Von der Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit - Ein Kommentar

Entwicklungsetats im Dienst von Militär und Polizei?

von Cornelia Füllkrug-Weitzel

Den Anstoß gaben die Entwicklungen in Afghanistan und Irak: Derzeit findet in Deutschland eine heftige Debatte über den Zusammenhang von Entwicklungs- und Sicherheitspolitik statt. Nach den Ereignissen des 11. September 2001 hat die Bundesregierung im Einklang mit der Europäischen Union (EU) ausdrücklich betont, dass Sicherheits- und Entwicklungspolitik miteinander abgestimmt sein müssen.

(...) Der 11. September 2001 bot der US-amerikanischen Regierung und ihren NATO-Verbündeten Anlass, das alte Thema vom Zusammenhang zwischen Entwicklung und Sicherheit unter neuen Gesichtspunkten wieder aufzutischen. Die Diskussion darüber war freilich schon vorher in Gang gekommen, ausgehend von einer weltweit veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ausgangslage: In Zeiten der Globalisierung sind auch Krieg und Sicherheit zur profitablen, international gehandelten Ware geworden. Nationalstaaten und internationale Militärallianzen verlieren zusehends ihr Gewaltmonopol. Die Globalisierung bringt eine schleichende Schwächung, ja Ohnmacht staatlichen Handelns gegenüber privater Durchsetzungsfähigkeit.

Das gilt auch hinsichtlich Gewaltanwendung von nicht staatlicher Seite und Durchsetzungsvermögen gegenüber privaten Sicherheitsdiensten und Armeen. Der Zerfall des staatlichen Gewaltmonopols wird besonders sichtbar in den chronischen Konfliktregionen Afrikas - beispielsweise in Liberia oder der Region der Großen Seen. Führt der Zerfall zentraler staatlicher Macht dazu, dass die Länder unregierbar oder regierungslos sind, macht dies manche Ansätze und Instrumente der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit stumpf. Das gilt genauso für die Entwicklungszusammenarbeit. Auch sie ist selbstredend auf das Funktionieren von Regierungen angewiesen und hatte sich im vergangenen Jahrzehnt gute Regierungsführung (good governance) als Voraussetzung für Entwicklung ausdrücklich auf die Fahne geschrieben.

In Ländern, die unregierbar geworden sind, in denen also die politische und ökonomische Krise ein Dauerzustand und Gewalt aller Art nicht mehr politisch kontrollierbar und zu steuern ist, sind genau deshalb seit mehreren Jahren die Grenzen fließend zwischen staatlicher Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe, die aus dem Ausland eingreift. Nicht erst seit dem 11. September 2001 ertönen Rufe nach `humanitären` Interventionen in Ländern wie Somalia, Ruanda, Sierra Leone, Afghanistan, Liberia und jüngst Sudan. Westliche Militärinterventionstruppen sollen blutige Bürgerkriege, Verfolgungen und Chaos in zerfallenden Staaten beenden, staatliche Stabilität wiederherstellen, Schuldige zur Rechenschaft ziehen und Menschenrechte und Frieden durchsetzen.

Dieses Konzept hat inzwischen im Westen viele Anhänger in Politik, Militär, Wissenschaft - etwa im Umfeld der gewichtigen International Crisis Group - und den Medien gefunden. Dahinter steht die Vision einer "Weltpolizei", wie es Andreas Petzold, Chefredakteur des "Stern", im Jahr 2003 in einem Leitartikel zu Liberia ausdrückte. Sprich, einer schnellen Eingreiftruppe - ob unter Führung der USA oder der UN ist strittig. Dahinter auch, so Petzold, die Idee neuer "Regeln für humanitäre Interventionen" im Völkerrecht, um "künftig schnell und ohne umständliche Diskussionen" Gewaltexzesse stoppen und die Situation dauerhaft befrieden zu können. Dazu sollen zentrale staatliche Funktionen von der Interventionstruppe übernommen werden, bis eine eigene Staatlichkeit wieder aufgebaut ist. Als jüngstes Beispiel gilt hier der Irak. Inwieweit Staatlichkeit durch Staatsexport und Sicherheitstransfer erreicht werden kann, ausgerechnet in Ländern, in denen der Nationalstaat ohnehin nie ein lebensnahes Konzept war, und das in Zeiten, in denen Staaten weltweit generell an Steuerungs- und Gestaltungsmöglichkeiten verlieren, das sei hier kritisch angefragt.

Die bisherigen Ergebnisse politischer Eingriffe des Westens in Konfliktgebieten - Kosovo, Bosnien, Afghanistan und Irak - geben jedenfalls wenig Anlass zur Hoffnung, dass solche Interventionen zu dauerhafter politischer und wirtschaftlicher Stabilität führen werden. Nach internationaler Militärintervention, Aufbruchstimmung und Aufbaufinanzierung gehören gerade Kosovo und Bosnien wieder zu den vergessenen Armenhäusern Europas, wo es dicht unter der Oberfläche gärt. Beide sind - ebenso wie Afghanistan - künstliche Gebilde geblieben, die letztlich von einer internationalen Verwaltung mit Hilfe von NATO-Militär regiert und mit möglichst geringem Aufwand auf dem gegenwärtigen Niveau des Lebensstandards stabilisiert werden sollen - und selbst dies gelingt kaum, wie die erneuten Ausschreitungen im Kosovo beweisen. Ein Ende dieser UN-Protektorate und externer militärischer Sicherung ist nicht abzusehen. Der Aufbau eines zentralen Nationalstaates in einem Land wie Afghanistan könnte ebenso eine Illusion bleiben. Geht es doch um ein Land, dem jegliche nationale wirtschaftliche Basis fehlt, das lediglich regionale Verflechtungen mit den Nachbarländern hat, in dem eine traditionelle dezentrale Machtstruktur besteht und die Wirtschaft kaum mehr als eine Überlebenswirtschaft ist.

Der amerikanische Journalist David Rieff schrieb in der Süddeutschen Zeitung in einem Kommentar zu Liberia: "Aus humanitären Gründen in den Krieg zu ziehen.... bedeutet in diesem Fall Eroberung, oder um es krasser auszudrücken: Kolonisierung." ZEIT-Autor Richard Herzinger spricht noch deutlicher von einer "neokolonialistischen Epoche in der Welt", in welcher der Westen das Zepter hält, um Leben und Privateigentum gegen das Chaos, Bürgerkrieg und zerfallende Staaten zu sichern. Sicherheitspolitik hat in diesem Umfeld zumindest sehr viel mit der Verteidigung wirtschaftlicher Eigeninteressen, politischer Überlegenheit und "militärischer Vorwärtsverteidigung", sprich vorsorglichem Angriff, des Nordens zu tun - auch wenn das Wort `humanitäre` Intervention etwas ganz anderes suggerieren und so für wohlwollende Annahme sorgen soll.

Sicherheit ist zweifelsohne unerlässlich für Entwicklung. Dies gilt vor allem für die alltägliche wirtschaftliche und soziale Sicherheit der Armen weltweit. Die drei kirchlichen Hilfswerke Brot für die Welt, Evangelischer Entwicklungsdienst (EED) und Misereor haben auf dieses andere Sicherheitserfordernis aufmerksam gemacht. In einem gemeinsamen Positionspapier betonen sie: "Sicherheit ist unteilbar: Weder Nord noch Süd noch einzelne Staaten können sie für sich allein gewinnen und bewahren, ohne sie der Mehrheit der Bevölkerung und der Völker zuzugestehen. Sie ist umfassend und beinhaltet zwingend auch wirtschaftliche und soziale Sicherheit als ein wichtiges Gut für alle Menschen. Sie zu verwirklichen erfordert einen globalen Interessenausgleich, der vom Norden erhebliche Zugeständnisse und Veränderungen verlangen wird." Der Mangel an weltweiter Gerechtigkeit tut dem Leben von Milliarden Menschen täglich Gewalt an.

Die Geschehnisse des 11. September 2001 haben der neuen Debatte über Entwicklung und Sicherheit eine weitere Facette hinzugefügt: das Phänomen der Netze organisierter Gewalt, die über Staatsgrenzen hinwegreichen. Selbst von voll funktionsfähigen und hoch gerüsteten Staaten sind sie nicht zu kontrollieren, zu bändigen oder gar zu besiegen. Gerade im unkontrollierbaren rechtsfreien Raum zerrütteter Staaten finden sie eine ideale Operationsbasis. Der Anschlag auf das World Trade Center hat beängstigend bewusst gemacht, dass auch auf internationaler Ebene kein Gewaltmonopol der höchst gerüsteten Staaten und ihrer Bündnisse mehr besteht, dass mithin vor allem die bisherige militärische Sicherheitspolitik der NATO-Staaten in der Krise ist.

Stattdessen aber spricht man lieber von der Krise der Entwicklungszusammenarbeit.

Der Verlust des staatlichen Gewaltmonopols und das Herausbilden privater übergreifender Netzwerke von Gewalt stehen mit der Globalisierung in Zusammenhang. Sicherlich werden sie durch eine Unzahl von Faktoren begünstigt, und man kann sie gewiss nicht auf eine einzige Ursache zurückführen. Unstrittig aber verstärken zwei Faktoren diese Beziehung: Zum einen der recht einfache Zugang zu Waffen aller Art, begünstigt durch den internationalen Waffenhandel. Dass in Industrienationen sehr gut an diesem Handel verdient und er höchstens halbherzig kontrolliert und begrenzt wird, sei nur am Rande erwähnt.

(...) Nach dem 11. September 2001 hatten der damalige Bundespräsident und die deutsche Entwicklungsministerin - und mit ihnen viele nichtstaatliche Organisationen (NGOs) - noch gehofft, dass den Zielen der Entwicklungszusammenarbeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt und auch mehr Geld zur Verfügung gestellt würde. Schließlich sei der "beste Schutz gegen Terror, Gewalt und Krieg eine gerechte internationale Ordnung", so Johannes Rau. Leider ging diese Rechnung nicht auf. Es lief genau andersherum: Im Jahr 2003 bezeichnete der außenpolitische Sprecher der Europäischen Union und frühere NATO-Generalsekretär, Javier Solana, es als politisches Ziel, die Entwicklungspolitik in die Sicherheitspolitik zu integrieren.

Der Ratspräsident der EU griff die Formulierung auf, und auch das deutsche Außenministerium stimmte dem zu. Im Verfassungsvertrag der Union sind Regelungen vorgesehen, die einem künftigen europäischen Außenminister ermöglichen sollen, auch Mittel der Entwicklungszusammenarbeit für die Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik einzusetzen. Der Europäische Rat hat im November 2003 bereits 250 Millionen Euro aus dem Europäischen Entwicklungsfonds für die Finanzierung einer schnellen Eingreiftruppe der Afrikanischen Union zur Verfügung gestellt.

Die Nato-Mitgliedsstaaten haben sich verpflichtet, den Terrorismus mit allen Mitteln und auf allen Ebenen als Bedrohung Nummer eins zu bekämpfen und dafür mehr Geld bereit zu stellen. Dies hat die Haushalte für Entwicklungshilfe für andere interessant gemacht. Derzeit werden entscheidende Weichen dafür gestellt, dass sicherheitspolitische Ausgaben künftig anrechenbar sind auf die Quote für staatliche Entwicklungshilfe. Seit April 2003 macht sich das Development Assistance Committee (DAC), der Entwicklungshilfeausschuss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Gedanken darüber. Für April 2005 wurden weitreichende Beschlüsse angekündigt. Diese sollen es ermöglichen, aus staatlichen Entwicklungshilfe-Etats Aktivitäten sowie Investitionen in die Infrastruktur zur Terrorismusbekämpfung zu bezahlen. Auch Maßnahmen, die das staatliche Gewaltmonopol stärken - etwa Ausrüstung von Polizeikräften und Armeen - und der Einsatz ausländischer Eingreiftruppen in schon zerfallenen Staaten sollen aus dem Haushalt für Entwicklungshilfe bezahlt werden können.

Diese Beschlüsse und Praktiken in der EU - allesamt übrigens weder vom Europa-Parlament noch von nationalen europäischen Parlamenten diskutiert oder legitimiert - werden mit einem so genannten Kohärenzgebot der Entwicklungs-, Außen- und Sicherheitspolitik begründet. Diese Art des Gebots zur Zusammenarbeit und zum abgestimmten Vorgehen verkehrt allerdings die Gewichtung, die von den Kirchen angestrebt wurde, ins Gegenteil. Damit wächst die Gefahr, dass Entwicklungspolitik in den Dienst militärischer, polizeilicher oder geheimdienstlicher Logik oder deren Aktionen gestellt wird.

Der Antiterrorkampf ist kein Kampf gegen Armut. Er löst mitnichten die gravierenden Sicherheitsprobleme der weltweit an den Rand gedrängten, Armen, Unterdrückten und Verfolgten. Bestenfalls verschärft er sie nicht. Die für das Militär zweckentfremdeten Mittel werden den Armen im Süden für die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse fehlen. Dafür wären nach Studien des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) jährlich 70 bis 80 Milliarden US-Dollar nötig. Im Jahr 2002 wurden dafür nur rund 50 Milliarden US-Dollar eingesetzt. Rund ein Zehntel der weltweiten Militärausgaben - im Jahr 2002 betrugen diese rund 700 Milliarden US-Dollar - würden also genügen, um die Grundversorgung aller Menschen der Erde zu sichern. (...)

Der Text wurde von der Redaktion gekürzt.

aus: der überblick 03/2004, Seite 28

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Hintergrund
Cornelia Füllkrug-Weitzel ist seit dem 1. Januar 2000 Direktorin der Hauptabteilung Ökumenische Diakonie im Diakonischen Werk der EKD und damit auch für "Brot für die Welt" zuständig.