Zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

Strategien sozialer Bewegungen gegen Repression in Deutschland und Belarus

von Sarah Roßa

Ende September 2014 stehen die ersten Gerichtsprozesse gegen diejenigen AktivistInnen an, die am 1. Mai 2013 in Frankfurt am Main auf Schienen sitzend einen Naziaufmarsch blockiert haben und sich weigern, die dafür verhängten Bußgelder zu zahlen. Bei der Räumung der Blockade ging die Polizei teilweise brutal mit Blockierenden um und versprühte Pfefferspray aus nächster Nähe.

Am 21. Juni 2014 wurde in Belarus (Weißrussland) der Menschenrechtler Ales Beliazki unerwartet aus dem Gefängnis entlassen. Er wurde 2011 wegen angeblicher Steuerhinterziehung verurteilt und galt international als politischer Gefangener. Nun muss er sich monatlich bei der belarussischen Polizei melden, und es ist unklar, wie lange seine Bewährungsfrist andauert.

Diese beiden Beispiele zeigen: Wenn politisch aktive Gruppen oder Einzelpersonen von Herrschenden als bedrohlich oder störend empfunden werden, geraten sie teilweise unter massive Repression. Dies geschieht sowohl in autokratischen Regimen wie Belarus, als auch in sogenannten Demokratien wie Deutschland. Anlässe und Intensität politischer Repression variieren: Während in autokratischen Regimen wie Belarus, einem Land mit stark repressiven gesellschaftspolitischen Strukturen, bereits das Verteilen von Rechtshilfeinformationen zu Mietrechtsthemen mit Hausdurchsuchungen und Festnahmen beantwortet wird, werden in Deutschland beispielsweise Verfahren gegen Sitzblockaden auf der Straße teilweise eingestellt. Die Rahmenbedingungen, unter denen gesellschaftspolitisches Engagement in autokratischen und demokratischen Regimen geschehen, lassen sich natürlich nicht miteinander vergleichen. Die Strategien und Taktiken, in verschiedenen Regimen unter Repression gesellschaftspolitisch aktiv zu sein, weisen dennoch Gemeinsamkeiten auf.

Aspekte politischer Repression in Belarus und Deutschland
In Belarus lassen sich folgende Dimensionen von Repression ausmachen:

  • Administrative Repressionen und Gesetzesänderungen, die es zivilgesellschaftlichen Organisationen unmöglich machen, sich zu registrieren, was sie für ihre legale Arbeit tun müssen
  • Verlust von Arbeits- , Schul- und Studienplätzen
  • Arreste, Strafen und Strafverfahren
  • Hausdurchsuchungen und Konfiszierung von Materialien
  • physische Gewalt.

Auch wenn Repressionen in Deutschland kaum mit denen in Belarus vergleichbar sind, gibt es auch in Deutschland eine Vielzahl von Repressionen gegen AktivistInnen.

  • Bei den administrativen Repressionen und Gesetzesänderungen wäre zum Beispiel die so genannte Extremismusklausel (1) zu nennen.
  • In Deutschland drohen bei politischer Aktivität zwar nicht unmittelbar der Verlust von Arbeits-, Schul- und Studienplätzen, doch gibt es diverse Berufsgruppen, die nur eingeschränkt an Protestaktionen teilnehmen können. So können angehende LehrerInnen mit Vorstrafe, auch wenn diese zum Beispiel für das Stören des Schienenverkehrs bei der Blockade eines Naziaufmarsches verhängt wurde, nicht mehr verbeamtet werden.
  • Arreste, Strafen und Strafverfahren drohen zum Beispiel HausbesetzerInnen oder Menschen, die durch Blockaden Zwangsräumungen zu verhindern versuchen, Castortransporte blockieren oder Geflüchtete vor Übergriffen schützen wollen.
  • Physische Gewalt von Seiten der Polizei wird angeblich nur „angemessen“ angewendet, wer bestimmte Bilder und Videoaufnahmen jedoch studiert, weiß, dass PolizistInnen immer wieder gewalttätig gegenüber Demonstrierenden werden, auch wenn von diesen keine Gefahr ausgeht.

Rechtsschutz und andere Taktiken gegen Repression in Belarus und Deutschland
In Deutschland gibt es umfassende Sammlungen zu Aktionsvorbereitungen (Blockadefibel von x-tausendmal quer (2), Anti-Repressions-Maßnahmen (Was tun wenn's brennt) (3) und erfahrene Rechtshilfestrukturen von Ermittlungsausschüssen (EA) und Roter Hilfe (RH) (4). Dank vieler Jahre Erfahrung, systematischer Sammlung und gegenseitiger solidarischer Unterstützung sind in Deutschland Menschen politisch aktiv trotz der Gefahr von Repressionen.

Dies gilt auch für Belarus, obwohl politische Repressionen dort viel nachhaltigere Folgen haben. Hier eine Auswahl von Aktionsformen und Taktiken, die teilweise auch in Deutschland angewendet werden, im autokratischen Regime Belarus jedoch ebenso wirksam sein können, beziehungsweise  eine besondere Brisanz haben (5):

Eigene Rechte verteidigen

  • Die Sprache der Bürokratie sprechen: formale Beschwerden einreichen und auf formale Antworten bestehen, um geltendes Recht durchzusetzen und Belege wie zum Beispiel schriftliche Antworten zu erhalten.
  • Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen: Kampagnen organisieren, Gerichtsprozesse führen.
  • Über die Möglichkeiten informieren, wie man sich vor Repressionen schützen kann.
  • Rechtliche Unterstützung bieten.

Öffentlichkeit herstellen

  • Öffentlichkeit über Repressionen herstellen,
  • Hit-and-run Aktionen: die Aktiven verschwinden von der Straßen-Aktion, bevor sie festgenommen werden können.

Sicherheit: Strukturen vor Zerschlagung schützen

  • Sich nicht als leichtes Opfer präsentieren: Widerspruch einlegen, Tür bei Hausbesuchen der Polizei nicht öffnen. (In Belarus gehen staatliche Sicherheitsorgane oftmals wieder, wenn ihnen die Tür nicht geöffnet wird.)
  • Vorsichtiges Verhalten von Einzelpersonen im Alltag: z.B. Wechseln der Kleidung, um Beschattungen zu erschweren.
  • Computersicherheit
  • Sich als Gruppierung unsichtbar machen: z.B. ins Exil gehen, nicht unter einem Namen agieren, öffentliche Aktionen vermeiden.

Strategien gegen Repression zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
Sowohl in Deutschland als auch in Belarus gibt es diverse Strategien und Taktiken, die entweder verhindern, dass AktivistInnen unter Repression geraten, oder falls dies doch geschieht, helfen, mit diesen umzugehen. Im Folgenden sind für beide Strategien – sichtbar sein und unsichtbar sein – verschiedene Taktiken aufgelistet.

 

Sichtbar sein,(6)

Unsichtbar sein

  • Öffentlich sichtbare Gruppen oderNetzwerke, die unter ihrem Namen Statements abgeben, Aufrufe unterzeichnen, Aktionen machen.
  • Offener Zugang zu Gruppen und Netzwerken.
  • Öffentlicher ziviler Ungehorsam: Menschen nehmen in Kauf, festgenommen zu werden (Sitzblockaden, Ankettaktionen oder auch Hausbesetzungen).
  • „Backfire“ (7) AktivistInnen kontern Repression durch: öffentlich machen, Vertuschungen in Frage stellen, das Ziel des Angriffs als wertvoll bestätigen, Uminterpretationen kontern. (8)
  • Autonome, klandestine Gruppen, die nicht mit einem öffentlichen Namen agieren – unter Umständen aus dem Untergrund.
  • Notfalls: Ins Exil gehen (insbesondere Belarus).
  • Schutz der eigenen Strukturen über „Background-check“ neuer Mitglieder, um Spitzel von KGB (Belarus) oder Verfassungsschutz (Deutschland) zu verhindern.
  • Hit and Run“ Aktionsformen: AktivistInnen verschwinden, bevor die Polizei kommt.
  • Einheitliche Kleidung bei gemeinsamen Aktionen, um nicht anhand von Merkmalen aus der Gruppe gefiltert zu werden. Verhüllung des Gesichtes, um nicht fotografiert oder gefilmt zu werden.
  • Computer weitestgehend schützen durch Festplatten- und e-Mail-Verschlüsselung.
  • Vertrauliche Dinge nur bei ausgeschalteten Telefonen besprechen.

 

Sichtbar zu sein kann, wie in der Tabelle benannt, im klassischen Sinne des zivilen Ungehorsams bedeuten, Aktionen öffentlich anzukündigen, mit dem eigenen Gesicht und der eigenen Person dafür zu stehen, Strafen in Kauf zu nehmen und gegebenenfalls vor Gericht die eigenen Überzeugungen zu vertreten. Jenseits konkreter Aktionen können auch Gruppen und Strukturen offen und sichtbar sein. So setzen einige Gruppen und Netzwerke bewusst auf Offenheit, da dies Menschen mobilisieren und einen niedrigschwelligeren Zugang zu Aktionen bieten kann. Zudem bieten Offenheit und Transparenz weniger Angriffsfläche für Kriminalisierung und Repression, da Aktive dadurch unter Umständen Sympathie und Unterstützung aus der Bevölkerung erhalten.

Unsichtbar zu sein kann im Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Aktivitäten verschiedene Abstufungen haben: Aktivitäten werden entweder jenseits der Öffentlichkeit ausgeübt, wie beispielsweise wenn Treffen oder Aktionen so stattfinden, dass die AktivistInnen dabei unerkannt bleiben. Jenseits von konkreten Aktionen können Strukturen und Kommunikationswege geschützt werden. Insbesondere bei Aktionen, auf die mehr als ein Bußgeld steht, kann Unsichtbarkeit die einzige Möglichkeit sein, um nicht hohe Geldstrafen zu bezahlen oder für längere Zeit ins Gefängnis zu kommen. Das gilt insbesondere für Sabotageakte wie das Zerstören von Bundeswehrgerät.

Sich solidarisch organisieren, statt paranoid zu werden
Bei allen Strategien und Taktiken, ob sichtbar oder unsichtbar, ist es wichtig, nicht allein zu sein. Dies macht nicht nur den AktivistInnen Mut, sondern kann den Machthabenden auch Arbeit und Kosten verursachen. Sowohl in Deutschland als auch in Belarus besuchen AktivistInnen Gerichtsprozesse ihrer GenossInnen und rufen dadurch langwierige Sicherheitskontrollen am Eingang hervor, sowie das Bild breiter Unterstützung der Aktion oder Person. Eine andere Taktik ist es, Bußgelder oder Strafzahlungen in vielen kleinen Einzelbeträgen zu überweisen, um den entsprechenden Behörden mehr Arbeit zu machen. Je mehr AktivistInnen dies tun, umso größer die Wirkung.

Um diese Wirkung zu erzielen, dürfen sich Bewegungen nicht spalten lassen. Machthabende und Medien versuchen, verschiedene Bewegungsspektren gegeneinander auszuspielen, sei es anhand der Gewalt(freiheits)frage (9) oder im Spannungsfeld der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Einige AktivistInnen werden in der Öffentlichkeit als „die Guten“ dargestellt, weil sie zum Beispiel sichtbar, nicht schwarz gekleidet oder gewaltfrei sind. Andere AktivistInnen, zu deren Aktionsrepertoire es beispielsweise auch gehört, ihr Gesicht zu verhüllen um nicht erkannt oder gefilmt zu werden, werden eher kriminalisiert und in der Öffentlichkeit diffamiert. Wer nichts zu verbergen habe, könne doch offen agieren, heißt es.

Mit welchen Taktiken auch immer – soziale Bewegungen müssen sich vor Repression schützen, und ihr, wenn sie eintritt,  offensiv begegnen. Dafür gibt es verschiedenste Strategien und Taktiken: Wer sich nicht schützt, kann  eine Aktion eventuell nur einmal durchführen, wer offen agiert kann, vielleicht Menschen mobilisieren. Verschiedene Taktiken müssen kein Entweder-Oder verschiedener Spektren und Gruppen sein. Lassen sich soziale Bewegungen nicht spalten und wenden verschiedene Strategien und Taktiken an, können diese zu gemeinsamen Zielen führen.

Ein Ziel von Repression ist es, Bewegungen zu schwächen, Angst zu machen und Aktionen und Aktivitäten dadurch zu verhindern. Wer mehr Zeit mit Sicherheitsvorkehrungen als mit den eigentlichen Aktionen und Aktivitäten verbringt, läuft unter Umständen Gefahr, handlungsunfähig zu werden. Damit haben Herrschende und GegnerInnen sozialer Bewegungen ihr Ziel erreicht. Wichtig ist daher, sich durch Repression nicht zu stark verunsichern oder verrückt machen zu lassen. Sich zu organisieren, gut vorzubereiten (zum Beispiel durch Aktionstrainings (10), mit der nötigen Vorsicht aber auch mit Mut zum Risiko vorzugehen und offen für der Situation angemessene Strategien und Aktionsformen zu sein, kann die eigene Handlungsfähigkeit erhöhen.

 

Anmerkungen
1 Die „Demokratieerklärung“, auch Extremismusklausel genannt, war eine schriftliche Einverständniserklärung, die Antragstellende für drei Bundesförderprogramme „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“, „Initiative Demokratie Stärken“ und „Zusammenhalt durch Teilhabe“ seit 2011 unterzeichnen mussten.  Sie sollte das Ziel verfolgen, „eine Unterstützung extremistischer Strukturen“ zu verhindern, behinderte aber die Arbeit vieler aktiver Initiativen gegen Rechtsextremismus, die durch die Klausel als linksextremistisch kriminalisiert wurden. Sie wurde Anfang 2014 wieder abgeschafft.

2 http://www.x-tausendmalquer.de/fileadmin/x-tausend/dokumente/Blockadefibel.pdf

3 http://www.rote-hilfe.de/downloads/category/3-rechtshilfe-a-was-tun-wenns-brennt?download=2:was-tun-wenns-brennt-rechtshilfetipps-ausgabe-2011

4 Eine umfassende Übersicht über Tipps, Hinweise und Unterstützung hat die Projektwerkstatt Saasen 2007 veröffentlicht. Online unter http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/haupt.htm

5 Siehe meine Masterarbeit: Roßa, Sarah (2013): Aktionsformen sozialer Bewegungen unter Repression. Das Beispiel der Demokratiebewegung in Belarus. Goethe Universität Frankfurt am Main. Nicht veröffentlicht. 

6 198 Formen solcher gewaltfreier Aktion hat Gene Sharp zusammengestellt. Siehe: Sharp, Gene (1973): The Methods of Nonviolent Action In: Sharp, Gene (ed.) The Politics of Nonviolent Action. Manchester: Extending Horizons Books, Porter Sargent Publishers Inc

7 Backfire heißt wörtlich Fehlzündung, als Verb im übertragenen Sinne jedoch auch „nach hinten losgehen“ oder „auf jemanden zurück schlagen“. Siehe: Martin, Brian (2005): Backfire – Wann geht ein Angriff nach hinten los? Informationsblatt des Bund für Soziale Verteidigung e.V. (BSV). Übersetzung aus dem Englischen. Ute Finckh-Krämer. Online unter: http://www.soziale-verteidigung.de/uploads/tx_ttproducts/datasheet/backfire_web.pdf

8 Das Netzwerk Nasch Dom in Belarus z.B. reagiert auf repressive Angriffe mit öffentlichen „Blaming and Shaming“-Aktionen. Mit ihnen werden Übergriffe und die Verantwortlichen öffentlich gemacht und somit bewirkt, dass Angriffe auf die Repressierenden zurückfallen.

9 Roßa, Sarah (2013): Vom Sinn und Unsinn der „Gewaltdebatte“. Ein Kommentar. In: Gewaltfreiheit – Aktionsform, Handlungsmaxime oder Ideologie? Online unter http://www.soziale-verteidigung.de/fileadmin/dokumente/HuD_36_Gewaltfreiheit_final_140312_fuer_Web_mit_Kopf.pdf

10 Aktionstrainings von beispielsweise ZUGABE http://www.netzwerk-zugabe.de/ oder Skills for Action http://www.skills-for-action.de/

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