Grenzen aus psychologischer Sicht

Grenzen in Köpfen. Über produktives und destruktives Denken

von Georg Adelmann

Alles was begrenzt, ist eine Grenze. Die menschliche Vorstellungskraft ist begrenzt und damit auch unser Handlungsvermögen selbst innerhalb des theoretischen Raumes möglicher Handlungen – aber was sind mögliche Handlungen und kennen wir diese? Wenn ich in drei Jahren Improvisationstheater parallel zu meinem Psychologie-Studium etwas gelernt habe, dann, dass gesundes Leben ohne Grenzen nicht vorstellbar wäre, aber mit zu starren Grenzen eben auch nicht möglich ist – und das Leben immer wieder mit neuen Möglichkeiten überrascht.

Grenzen geben Hinweise auf erwünschtes Verhalten und grenzen es von nicht erwünschtem Verhalten ab. Manche Grenzen existieren als geschriebene Gesetze, andere als religiöse oder kulturelle Überzeugungen, wieder andere sind physisch wie z.B. Mauern, Sonnenbrillen - oder Kopfhörer. Sie sind produktiv, solange sie flexibel an sich verändernde Realitäten anpassbar sind. Effektive Grenzen nutzen Mechanismen antizipierter Konsequenzen bzw. Reaktionen für die AkteurInnen oder Menschen, die ihnen wichtig sind:

  1. Erwartbarkeit physischer Schmerzen
  2. Erwartbarkeit negativer psychologischer oder sozialer Konsequenzen

Unser Gehirn unterscheidet nicht in der Schmerzwahrnehmung zwischen psychischen (z.B. Kontaktverlust oder Abwertung) und physischen Schmerzen (Körperverletzung). Man sieht schnell, warum der Verdacht aufkommt, Grenzen ziehen sei gewalttätig oder könne andere verletzen. Im Privaten wie Politischen ist jedoch das Gegenteil oft eher der Fall – durch klare Grenzen kann gewaltfreies Miteinander überhaupt erst ermöglicht werden.

Auf den anderen Blick können die Nachteile starr und gewalttätig verteidigter Grenzen gerade zwischen Spanien und Katalonien sowie bei in kurdischen Gebieten gesehen werden. Eine zu durchlässige Grenze wiederum führt unter Umständen zur Besetzung wie auf der Krim. Nicht umsonst wird Krieg heutzutage auch über die Medien ausgetragen, um präventiv Grenzen zu ziehen oder im Nachhinein Konsequenzen herbeizuführen.

Warum fällt das Aushandeln von Grenzen nun so schwer? Grenzen werden dann gezogen, wenn eigene Bedürfnisse oder vermeintliche Bedürfnisse gefährdet erscheinen – mit anderen Worten, Grenzen sind eine Reaktion auf Angst: Sie sollen die Sicherheit der vermeintlich notwendigen Bedürfnisbefriedigung sicherstellen. Zu starre Grenzen können den verschiedensten Bedürfnissen und Prioritätsmöglichkeiten nicht gerecht werden. Zu labile Grenzen werden nicht als Grenze erkannt oder ignoriert.

Grenzen sind also ein wichtiger Teil der zwischenmenschlichen Interaktionen, weil sie im Alltag, aber auch in politischen und militärischen Auseinandersetzungen wirksam werden und idealer Weise über echte Bedürfnisse (in Abgrenzung zu Wünschen) und deren Wichtigkeit informieren – deswegen ist es wichtig, Grenzen zu setzen, gemeinsam zu finden und regelmäßig zu prüfen, ob sie den vielleicht in ihrer Priorität veränderten Bedürfnissen noch gerecht werden.

Grenzen spielen so eine wichtige Rolle darin, ob wir Konflikte miteinander gewaltfrei oder gewalttätig bearbeiten. Viele Wertesysteme, wie z.B. Religionen, politische Normen und Ethiken bieten Handlungsgrenzen, um innerhalb dieser artifiziellen Grenzen Konflikte zu vermeiden bzw. bearbeiten zu können. Ein Beispiel hierfür ist das staatliche Gewaltmonopol (siehe hierzu z.B. Sommer 2004, S. 13).

Innere Grenzen und äußere Grenzen
Neben diesen sozialen Funktionen haben Grenzen auch psychologische Funktionen. Wir ziehen auch in uns Grenzen, um z.B. Verhalten zu fördern oder unwahrscheinlicher zu machen. Z.B. können innerpsychische Grenzen dafür sorgen, dass Menschen bei Wutanfällen zumindest deutlich seltener zu körperlicher Gewalt greifen. Dies funktioniert, weil auch Grenzen nach Innen bei Überschreitung Signalcharakter haben können, so können wir vor unseren eigenen Gedanken erschrecken und Optionen neu bewerten.

Wir haben entsprechend manchmal auch Angst vor uns selbst bzw. vor unseren Gedanken, Gefühlen und Handlungen. Dies kann für die Grenzziehung nach Außen wichtig werden, denn um nach Außen klar Grenzen zu kommunizieren, muss ich mir im Inneren über diese klar sein. Dafür brauche ich den Kontakt zu meinen Gefühlen, die als verdichtete Bewertung helfen können, Situationen einzuschätzen und damit eventuell notwendige Grenzen in der nötigen Klarheit zu kommunizieren. Wenn ich nun aus Angst vor meinen Gefühlen eben diese Gefühle ignoriere („Wein doch nicht“ oder „Denk doch mal nach“ schaden da als Verhaltenshinweise unter Umständen eher), fallen Grenzziehungen schwerer. In der Folge wird aufgrund innerpsychischer Konflikte die Wahrscheinlichkeit zwischenmenschlicher Konflikte größer.

Begrenztheit von Grenzen – Schmerzen lauern überall
Absolute oder gar ewige Sicherheit gibt es nicht – Menschen können nicht alles vorhersehen, erst recht nicht vorherberechnen. Daraus ergibt sich auch, dass jede gesetzte Grenze weder ewig sinnvoll bleibt noch auf Dauer Schutz bieten könnte. Grenzen sollen die Befriedigung von Bedürfnissen sicherstellen, sie sollen damit Schmerzen und Frustration minimieren. Minimierung ist nicht dasselbe wie vollständige Verhinderung, die in lebenden Organismen nicht möglich scheint. Kommt es allerdings zu einer anhaltenden gedanklichen Beschäftigung mit Grenzen, so können Ängste erhöht und damit der Wunsch nach stärkeren Grenzen weiter verstärkt werden. Mehr Abgrenzung kann also zu mehr Angst führen – wie der Kalte Krieg eindrucksvoll und bedrohlich gezeigt hat, kann dies in eine Aufrüstungsspirale führen. Im Kleinen traut man den NachbarInnen immer weniger, dann werden die Gartenzäune immer höher und irgendwann auch zu Mauern.

Stavros Mentzos, ein klinischer Psychologe, beschrieb die Entstehung von Krieg durch Konflikte durch die „Bildung starrer Fronten“, die „eine weitere Entwicklung zunächst einmal blockieren“ (Mentzos, S. 65), um darauf den hier schon angedeuteten Zusammenhang zwischen Konfliktlösung und Grenzziehung im Kleinen (familiären Setting) mit der „Verführbarkeit zum Krieg“ im Großen / politischen Miteinander zu verbinden (ibd. S. 67).

Grenzen und Konflikte
Da entwickelt sich natürlich die Frage, ob man auch in Kriegszuständen Frieden verteidigen kann. Anderson & Wallace arbeiteten 2013 anhand von Friedensgemeinschaften in Konflikt- und Kriegsgebieten Strategien heraus, mit denen Gemeinschaften in Kriegsgebieten sich schützen und Krieg begrenzen konnten (Anderson & Wallace 2013, S. 79):

Verhandlungen und Gespräche der nicht-kriegsführenden Gemeinschaften mit kriegsführenden Parteien dienten der Vertrauensbildung, der Überzeugung von der eigenen Ernsthaftigkeit und Legitimität bezüglich der Schaffung von Friedensräumen. Konfrontationen wurden nur gesucht, um gefährdendes und bedrohliches Verhalten durch Kriegsparteien unmittelbar einzugrenzen und bei Bedarf neu zu verhandeln. Ziel war nicht die Konvertierung der Kriegsparteien, sondern pragmatisch und konkret das Fortbestehen der eigenen friedlichen Strukturen  sowie die Verteidigung der eigenen Menschenrechte, z.B. im Fall von Entführungen. Somit wurden die Kriegsparteien nicht bevormundet, aber ihnen wurde klar gesagt, welche Grenzen die Gemeinschaften zogen und warum sie dies taten. Bedürfnisse wurden in der Regel klar angesprochen und damit Menschlichkeit betont, ohne bekehren zu wollen.

Umgang mit sinnvollen Grenzen
Wertschätzung und Akzeptanz gegenüber Grenzen, die echte Bedürfnisse kommunizieren, ist das Mittel der Wahl und Teil der menschlichen Natur. Dies ist auch der Grund, warum die oben genannten Grenzen von Nicht-Kriegsgemeinschaften von Kriegsparteien teilweise eingehalten wurden, trotz oft starker Machtasymmetrie. Die Bedürfnisse nach Schlaf, nach Nahrung, nach Sicherheit, nach wertschätzendem Umgang miteinander können nicht wegdiskutiert werden, weil wir sie alle teilen. Über echte Bedürfnisse kann man nicht diskutieren, sondern höchstens über ihre Prioritäten.

Umgang mit friedensgefährdenden Grenzen
Friedensgefährdend sind alle Grenzen, die nicht auf echten Bedürfnissen der beteiligten Akteure beruhen. Während es ein echtes Bedürfnis nach Kontrolle über das eigene Handeln gibt, gibt es nur vorgespielte Bedürfnisse, andere kontrollieren zu können. Derartige Bedürfnisse gefährden Frieden, weil sie anders als berechtigte echte Bedürfnisse, die sich auf die eigene Person beziehen, Macht oder eigene Grenzen auf andere ausweiten wollen und damit deren kommunizierte Grenzen unter Umständen nicht berücksichtigen können.

Aber wie zwischen echten und unechten Bedürfnissen und damit zwischen friedensfördernden und friedensgefährdenden Grenzen unterscheiden im Großen wie im Kleinen?

Echte Bedürfnisse sind mittelfristig lebensnotwendig für einen gesunden Körper und eine gesunde Psyche, ihre Befriedigung kann aufgeschoben oder in ihrer Wichtigkeit unterschiedlich ausgeprägt sein, aber sie sind nicht dauerhaft verhandelbar. Entsprechend klar erkennbar und kommunizierbar sind diese idealer Weise bereits von Kleinkindern (siehe Ebbert, S. 32). Tatsächlich fällt es leider oft Erwachsenen noch schwer, Wünsche von echten Bedürfnissen zu unterscheiden.

Deutschland braucht keinen Zugriff auf Coltan-Minen in Afrika, aber es wünscht sie, um übermäßigen Wohlstand zu erhalten. Wobei der Satz schon ein Fehler wäre – ein Land hat keine Bedürfnisse, Organisationen und Firmen haben keine Bedürfnisse, nur Menschen haben Bedürfnisse. Und hinter Wohlstand steckt kein echtes Bedürfnis. Das Kind braucht keine Schokolade oder Marken-Schuhe, aber es wünscht sie. Die Erwachsene hat kein Bedürfnis nach einem hohen Einkommen, aber nach existenzieller Sicherheit im Rahmen realistischer Erwartungen.

Da auch in der Zuordnung von echten vs. unechten Bedürfnissen große kategoriale Macht liegt (immerhin führt dies zur Delegitimation einer ganzen Reihe von vermeintlichen Bedürfnissen), sollte eine derartige Diskussion immer auf Augenhöhe und mit Ehrlichkeit geführt werden. Dann werden Grenzen auch produktiv, da sie Gemeinschaft basierend auf echten Bedürfnissen stiften, statt sie aufgrund unechter Bedürfnisse oder Nicht-Kommunikation auseinander zu reißen.

Wenn wir unsere Grenzen anhand aktueller echter Bedürfnisse ausrichten und flexibel sind, diese Grenzen immer wieder zu prüfen und ggfs. miteinander die Prioritäten zu verhandeln, können Grenzen produktiv und friedensfördernd wirksam werden. Notwendig sind Grenzen und das darüber Reden allemal.

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Georg Adelmann ist psychologischer Psychotherapeut in Ausbildung und beschäftigt sich intensiv mit dem Spannungsfeld zwischen Empathie, Angst und Gewalt/Freiheit. Er hat Freude daran, psychologische Forschung und Methoden Menschen verfügbar zu machen.