Die Rolle von intellektuellen Meinungsmachern

Kosovo – ein Kreuzzug für die Menschenrechte?

von Kurt Gritsch

Zwischen dem 24. März und dem 10. Juni 1999 bombardierte die NATO Jugoslawien. Der Angriff sollte, so der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder am 24. März in seiner Fernseherklärung, „weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern“.

Die Debatte um den so genannten „Kosovo-Krieg“ war das diskursive Ereignis der späten 1990er Jahre schlechthin. Die Folgen sind bis heute spürbar, erfolgte doch damals jene Weichenstellung, die eine neue und bis heute anhaltende Weltordnung etabliert hat. Nach dem Ende des Warschauer Pakts 1991 und dem Zerfall der Sowjetunion gehörten der Kalte Krieg und das bipolare Weltbild der Vergangenheit an. Konfrontiert mit der Möglichkeit eines spürbaren Bedeutungsverlusts bis hin zur Auflösung des Militärpakts, setzten seine Mitgliedsstaaten auf eine neue Strategie, einen Wandel vom Abwehr- zum Interventionsbündnis. Gerechtfertigt wurde dies unter Bezugnahme auf humanitäre Gründe und insbesondere die Menschenrechte. Der eskalierende Bürgerkrieg zwischen der „Kosovo-Befreiungsarmee“ UÇK und serbischen Antiterroreinheiten wurde immer mehr zum Spieltisch internationaler Interessen. Besonders die USA waren an der Aufwertung der NATO interessiert, da diese das effizienteste Instrument ihrer Europapolitik ist und sich zugleich für die Durchsetzung weltweiter Anliegen eignet. Deutschland wiederum erkannte unter der Regierung Kohl, fortgesetzt und intensiviert unter der Regierung Schröder, die historische Chance, militärische Einschränkungen, die noch aus dem verlorenen Zweiten Weltkrieg resultierten, endgültig zu überwinden. Wer wollte schon einer Beteiligung an einem Einsatz zur Wahrung der Menschenrechte widersprechen?

Die Rolle von Intellektuellen
Der erste Krieg, den die NATO out-of-area führte, stieß trotz monatelanger pro-interventionistischer Berichterstattung des Gros der bundesdeutschen Massenmedien bei den Bürgern der Mitgliedstaaten auf Skepsis. Aufgrund der weit verbreiteten ideologischen Sichtweise argumentieren viele Schriftsteller für ein Eingreifen der NATO, wobei andere Interessen als humanitäre meist ausgeblendet blieben. Angesichts des für viele Leser deutscher Printmedien spürbaren ethischen Dilemmas „eingreifen oder zusehen“ zeigte sich ein erhöhtes Interesse an ihren Meinungen. Doch können Intellektuelle für den Zeitungsleser als Orientierung dienen? Besitzt ein guter Schriftsteller aufgrund seiner fachlichen Qualifikation eine besondere Autorität als Bürger?

Auch wenn Intellektuelle zu einem gesellschaftspolitisch relevanten Thema im Grunde nur ihre Privatmeinung äußern, so besitzen sie, ähnlich wie Medien, Orientierungsfunktion. Eine solche wird ihnen unabhängig davon, ob sie ihr in Bereichen außerhalb des eigenen Fachs gerecht werden oder nicht, zugeschrieben. Weiters verfügen Intellektuelle über „symbolisches Kapital“. Dieses beruht einerseits auf der öffentlichen Anerkennung besonderer Leistungen auf Gebieten der Wissenschaft, Politik oder Kunst, andererseits gründet es auch auf der Beziehung, in welcher diskursive Eliten zu den Diskursgemeinschaften stehen, die sie in der Öffentlichkeit repräsentieren. Mit anderen Worten, je öfter jemand in den Massenmedien zu Wort kommt, desto größer wird sein symbolisches Kapital. Dabei wird durch Forcierung bestimmter Themen Öffentlichkeit erzeugt, indem initiierte Diskurse die veränderten Sichtweisen institutionalisieren (z.B. indem antifaschistische linke Intellektuelle, lange NATO-Gegner, 1999 für die Intervention plädierten). Und zu guter Letzt kann das „symbolische Kapital“ auch von anderen Diskursteilnehmern verwendet werden, indem sie eigene Beiträge mit der Autorität der Urheber aufladen und aufwerten („Wie Günter Grass argumentiere ich für ...“).

Die Studie
In meiner Dissertation habe ich FAZ, Süddeutsche Zeitung, taz, Zeit und Spiegel zwischen 24. 3. 1999 und 10. 6. 1999, also zwischen Kriegsbeginn und Kriegsende, quantitativ nach der Erwähnung von Intellektuellen sowie qualitativ in der Analyse von Essays und Interviews zum Krieg untersucht. 267 Intellektuelle wurden dabei im Zusammenhang mit dem ‚Kosovo-Krieg’ erwähnt. Zugeordnet zu den vertretenen Positionen ergibt sich folgende Statistik:

  • Interventionsbefürworter 30,7%
  • Interventionsgegner 55,1%
  • Skeptiker 14,2%

Die absolute Mehrheit der in den fünf Zeitungen namentlich erwähnten Intellektuellen, bundesdeutschen wie internationalen, Künstlern und Wissenschaftlern, war also gegen den NATO-Angriff auf Jugoslawien. Die doppelt so hohe Anzahl von Interventionsgegnern gegenüber Befürwortern bei einem Siebtel an Skeptikern hat damit zu tun, dass v.a. mittel- und osteuropäische Intellektuelle gegen die NATO opponierten – die meisten serbischen, russischen, griechischen und rumänischen, aber auch italienische und ostdeutsche, wobei sie sich in prinzipielle Pazifisten und Pragmatiker unterschieden. Westdeutsche, französische, britische und US-amerikanische Intellektuelle begrüßten die Intervention mehrheitlich. Waren unter den Pro-Stimmen vor allem gemäßigte Linke und ideologisch argumentierende Intellektuelle, so gehörten Konservative vermehrt den Skeptikern an, obwohl ein Teil politisch den Krieg unterstützte.

Schaut man sich die Anzahl der in den fünf untersuchten Printmedien publizierten Essays und Interviews an, so zeigt sich im Unterschied zu vorhin ein anderes Bild:

FAZ: 57,6% pro, 32,2% contra, 10,2 % skeptisch

Spiegel: 55% pro, 20% contra, 25% skeptisch

SZ: 46,2% pro, 42,3% contra, 11,5% skeptisch

Zeit: 35,8% pro, 32,1% contra, 32,1% skeptisch

Taz: 31% pro, 59,5% contra, 9,5% skeptisch

Leser von FAZ und Spiegel mussten somit den Eindruck haben, die Mehrheit der Intellektuellen stünde hinter dem Angriff. Während sich der bloßen Namenserwähnung nach insgesamt knapp 30 % aller Intellektuellen für die „humanitäre Intervention“ aussprachen und fast doppelt so viele dagegen, erweckten FAZ und Spiegel den umgekehrten Eindruck. Letzterer räumte gar nur knapp einem Drittel der realen Anzahl von Kriegsgegnern Platz für Essays oder Interviews ein, während er in den referierten Artikeln zwar viele Kriegsgegner nannte, diese jedoch nicht neutral erwähnt, sondern pejorativ beurteilt wurden. Die Zeit lag mit ihrer Anzahl der Kriegsbefürworter (35 %) zwar nicht eklatant über der tatsächlichen, erweckte aber, da sie im Verhältnis dazu nur die Hälfte der Interventionsgegner repräsentierte, den Eindruck, es herrsche gleichmäßige Verteilung unter den Meinungsäußerungen. Und anstatt rund 14 % skeptischer oder unentschlossener Argumentationen druckte sie 32 %, was das Bild weiter verzerrte. Die Süddeutsche Zeitung räumte den Befürwortern wenig mehr Platz als den Kritikern ein, womit sie den Pro-Stimmen „nur“ doppelt soviel Raum gab. Einzig die taz kam den tatsächlichen Prozentsätzen mit 31 für die Interventionisten und 59 für die Gegner nahe. In allen anderen Zeitungen kamen Befürworter der Operation Allied Force also überdurchschnittlich oft zu Wort, in einigen gar drei- bis viermal so häufig wie Kriegsgegner.

Argumente der Debatte
Befürworter wie Gegner der Operation Allied Force stützten sich argumentativ auf den Holocaust und auf Geschichte als tagespolitisches Argument. Während die einen meinten, die deutsche Vergangenheit müsse weiterhin zu „Nie wieder Krieg“ mahnen, waren die anderen der Ansicht, dass gerade die deutsche Historie eine Beteiligung notwendig erscheinen lasse, denn künftige Völkermorde müssten unterbunden werden („Nie wieder Auschwitz“). Interventionisten beriefen sich darüber hinaus aber auch auf die Verpflichtung zur NATO-Mitgliedschaft, ein umstrittenes Argument, da eine solche Notwendigkeit nur bei einem Angriff auf eines der Pakt-Länder gegeben gewesen wäre. Weitere Punkte zur Verteidigung der „humanitären Intervention“ waren die deutsche Beteiligung als notwendigen Schritt der Profilierung Europas als Akteur neben USA, der Kampf gegen (serbischen) Faschismus, Völkermord und „ethnische Säuberungen“, die Unterstützung der Albaner im legitimen Kampf gegen die serbische Unterdrückung sowie die Auffassung, Ethik und Moral kämen vor Recht (Nothilfe; Menschenrecht steht höher als Staatsrecht).

Demgegenüber verwiesen Kritiker auf den Missbrauch „Humanitärer Interventionen“ in der Geschichte, auf den selektiven Umgang der NATO mit Menschenrechten, was den moralischen Anspruch der Angriffe desavouiere sowie darauf, dass die Militäraktionen gegen Recht (Interventionsverbot im Völkerrecht) und Moral verstießen (die Inkaufnahme von „Kollateralschäden“ ist unmoralisch). Skeptiker wiederum begründeten ihr Hin- und Hergerissensein mit der unsicheren Informationslage und Manipulationen von beiden Konfliktseiten, wiesen darauf hin, dass sowohl Handeln als auch Nicht-Handeln schuldig mache und interpretierten den Luftkrieg als Fortsetzung ethnischer Konflikte.

Waren unter den Pro-Stimmen vor allem gemäßigte Linke und ideologisch argumentierende Intellektuelle, so gehörten Konservative meist zur Gruppe der Skeptiker. Obwohl das konservative Spektrum politisch den Krieg mehrheitlich unterstützte, war das Unbehagen, immer noch an die historische Schuld des Zweiten Weltkrieges erinnert zu werden, spürbar. Doch durch die ideologische Argumentation bewegten sich Pazifisten, Sozialisten und Linksliberale in eine „Auschwitzfalle“: Sie mussten sich der moralischen Unantastbarkeit jener, die sich auf die Shoa beriefen, beugen, weil in einer „faktenresistenten“ und ideologisch argumentierenden Gesellschaft derjenige Recht hat, der sich argumentativ zuerst auf „Auschwitz“ beruft. Wenn die Alternative Verhinderung eines Völkermord heißt, sind pazifistische (Krieg ist immer abzulehnen), sozialistische (der imperialistische Krieg ist abzulehnen) oder linksliberale (Krieg ohne UN-Mandat ist abzulehnen) Positionen argumentativ unterlegen. Ohne Fakten, auf der Ebene der Ideologie, hatten die Interventionsgegner dem stichhaltigsten Argument der Befürworter, dass man nämlich mit dieser Gesinnung nie Krieg gegen Hitler-Deutschland hätte führen können, nichts mehr entgegenzusetzen. Das Scheitern einer Politik des Entgegenkommens als Argument für militärische Eskalation oder gar Präventivkrieg zu verwenden, ist nicht neu und war u.a. schon im Falkland-Krieg 1982 und vor dem Angriff auf den Irak 1991 von Bellizisten als abschreckendes Beispiel verwendet worden; 2003 sollte es erneut auftauchen. Auch 1999 wurde Widerstand gegen die „Humanitäre Intervention“ mit der „Appeasement-Politik“ der 1930er Jahre gleichgesetzt. Weil Serbien als neues „Drittes Reich“ bezeichnet wurde, lag die Übertragung der heute negativ bewerteten britischen Politik der Zurückhaltung unter Neville Chamberlain auf der Münchner Konferenz 1938 gegenüber den Nationalsozialisten auf NATO-Kritiker nahe.

Vielleicht gerade weil die Politik des Nicht-Einmischens in den 1930er Jahren durch die späteren Ereignisse eklatant gescheitert war, wurde in den 1990er Jahren das Anti-Appeasement zur Trumpfkarte. Dabei sprachen die Fakten in den 30er Jahren für und 60 Jahre später gegen eine militärische Intervention. Erneut setzte sich die ideologische vor der empirischen Sichtweise durch. Zudem wurde 1999 hauptsächlich Text- und Ideologiekritik geübt, womit die Empörung über den Gebrauch von Shoa-Analogien Anschauungssache blieb und keine Frage der Tatsachen.

Da die politische Berichterstattung der großen deutschen Zeitungen ebenso wie die politischen Leitartikel angesichts des breiten parlamentarischen Konsenses kaum Kritik an der „humanitären Intervention“ zuließ, blieben Gastkommentare und Interviews vor allem im Feuilleton die wichtigste Möglichkeit zur Gegendarstellung. So wurde „der Intellektuelle“ vor allem als Kriegsgegner nolens volens zur erneuten Orientierungshilfe in der Öffentlichkeit, auch wenn teilweise die Gegenwelten von Feuilleton und politischer Berichterstattung erst vom Leser diskursiv verknüpft werden mussten.

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund
Dr. Kurt Gritsch, Historiker und Konfliktforscher. Forschungsschwerpunkte: Jugoslawien; vergleichende Konfliktforschung der Arabischen Revolutionen. Zuletzt erschienen: Inszenierung eines gerechten Krieges? Intellektuelle, Medien und der ‚Kosovo-Krieg‘ 1999, Georg Olms Verlag, Hildesheim 2010. Kontakt: kurt.gritsch@gmail.com