Der Traum von Sicherheit und Frieden

Möglichkeiten und Grenzen für Initiativen im Kontext des deutschen OSZE-Vorsitzes

von Peter Wittschorek

Schon als Deutschland sich vor zwei Jahren um den Vorsitz im Kreis der 57 Teilnehmerstaaten der OSZE bewarb, standen die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Angesichts dieser und weiterer Herausforderungen an Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa erfolgt das Engagement Deutschlands nach Aussage des amtierenden Vorsitzenden der OSZE, Außenminister Steinmeier, „scheinbar gegen alle Vernunft aber doch nach reichlicher Überlegung“. (1)

Der konzeptionelle Ansatz des deutschen Vorsitzes basiert darauf, dass das weite Europa von Vancouver bis Wladiwostok schon bessere Zeiten gesehen hat: Die mit der Schlussakte von Helsinki von 1975 verbundenen Hoffnungen, der mühsame aber stetige Aufbruch in den Jahren des ausgehenden Kalten Krieges und natürlich der warme Luftzug, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu Beginn der 1990er Jahre wehte. Ein Vierteljahrhundert später erscheint der alternativlose, optimistische Dreiklang der Charta von Paris vom „neuen Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ wie von einem anderen Kontinent.

Engagement im Zeichen der Krise
Kurz darauf folgten bereits ethnische Vertreibungen, kriegerische Konflikte und das Versagen mancher internationaler Akteure im jugoslawischen Zerfallsprozess. Für die OSZE sind mit dieser Zeit dennoch wichtige Erfahrungen verbunden. Viele Strukturen und Mechanismen, darunter die Frühwarninstrumentarien und erste Erfahrungen mit zivilen Friedensmissionen, die für die Tätigkeit in Krisenregionen besonders wirksamen Feldbüros sowie nicht zuletzt die Verstetigung von einem Konferenzprozess zu einer Organisation (1995), wurden im dafür erforderlichen Konsens der Teilnehmerstaaten geschaffen und etabliert.

An solchen Entwicklungen und Erfahrungen orientieren sich die Aktionslinien des deutschen Vorsitzes: (2) An erster Stelle steht das aktive Engagement in den aktuellen Krisen und Konflikten, angefangen bei der Ukraine und Berg-Karabach. Als Fundament für die Bewältigung konkreter Herausforderungen sollen die Voraussetzungen, Ressourcen und Instrumente der OSZE analysiert und gestärkt werden, mit denen Krisen und Konflikte verhindert, deeskaliert oder in gewaltfreie Prozesse transformiert werden können. Ergänzend setzt der Vorsitz darauf, die OSZE in der Tradition der vertrauensbildenden und Sicherheit schaffenden Schritte früherer Jahre – zum Beispiel die Verhandlungen zur konventionellen Rüstungskontrolle – wieder wirksamer als Forum für Austausch und Verständigung zwischen Regierungen zu europäischen Sicherheitsfragen zu nutzen.

Die OSZE sei aufgrund des in ihr verkörperten „Geistes von Helsinki“ besonders gut eignet, den Dialog zu diesen Fragen mit der russischen Regierung zu führen, unterstrich Steinmeier Ende Mai in einer programmatischen Rede zu den deutsch-russischen Beziehungen. Nicht ohne vor zu hohen Erwartungen zu warnen: Angesichts der Verletzung der Helsinki-Prinzipien bei der Annexion der Krim sowie des Konsensprinzips in der OSZE, nach dem substantielle Entscheidungen nur mit und nicht gegen Russland oder andere Staaten möglich sind, erscheine „der Traum von Sicherheit und Frieden […] so fern wie lange nicht mehr“. (3)

Der Geist von Helsinki heute
Dass der Geist von Helsinki zeit- und fast ortsgleich in einem ganz anderen Kontext präsent war, ist dem Zufall zuzuschreiben. Nicht hingegen, dass es dabei ebenfalls besonders um Russland ging: Aus Anlass des vierzigjährigen Bestehens der Moskauer Helsinki Gruppe (MHG), aus der in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die zivilgesellschaftliche Helsinki-Bewegung hervorging, trafen sich Ende Mai in Berlin Vertreterinnen und Vertreter von Helsinki-Gruppen aus zahlreichen europäischen Ländern und den USA. Der feierliche Rückblick und die Diskussion der aktuellen Herausforderungen waren geprägt vom Beitrag und Charisma der fast neunzigjährigen Mitbegründerin der MHG Ljudmila Aleksejewa. (4)

Sie stellte unmissverständlich dar, welche Bedeutung die sogenannte dritte, menschliche Dimension der OSZE – Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat – schon seinerzeit für die Sicherheit in Europa hatte und auch heute hat: Nur Regierungen, die die Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger achten und garantieren, schaffen eine gesellschaftliche Situation, in der Spannungen ausgehalten und Konflikte bewältigt werden können. Wie sehr diese Einsicht in der OSZE-Region heute in Gefahr ist, machten weitere Debattenbeiträge deutlich: Strukturelle Partizipations- und Transparenzdefizite an vielen Orten, das Unterlaufen wichtiger menschenrechtlicher Bestimmungen durch Regierungen von West bis Ost sowie die zunehmende Verfolgung von Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, unter ihnen Mitglieder von Helsinki-Gruppen.

Zivilgesellschaftliche Beiträge
Der deutsche OSZE-Vorsitz ist mit der Absicht angetreten, der menschlichen Dimension in der OSZE mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen; insbesondere die Partizipation von zivilgesellschaftlichen Akteuren und Jugendlichen soll gestärkt werden. Er zeigt sich offen für den Austausch mit Netzwerken und Gruppen sowie für deren Beiträge und Vorschläge und hat mit einem auf zivilgesellschaftliche Kontakte ausgerichteten Koordinator ein direkter Zugang zum Arbeitsstab im Auswärtigen Amt geschaffen. Mehr als in den Vorjahren setzt sich Deutschland dafür ein, bei der Behandlung konkreter Fragestellungen in OSZE-Foren, vor allem zu den selbst gesetzten Themenschwerpunkten Toleranz und Nicht-Diskriminierung sowie ethnische Minderheiten, Expertise und Akteure aus NGO-Kreisen einzubeziehen. Zudem unterstützt das Auswärtige Amt verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen im OSZE-Kontext, beispielsweise gegen Folter, für Medienfreiheit oder zu menschenrechtlichen Aspekten bei Flucht und Migration. An erster Stelle steht die Zusammenarbeit mit dem OSZE-weiten Netzwerk der Civic Solidarity Platform (CSP) bei der Durchführung internationaler Workshops sowie einer Zivilgesellschafskonferenz im Vorfeld des zentralen OSZE-Ereignisses 2016, dem Ministerrat Anfang Dezember in Hamburg. Dass das Auswärtige Amt beim Deutschen Institut für Menschenrechte eine Evaluierung der Umsetzung von Verpflichtungen in der menschlichen Dimension durch Deutschland in Auftrag gegeben hat und anschließend zur zivilgesellschaftlichen Kommentierung einlädt, ist aufgrund schwacher bzw. fehlender Überprüfungsmechanismen in der OSZE eine wichtige freiwillige Verpflichtung.

Mit verschiedenen Aktivitäten, insbesondere bei der Unterstützung der CSP und der Durchführung des Evaluierungsprozesses, folgt Deutschland guten Beispielen vergangener Jahre, allen voran der Vorsitze Irlands 2012 und der Schweiz 2014. Hinsichtlich wachsender Defizite und Risiken in der OSZE-Region wird es immer wichtiger, im Kreis der 57 an die in der Vergangenheit getroffenen Vereinbarungen zu erinnern und auf die Bedeutung demokratischer und menschenrechtlicher Belange sowie sicherheitsrelevante zivilgesellschaftlicher Beiträge hinzuweisen. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen allerdings, dass in der heutigen OSZE kaum größere politische Initiativen möglich sind: Fast alle von den vorherigen Vorsitzen vorgeschlagenen substantiellen Entscheidungen zur menschlichen Dimension sind am Nein einzelner Teilnehmerstaaten gescheitert. Und eine Vorlage des schweizerische Vorsitzes zur Stärkung der Rolle zivilgesellschaftlichen Akteure im Rahmen der OSZE hat es 2014 nicht einmal in die Beratungen geschafft, da Russlands ein inakzeptables Papier vorlegte, das im Gegenteil darauf abzielte, die Beteiligungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft stark zu beschneiden.

Umso mehr kommt es darauf an, dass die deutsche Regierung – und mit Blick auf den Vorsitz 2017 auch die österreichische – einzelne konkrete Aktivitäten verstärkt und sich vor allem mit sehr viel längerer Perspektive wirkungsvoll engagiert. Besonders notwendig ist die Ergänzung des allgemeinen Fokus auf die menschliche Dimension durch eindeutiges Eintreten für MenschenrechtsverteidigerInnen sowie für LGBTI- und andere verfolgte Gruppen, einschließlich der Bereitstellung individueller Schutzangebote. Ebenso sollten Einschränkungen für zivilgesellschaftliches Handeln thematisiert und den Akteuren im Umfeld der OSZE Platz, Stimme und andere Unterstützung geboten werden. Klare Positionierungen zu Defiziten müssen fester Bestandteil des Dialogs mit anderen Regierungen sein, um menschenrechtliche Standards und zivilgesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten durchzusetzen.

Mehr Sicherheit und Zusammenarbeit können Deutschland und die anderen OSZE-Staaten außerdem erreichen, wenn sie zivilgesellschaftliche Expertise über die menschliche Dimension hinaus auch stärker bei für Aufgaben der Früherkennung, Krisenprävention und Konflikttransformation sowie für den gesellschaftlichen Dialog allgemein nutzen. Erfahrungen aus dem Zivilen Friedensdienst, aus Mediation und Gesprächsführung, aus dem Beitrag von Frauen für Frieden und Sicherheit, aus dem zivilgesellschaftlichen Austausch zwischen Konfliktländern wie zum Beispiel Russland und der Ukraine – gute Beispiele gibt es genug. Die ersten Erfahrungen aus dem Vorsitzjahr zeigen, dass Gruppen und Netzwerke sich noch deutlicher und idealerweise mit längerfristigem Interesse an den Möglichkeiten der OSZE zur Schaffung von Sicherheit und Frieden in Europa einbringen können.

 

Anmerkungen

1 Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim Deutsch-Russischen Forum / Potsdamer Begegnungen, 30.05.2016, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_275654D486CDC3AE96F408AC0ECCBAB8/DE/Infoservice/Presse/Reden/2016/160530_BM_DEU_RUS_Forum.html.

2 Siehe Dialog erneuern, Vertrauen neu aufbauen, Sicherheit wieder herstellen. Schwerpunkte des deutschen OSZE-Vorsitzes 2016, http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/723184/publicationFile/212383/160104-DEU-Programm.pdf, Schwerpunkte I-III.

3 S. Fußnote 1

4 Expert Conference and Public Event “Four Decades and the Future of the Helsinki Movement. The Challenges for the Security and Cooperation in Europe Today”, http://eu-russia-csf.org/projects/mhg-expert-conference/.

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