25 Jahre Volkszählungsurteil

Politische Bewegungen im Griff der Datenkraken?

von Sönke Hilbrans

Es war ein kleines juristisches Erdbeben, das so genannte Volkszählungsurteil des Verfassungsgerichts vom 15.12.1983. Verheißungsvolle Sätze waren da aus Karlsruhe zu hören: Die Entscheidung eines jeden Einzelnen, selbst über die Preisgabe, Speicherung und Verwendung personenbezogener Daten zu entscheiden, ist nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes als so genanntes Recht auf informationelle Selbstbestimmung von der Verfassung geschützt.

In dieses Recht darf der Staat nur eingreifen, wenn dies aufgrund zwingender Gemeinwohlinteressen unumgänglich und zu dem in einem unmissverständlichen Gesetz geregelt ist. Das konnte auch für Polizei und Geheimdienste nicht ohne Folgen bleiben, hatten diese sich doch im Zuge der Terrorismusbekämpfung in den späten 70er Jahren darauf verlegt, mit (damals) modernster Technik umfangreiche Datensammlungen über mutmaßlich und vermeintliche Straftäter und Extremisten an-zulegen. Mit der so genannten Rasterfahndung trat zudem eine völlig neue Ermittlungsmethode auf, für die sich Polizeibehörden in großem Umfang bei Wohnungsbaugesellschaften, Energieversorgern, Meldebehörden und vielen weiteren Stellen massenweise personenbezogene Daten beschafften und diese zusammenführten, um in dem so entstandenen Datenpool nach den typischen Eigenschaf¬ten von Terrorverdächtigen zu suchen. Mit dem Volkszählungsurteil schwankte der juristische Boden, auf dem diese Maßnahmen standen. Aus bürgerrechtlicher Sicht erschien die Erwartung berechtigt ,dass dem staatlichen Datensammeleifer effektive Schranken gesetzt sein könnten. Zu Recht?
Mit dem Volkszählungsurteil konnte und wollte das Bundesverfassungsgericht die Uhr nicht anhalten, aber die Richtung neu bestimmen. Die verfassungsrichterliche Forderung nach klaren gesetzlichen Grundlagen löste eine bis heute nicht ganz abgeflaute Woge von Gesetzgebung aus, welche die staatliche Erhebung, Speicherung und Verarbeitung von Daten in ein rechtliches Korsett schnürt. Allerdings oh¬ne es zu bändigen. Denn die Politik der inneren Sicherheit hat im gleichen Maße dazugelernt. So wird heute über Informationseingriffe gestritten, die vor 25 Jahren absolut undenkbar erschienen: Nicht nur ist das heimliche Abhören von Wohnungen (sog. ,,großer Lauschangriff") inzwischen rechtlich möglich, auch eine exponentiell ansteigende Zahl von Telefonüberwachungen, expandierende Datenbanken und neue Überwachungsmethoden wie etwa die automatische Kennzeichenerfassung oder die Online-Durchsuchung erlauben der Polizei heutzutage auf Knopfdruck Erkenntnisse, die in den 80er Jahren nur mit gewaltigem Personaleinsatz zu gewinnen gewesen wären. Die Gesetzgeber kommen kaum noch hinterher, dieses Methodenarsenal rechtlich zu legitimieren, geschweige denn politisch zu bändigen.
Je billiger und effizienter die Datenverarbeitung geworden ist, desto attraktiver wurde sie auch in der polizeilichen Alltagsarbeit. Davon können politische und soziale Bewegungen inzwischen ein trauriges Lied singen. Im Zuständigkeitsbereich des so genannten polizeilichen Staatschutzes existiert beispielsweise bei dem Bundeskriminalamt die Datei „Innere Sicherheit" mit ca. 1,4 Millionen Datensätzen. Zweck und innerer Aufbau dieser Datei sind bis heute als „Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch" geheim gehalten. Etwas weniger heimlich geht es bei dutzenden anderer polizeilicher Dateien allein auf Bundesebene zu, in denen ebenfalls zigtausende von Datensätze gesammelt sind.
Viele dieser Dateien dienen ausdrücklich dem Zweck, der Polizei bei der Einschätzung von Personen die Arbeit zu erleichtern. Mit geheimdienstlichen Methoden - etwa durch V-Leute oder Telefonüberwachung - erhobene Daten werden zwar selten in den bundesweiten polizeilichen Dateien abgespeichert. Anders sieht es aber aus mit Informationen, die bei polizeilicher Beobachtung anfallen - etwa KfZ- Kennzeichen bei Versammlungen - oder die sich aus staatlichen Datenbanken - etwa bei dem Kraftfahrtbundesamt - ergeben können. Gerade die Verknüpfung von verschiedenen Datenquellen macht zentrale Datensammlungen attraktiv. Dabei geht die Polizei häufig nicht gerade sorgfältig vor: So finden sich regelmäßig auch Angaben, welche nicht auf sicherer Rechts- oder Verdachtsgrundlage erhoben worden sind, ebenso wie Daten zu längst mangels Tatverdachts eingestellten Strafverfahren. Zusammen mit der häufig freigiebigen Vergabe etwa des Etiketts „Straftäter linksmotiviert" werden aus polizeilichen Datenbanken schnell Verdächtigungsmaschinen, die für eine gezielte polizeiliche Arbeit nicht mehr viel nützen würden, aber für die Sortierung von Menschen nach ihrem mutmaßlichen Störungspotential gerade richtig kommen. Legal ist das trotzdem, denn die Gesetze erlauben auch die Speicherung bei bloßen Verdachtsmomenten. Nicht rechtmäßig, aber übliche Praxis ist schließlich eine lausige Datenpflege:
Während Verdachtsmomente schnell gespeichert werden, kümmert sich niemand mehr darum, was aus dem Verdacht geworden ist. Selbst bei später erwiesener Un¬schuld bleiben Betroffene als Verdächtige gespeichert. Wer politisch aktiv ist und nicht jedem Polizeibeamten ausweicht, kann sich die Folgen ausmalen: ein paar Personalienkontrollen, ein unnötiger Platzverweis und der eine oder andere nie weiter verfolgte Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit (manche Beamte können sehr erfinderisch sein, wenn es um unhaltbare Bagatellvorwürfe geht), schon hat man die kritische Masse an Vorgängen überschritten und wird gespeichert. Die Etikettierung folgt auf den Fuß: wer etwa zum GB-Gipfel gespeichert wurde, darf sich bei nächster Gelegenheit als polizeilich überprüfter Globalisierungsgegner wieder erkennen lassen.
Diese Datensammelei bleibt nicht ohne Folgen: Wer in langlebigen Dateien wie etwa den „Gewalttäter"-Dateien oder in anlassbezogenen Dateien wie der früheren Datei „GB" (zur polizeilichen Bewältigung des Gipfeltreffens im Sommer 2007) oder den zu den Castor-Transporten angelegten Dateien erfasst ist, kann sich relativ sicher sein, einer intensiven Personenüberprüfung oder auch einschneiderenden Maßnahmen unterworfen zu werden, wenn sie oder er im falschen Moment an der falschen Stelle von der Polizei angetroffen wird. Vorausgesetzt, diese hat einen Datenzugriff. Jede Speicherung läuft damit Gefahr, weitere Speicherungen nach sich zu ziehen.
Mit einer Selbstbeschränkung der Sicherheitsapparate in der Bundesrepublik ist bis auf Weiteres nicht zu rechnen, denn zu einfach ist die Speicherung und zu groß die Verlockung, Daten anzuhäufen, zu verknüpfen und nach Verbindungen -zu suchen. Es gilt daher: Nur gelöschte Daten sind gute Daten. Über die Löschung muss die Polizei übrigens regelmäßig selbst entscheiden. Dazu setzt sie sich Fristen, oft genug fünf bis zehn Jahre - nach der letzten Speicherung. Das ist nicht lange für überarbeitete Behörden, schließlich müssten so mindestens zehn Prozent der Daten jährlich auf ihre Relevanz und Richtigkeit überprüft werden. Wie intensiv die Prüfung dabei ausfällt, kann man sich vorstellen. Wie man sich in einer Umgebung von Datenkraken fühlt und trotzdem aktiv bleibt, ist auch eine Frage der individuellen Risikoanalyse, oder, wie Tony Bunyan fragt: ,,Are you a target?". Keine leichte Frage, denn die Entscheidung, welches Verhalten und welche politischen Zusammenhänge erfasst und etwa auf ihre inne¬ren Zusammenhänge hin analysiert wer¬den, treffen die Behörden häufig anhand der aktuellen sicherheitspolitischen Konjunkturen. Ebenso sind die Folgen für viele Betroffene bisweilen zwar ungemütlich oder Grund zu berechtigter Aufregung, mit hinreichend dickem Fell aber noch aushaltbar. Aber nicht die politisch mündigen Bürgerinnen stehen im Unrecht, sondern der viel zu neugierige Staat.
Wer der Sache individuell auf den Grund gehen will, kann selbst aktiv werden und bei den zuständigen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden kostenlose Auskunft und - zumeist sinnvollerweise nach erteilter Auskunft- die Löschung vorhandener personenbezogener Daten beantragen. Die Antwort der Behörden wird differenziert ausfallen: offen erhobene Daten - etwa aus Personenkontrollen - und solche, die aus schon bekannten Maßnahmen -etwa Straf- und Bußgeldverfahren - stammen, werden meist nicht vor den Betroffenen geheim gehalten werden können. Anders liegt es bei Maßnahmen, welche Polizei oder Verfassungsschutz lieber geheim halten würden: Aufmerksame Leserinnen von Auskunftsbescheiden werden dann auf salomonische Formeln stoßen, in denen mitgeteilt wird, dass noch mehr Daten vorhanden sind, aber nicht verraten werden sollen.
Die ganz überwiegende Zahl der Leserinnen und Leser des Friedensforums kann sich damit gewiss noch bis nach dem 25. Geburtstag des Volkszählungsurteils Zeit lassen: Polizeiliche Datenbanken werden typischerweise abgerufen, wenn dazu - etwa bei politisch brisanten Großereignissen, Demonstrationen oder Polizeieinsätzen - ein gewisser Anlass besteht. Das Weihnachtsfest zählt, soweit bisher bekannt, nicht dazu.

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