine Liste von 200 sog. „Söldnern von Soros“ (WissenschaftlerInnen, Intellektuelle und NROs, die versuchten, Geflüchteten in Ungarn zu helfen). Der jüdisch-ungarisch-amerikanische Philanthrop Soros wurde durch solch traditionelle antisemitische Stereotypen als das Haupt-Feindbild Ungarns und später auch anderer rechtsradikaler Parteien dämonisiert.

Bedrohung der Pressefreiheit
Teil des Programms der österreichischen Regierung ist auch, die Medien zu „reformieren“ – was ein Euphemismus für fortgesetzte und bösartige Angriffe auf etablierte JournalistInnen und ModeratorInnen ist. Dabei achtet man auf Ambivalenz, um Kritik aus dem Wege zu gehen. In einem Fall wurde ein bekannter Nachrichtenmoderator des ORF, Armin Wolf, vom FPÖ-Vorsitzenden Strache in den sozialen Medien mit Foto und dem folgenden Text abgebildet: „Es gibt einen Ort, an dem Lügen zu Nachrichten werden. Das ist der ORF. Das Beste aus Fake News, Lügen und Propaganda, Pseudokultur und Zwangsgebühren. Regional und international. Im Fernsehen, Radio und auf dem Facebook-Profil von Armin Wolf.“ Sowohl Wolf wie der ORF haben Strache verklagt und gewonnen. Strache musste sich öffentlich entschuldigen und 10.000 Euro an Wolf bezahlen, die dieser dem „Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes“ (DÖW) spendete, einer NGO, die Aktivitäten von Neo-Nazis dokumentiert.

Fazit
Die meisten Verletzungen der verfassungsmäßigen Ordnung – Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz – werden in illiberalen Demokratien wie Polen und Ungarn nicht ausdrücklich angekündigt. Sie passieren in kleinen – scheinbar unwichtigen – Schritten wie die Intervention in das höchste Gericht in Polen, wo Richter durch die Einführung eines Rentenalters entfernt wurden. Solche Dynamiken habe ich als „schamlose Normalisierung“ bezeichnet (3). Sie kann nicht nur in zentral- und osteuropäischen Ländern beobachtet werden, sondern auch – in Ansätzen - in Österreich, Großbritannien, Italien und den Niederlanden. Die Nichterfüllung von europäischen Werten und das Sehnen nach der Etablierung von Ausnahmen stellen das europäische Projekt vor schwere Herausforderungen. Die Ablehnung jedes Dialogs, von vereinbarten Normen und Konventionen scheinen Verhandlungen unmöglich zu machen und den Weg für Illiberalismus und Neo-Autoritarismus frei zu machen. Wir brauchen dringend neue Narrative, neue öffentliche Orte, neue Kommunikationsweisen und vor allem neue Politik, um die Errungenschaften der Aufklärung und pluralistischer liberaler Demokratien zu schützen.

Anmerkungen
1 www.cbsnews.com/news/president-obama-full-speech-south-africa/
2 de Vries, C.E. and Hoffman, I. (2016) ‘Fear not values. Public opinion and populist vote in Europe’, post, http://eupinions.eu/de/text/fear-not-values/
3 Wodak, R. (2018) ‘Vom Rand in die Mitte – ‘Schamlose Normalisierung’’, Politische Vierteljahres Zeitschrift, 75: DOI: 10.1007/s11615-018-0079-7

Der Artikel ist ein übersetzter und bearbeiteter Auszug aus: R. Wodak (2019) Entering the ‘post-shame era’: the rise of illiberal democracy, populism and neo-authoritarianism in EUrope, der in der Global Discourse Vol 9, Nr. 1 (2019), S. 195–213 erschienen ist. Die Belege wurden hier auf direkte Zitate begrenzt; alle ausführlichen Belege finden sich im hier angegebenen Originalbeitrag. Übersetzung :Christine Schweitzer. Der Artikel wurde von der Autorin so gebilligt.

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Ruth Wodak ist Em. Distinguished Professor of Discourse Studies (Diskursforschung), Lancaster University (UK) und o. Univ. Professorin i.R. für Angewandte Linguistik, Universität Wien. Abgesehen von einer Vielzahl von Preisen, erhielt sie 1996 den Wittgenstein Preis für Elite WissenschaftlerInnen. 2010 wurde ihr ein Ehrendoktorat der University Örebro, Schweden verliehen. 2009-2011 war sie Präsidentin der Societas Linguistica Europaea, 2011 wurde ihr das Große Silberne Ehrenkreuz für Verdienste um die Republik Österreich verliehen. Sie ist Mitglied der Academia Europaea und der British Academy of Social Sciences. Rezente Buchpublikationen: Kinder der Rückkehr. Geschichte einer marginaliserten Jugend (mit E. Berger), Springer 2018; Handbook of Language and Politics (mit B. Forchtner), Routledge 2018; Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Konturen 2016 (2017 als Wissenschaftsbuch des Jahres in der Sparte Sozialwissenschaften ausgezeichnet). Homepage: http://www.lancaster.ac.uk/linguistics/about-us/people/ruth-wodak