Bundeswehr-Ost:

Probleme ehemaliger NVA-Soldaten vor Ort aufgespürt

von Hans-Werner Weber

Die frühere Nationale Volksarmee (NVA), vor allem aber ihr Offizierkorps haben im Verlauf der friedlich Revolution in der DDR in einem permanenten Spannungsfeld besonderer Art gestanden. Wurde auch im Nachhinein immer wieder versucht, die Rolle der NVA zu verklären, so mangelte es nicht an solchen Kräften auch innerhalb der Streitkräfte, die bis zuletzt einen Einsatz von NVA-Truppen gegen das Volk für gerechtfertigt hielten. Es mutet deshalb wie ein Hohn an, wenn Honecker noch heute behauptet, daß eine "chinesische Lösung" nie in Erwägung gezogen wurde. Sah doch die Wirklichkeit ganz anders aus.

 

Schon mit der Zunahme der Spannun­gen in der früheren DDR, Mitte des Jah­res 1989, wurde durch die NVA-Füh­rung der militärische Einsatz gegen die eigene Bevölkerung vorbereitet. Soge­nannte Hundertschaften, in denen je ein Offizier für neun Mann verantwortlich war, standen in den Garnisonen im Um­feld der neuralgischen Städte in Bereit­schaft. Noch am 11. November 1989, zwei Tage nach Öffnung der Mauer, lö­sten führende Vertreter des Straußberger Verteidigungsministeriums für die 1. motorisierte Schützendivision Potsdam Gefechtsbereitschaft aus, um die Regi­menter mit schwerem Gerät nach Berlin zu schicken.

 

Bürden der Bundeswehr-Ost
Die in dieser Zeit entstandenen und sich in der Folge bis 3. Oktober 1990 noch verschärfenden moralischen Konflikte innerhalb des Offizierskorps der NVA sind nie endgültig bewältigt worden, und vieles davon wird heute zwangsläu­fig als Bürde mit in den Integrationspro­zeß der beiden deutschen Armeen hin­eingenommen. Eine Ursache dafür fin­det sich darin, daß die gleich nach der Wende beginnenden Selbstreinigungs­versuche des NVA-Offizierskorps von restaurativen Kräften vor allem in der NVA-Spitze in den ersten Ansätzen er­stickt und teilweise in das Gegenteil umgekehrt wurde. Der bis nahezu zur letzten Stunde vor der Vereinigung in den alten Kommandostrukturen wirk­same reaktionäre Kern der militärischen Führung hat mehr seine Überlebens­strategie verwirklicht, als in genügender Weise das Gros des Offizierskorps psy­chisch und moralisch auf die mit der Vereinigung verbundenen menschlichen Probleme vorzubereiten. Damit war ei­gentlich vorprogrammiert, daß sich die Integration in die Bundeswehr für den einzelnen Ex-NVA-Soldaten oftmals so schmerzlich vollzieht.

Um die aktuelle Situation kennenzuler­nen und Probleme zu hinterfragen, lag es nahe, nach Lehnitz zu gehen, wo am 11. November 1989 der von Ex-Vertei­digungsminister Kealer bestrittene Ein­satzbefehl für die Potsdamer Division unmittelbar ankam.

Kontinuität
Es war sicher der Feiertagsperiode ge­schuldet, daß die Kaserne des ehemali­gen Artillerieregiments 1 von außen einen gespenstisch verlassenen Eindruck vermittelte. Die Wachsoldaten am Ein­gangstor, beide Bundeswehr-Ost, also ehemals NVA, vermittelten höflich an den Kommandeur. Auf die Frage, wel­che Erfahrungen sie als Wehrpflichtige seit dem Uniformwechsel gemacht ha­ben, sagen beide übereinstimmend, es sei nahezu alles wie vorher, nur der Stress habe sich verringert.

Der Kommandeur war ohne zu zögern zu einem Gespräch bereit. Zu meiner Überraschung saß mir nicht ein Offizier der Bundeswehr-West gegenüber, son­dern Oberstleutnant Dietmar Landmann, der seit 1987 diesen Dienstposten inne­hat. Der gleiche Kommandeur also, der im November 1989 den bestrittenen Einsatzbefehl für das Regiment auf dem Tisch hatte und in dessen Verantwor­tung die Vorbereitung des Personals sowie des schweren Geräts einschließ­lich seiner Aufmunitionierung lag. Da­bei ist auch Hauptmann Thomas Schopf, derzeit für die Personalarbeit im Regi­ment verantwortlich. Schopf bestätigte, daß 1989 im Regiment drei Hundert­schaften in Bereitschaft standen. Eine davon kam am 8. Oktober 1989 in Ber­lin unter Polizeikommando zum Einsatz, an dem er selbst teilnahm. Mit sehr be­klommenen Gefühlen, wie er heute re­flektiert.

Seit dem 3. Oktober 1990 gehört das ehemalige NVA-Artillerieregiment zur Bundeswehr. Mit Hilfe eines mehrköp­figen Unterstützungsteams aus Hanno­ver wird nunmehr das Panzer-Artillerie-Bataillon 425 und eine Panzerjäger­kompanie in Lehnitz formiert. Noch sind die künftigen Strukturen ver­schwommen und die praktischen Fragen sozialer Natur vordergründig und drän­gender.

32 Offiziere des ehemaligen NVA-Re­gimentes haben den Antrag auf freiwil­ligen Dienst in der Bundeswehr als Sol­dat auf Zeit gestellt. Einige davon sind bereits bestätigt, aber für viele, darunter auch Oberstleutnant Landmann, ist die Bestätigung noch offen. Wie geht es dann nach zwei Jahren weiter? Auch hierauf gibt es gegenwärtig noch keine Antwort.

Sicher ist jedoch, daß nahezu alle ehe­maligen Zivilbeschäftigten des Regi­mentes eine Stelle als ziviler Bedien­steter der Bundeswehr erhalten. Die an­gestrebte Bezahlung von 65 % der westlichen Gehälter liegt dann in vielen Füllen über der Besoldung der unteren Ränge der Zeitsoldaten. Darüber wird ernsthaft gesprochen. Noch dazu jeder Offizier der Ex-NVA Abgaben zu entrichten hat, die für Bundeswehroffi­ziere nicht üblich sind. Allein die Tatsa­che der gravierenden Besoldungsunter­schiede vertieft bei vielen ehemaligen NVA-Offizieren das Gefühl, Soldaten zweiter Klasse zu sein.

Auf der einen Seite ergeben sich aus der zu geringen Transparenz des Eingliede­rungsprozesses der Ex-NVA in die Bundeswehr oftmals unnötige Span­nungsfelder, und andererseits bereiten die Unmengen an militärischem Gerät, vor allen an Sprengstoff und Munition, Probleme, die nur in gemeinsamer Ar­beit lösbar sind. Allein im Lehnitzer Objekt lagern 550 - 600 Tonnen Muni­tion aller Art, die mit nur 16 Mann zu bewachen sind.

300.000 Tonnen Munition sind die Hinterlas­senschaft der NVA insgesamt. Die Zahl von 1 Million Panzerminen spricht da­bei ihre eigene Sprache. Öko­nomisch und ökologisch verträgliche Abrüstung ist eine kreative Herausfor­derung, durch die das geistige Zusam­menwachsen der Soldaten aus Ost und West einen ganz besonderen Schub er­halten könnte.

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Hintergrund
Hans-Werner Weber ist ehemaliger NVA-Offizier und war Mitarbeiter von DDR-Verteidigungsminister Eppelmann.