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Kritische Fragen
Sicherheit neu denken – wirklich?
von„Sicherheit“ soll nicht mehr militärisch verstanden werden. Sehr gut. Nur: Kann dieses Papier („Sicherheit neu denken“) das erreichen?
Es will in nichts Bestehendes eingreifen. Aber warum sollte ein Bundestag, der alle Auslandseinsätze verlängert, 2025 Frieden beschließen? Wie sollte der viertgrößte Rüstungsexporteur Frieden bringen? Wieso sollte Deutschland nur noch in zivilen Strukturen der NATO (welchen?) mitarbeiten? Ohne NATO geht es in dem Papier doch sowieso nicht: Die NATO-Mitgliedschaft gehört zu den „fünf Säulen“ deutscher Sicherheitspolitik ab 2025 (S. 31). Keine Emanzipation auch von der Bundeswehr: Ausgerechnet ihr Weißbuch 2016 soll darüber aufklären, wo die sicherheitspolitischen Herausforderungen liegen (S. 21). Man bleibt auch ganz in der Logik der sogenannten sozialen Marktwirtschaft: „Überschuldete Staaten“ sollen Insolvenzrechte erhalten (S. 36-37) - anstatt dass man fragt, woher ihre Schulden kommen. Wie denn auch - Verteilungsgerechtigkeit ist für Deutschland „im Nord-Süd-Verhältnis gleichbedeutend mit einer vorausschauenden, dem Eigeninteresse folgenden Friedens- und Sicherheitspolitik“ (S. 36-37).
Von dort aus ist gut zu sehen, welchen Frieden die Autor*innen des Papiers anstreben. Er wäre militarisiert: „Die OSZE-Polizei ist (...) ebenso (...) durchsetzungsstark, wie man es früher nur von Armeeverbänden kannte“ (im Jahr 2030; S. 61) – sie hieße nur nicht Armee. Er wäre neokolonialistisch: „Die Staaten Afrikas, des Nahen Ostens sowie Osteuropas bilden einen stabilen Friedensgürtel in der Nachbarschaft der EU“ (im Jahr 2040; S. 41) – einen klassischen Cordon sanitaire aus Vasallenstaaten. Er wäre interventionistisch: Ausländische Kräfte sollen in Zivilem Widerstand geschult werden (S. 106) – Intervention einmal anders.
Man kann zugunsten der Autor*innen annehmen, dass sie leisetreten, weil sie breite Bündnisse schmieden wollen. Aber wen außerhalb der Friedensbewegung wollen sie für ihr Sicherheitskonzept gewinnen, der sich nicht ins Fäustchen lacht und sagt, super, wir können weitermachen, denn die Kriegskritiker*innen springen von selbst mit ins Boot?
Man kann ebenfalls annehmen, dass sie, unerfahren, zweifelhafte Literatur benutzt haben. Beispiele:
- Mehrfach beziehen sie sich positiv auf Srđa Popović (S. 19, 97). Er hat sich mit Zivilem Widerstand einen Namen gemacht. Sie erwähnen aber nicht, dass seine Schriften, Aktionen und Kurse in Serbien, der Ukraine, Georgien und Ländern des „Arabischen Frühlings“ deutlich auf Regime Change ausgerichtet waren und sind und dass eine von US-Republikanern getragene Stiftung ihn dafür ausgebildet hat.
- Als Beispiel für gelungenen Zivilen Widerstand wird die „Singende Revolution“ 1988-1991 genannt: „In Estland (...) in Riga“ hätten sich Menschen versammelt und Volkslieder gesungen, die in der UdSSR verboten waren (S. 96). Nun, Riga ist in Lettland und Volkslieder waren nicht verboten; zum Wissen über die baltischen Sowjetrepubliken gehörten vielhundertköpfige Volksliederchöre in Trachten. Die „Singende Revolution“ sang aber auch die Hymnen der bürgerlichen Republiken, die zwischen 1918 und 1940 im Baltikum bestanden.
- Der Text übernimmt Fremdes in einem Umfang, dass man sich fragt, ob er auf Frieden oder auf Krieg vorbereiten will. 22 Seiten lang geht es nur um Zivilen Widerstand. Besonders problematisch wird es dort, wo die Autor*innen eine Situation prognostizieren, in der andere Länder Deutschland beschuldigen, sie durch Widerstands-Schulungen ihrer Bürger*innen destabilisieren zu wollen. Und das Sahnehäubchen: Zur deutschen Gegenargumentation gehört, dass es solche Schulungen ja schon lange gibt (S. 106-107).
Vielleicht spielt auch die Herkunft des Papiers aus der Kirche eine Rolle. Seine Verantwortung ist aber größer. Viele wollen etwas tun und haben eine Vision gesucht. Da mag die Theorie milder beurteilt werden. Aber was sagt der Praxistest? Spätestens Corona verlangt dringend zivile Konzepte. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit, Profitinteresse und nationalen Egoismus hintanzustellen, zusammenzuarbeiten und die Waffen ruhen zu lassen? Stattdessen zerlegt sich eine Partei weiter und der Rest der Politik diskutiert, mit welchen Jets man die nukleare Teilhabe sichern kann, ohne die heimische Rüstungsindustrie zu sehr zu düpieren (Stand Mai 2020) – alles wie immer im System und seiner Kriegspolitik, über die das Papier keinen Schritt hinausgeht.
Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Langfassung des Papiers: Becker, Ralf; Maaß, Stefan; Schneider-Harpprecht, Christoph (Hg.). Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik – Ein Szenario bis zum Jahr 2040. Evangelische Landeskirche in Baden, 2018