Schlechte Argumente der Bellizisten

Streit um den Krieg in der Ukraine

von Dr. Hans-Georg Ehrhart
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Sieben Monate nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist noch kein Frieden in Sicht. Die unmittelbaren Kriegsparteien sind ineinander verhakt und geben sich kompromisslos. Die De-Facto-Kriegsparteien aus dem Westen und ihre medialen Helfer sind bemüht, die grassierende Kriegslogik argumentativ zu unterstützen. Es gibt durchaus gute Gründe für den Krieg. Natürlich hat die angegriffene Ukraine jedes Recht, ihre Souveränität und staatliche Existenz gegen den Aggressor zu verteidigen. Völkerrechtlich sind die Rollen klar verteilt. Russland hat keinen akzeptablen Grund für seinen als „militärische Spezialoperation“ getarnten Angriff mit dem deklarierten Ziel eines Regimewechsels.

Die Erweiterungspolitik der Nato-Staaten und die Ukrainepolitik der USA waren zwar kurzsichtig und, wie von Moskau immer wieder erklärt, für Russland sicherheitspolitisch nicht akzeptabel. Sie rechtfertigt aber keinen Angriffskrieg. Grundsätzlich hat der Westen das Recht, die Ukraine auch mit Waffen zu unterstützen. Nur: Statt Wege aus der vertrackten Lage zu diskutieren und mögliche Alternativen zu einer militärischen Lösung aufzuzeigen, trommeln westliche Politiker*innen und mediale Bellizist*innen in der Öffentlichkeit für ein „weiter so!“. Viele der angeführten Argumente sind schlecht und werden auch durch ständige Wiederholung nicht besser. Man kann sie in vier Cluster einteilen: Überhöhung, Konfrontationsnotwendigkeit, Diskreditierung, Illusion.

Überhöhte Rahmensetzungen sollen die Bedeutung des Konflikts hervorheben und militärische Maßnahmen legitimieren. Dazu gehört die Aussage, der Ukrainekrieg sei kein Regionalkonflikt, sondern Teil einer globalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus. Die Ukraine kämpfe auch für unsere Freiheit und Werte. Nach drei Jahrzehnten gescheiterter Versuche des militärisch gestützten Demokratieexports soll es nun um deren Verteidigung gehen. Zur Not bis zum letzten Ukrainer? Wenn westliche Demokratien gefährdet sind, dann eher von innen, wie etwa das Abdriften des NATO-Mitglieds Türkei oder des EU-Mitglieds Ungarn in den Autoritarismus belegt.

Eine eher abstrakte Überhöhung ist die Behauptung, am Ausgang des Ukrainekriegs entscheide sich das Schicksal Europas. Der Konflikt mit Russland dauere wahrscheinlich lange und die USA würden sich eher früher als später auf ihren Hauptrivalen China konzentrieren. Darum müsse die EU zu einem militärisch handlungsfähigen geopolitischen Akteur werden, der Russland in Schach halten kann. Das Argument ist eine Variation früherer Gründe für eine Militärmacht Europa, die auf Autonomie von den USA oder auf einen Großmachtstatus der EU zielen. (1) Der Ukrainekrieg führt zwar zu einer immensen Aufrüstung des Westens, nicht zuletzt Deutschlands. Ob das aber zu einem militärischen Integrationsschub der EU führt, ist angesichts unterschiedlicher Interessen ebenso zweifelhaft wie die behauptete Schicksalhaftigkeit für Europa.

Konfrontationsnotwendigkeit
Die Notwendigkeit einer fortgesetzten Konfrontation behaupten Argumente wie der Westen müsse die Ukraine militärisch unterstützen, damit sie den Krieg gewinnt. (2) Damit wird ein Kriegsziel benannt, dessen weitestgehende Präzisierung die Rückgewinnung aller besetzten Gebiete vorsieht, einschließlich der Krim. Dass dies ohne eine direkte Beteiligung der NATO möglich ist, glauben wohl nur militärisch Unbedarfte und ideologisch Verblendete. Noch gefährlicher ist die Aussage, der Westen dürfe sich nicht von der Drohung eines Atomwaffeneinsatzes bluffen lassen, sondern müsse die Ukraine mit allen Mitteln unterstützen. Diese Haltung missachtet die Gefahr einer nuklearen Eskalation und öffnet die Schleusen für einen totalen Krieg. Vor diesem Hintergrund ist es äußerst pikant zu behaupten, es sei die moralische Pflicht Deutschlands, die Ukraine mit der Lieferung schwerer Waffen zu unterstützen, ohne zugleich die Gefahren und Grenzen dieser Handlung zu aufzuzeigen.

Argumente zur Diskreditierung des Gegners
Das dritte Cluster umfasst Argumente zur Diskreditierung des politischen Gegners. Nach innen richten sie sich gegen die Befürworter eines schnellen Verhandlungsfriedens. Diese werden als naive Idealisten oder Unterwerfungspazifisten beschimpft. (3) Diese eindimensionale und moralisierende Kritik dient der Fortsetzung des Krieges und verhindert jeden Versuch, die Logik des Krieges zu durchbrechen.

Nach außen gerichtet ist die Diskreditierung Putins und Russlands das Ziel. Mit Putin könne der Westen keinen Frieden schließen, weil er ein Diktator, Schlächter und Lügner sei. Personalisierung und Diffamierung ersetzen nüchterne, realpolitische Analyse. Wie soll jemals Frieden in der Ukraine einkehren können, ohne mit Putin zu verhandeln? Die Antwort darauf wird mit dem Argument übergangen, Russland wolle gar keinen Verhandlungsfrieden, solange es seine Kriegsziele nicht erreicht hat. Selbst ein Waffenstillstand ist nach dieser Logik zwecklos, weil Moskau ihn nur als Pause nutzen werde, um seine Kräfte zu regenerieren und dann erneut zuzuschlagen. Hat Russland die Ukraine einmal unterworfen, so die der Dominotheorie aus dem Kalten Krieg entlehnte Behauptung, richte es seine Aggression gegen das Baltikum. Bleibt also nur die „alternativlose“ Schlussfolgerung bis zum Endsieg zu kämpfen? Dann hätte die Politik wohl endgültig abgedankt.

Illusion
Schließlich schüren manche kriegsbefürwortende Argumente auch Illusionen. Dazu gehört die Behauptung, die westlichen Sanktionen würden Russland dazu bringen, den Krieg zu beenden. Der Westen müsse nur langen Atem beweisen und sie gegebenenfalls immer wieder verschärfen. Manchen dämmert es angesichts der Energiekrise und ihrer sozialen Folgen bereits, dass es sich um eine fatale Fehleinschätzung handelt. Sie ignoriert zudem Erkenntnisse der Sanktionsforschung, wonach entsprechende Maßnahmen nur selten und nur unter günstigen Bedingungen verhaltensändernd wirken, die aber auf Russland und seine Handlungsmöglichkeiten in einer multipolaren Welt nicht zutreffen. Die zu erwartenden Bumerangeffekte dürften auch durch „Blut-Schweiß-und-Tränen“-Appelle der Bellizist*innen ihre gesellschaftliche Wirkung nicht verfehlen. 

Eine weitere Illusion ist die Aussage, die Ukraine könne den Krieg gewinnen. Selbst eine lange anhaltende westliche Unterstützung wird die Atommacht Russland, das geografisch größte Land der Erde mit hundert Millionen mehr Einwohner*innen als die Ukraine, nicht in die Knie zwingen, sondern die Kosten für alle Beteiligten nur unnötig in die Höhe treiben. Ebenso illusionär ist die Behauptung, es liege bei der Ukraine zu entscheiden, wann der Krieg beendet wird. Sie unterstellt eine politische Autonomie, die nicht existiert. Schon vor dem Krieg hing das Land am westlichen Finanztropf. Gegenwärtig wäre es ohne die massive zivile und militärische Hilfe des Westens nahezu wehrlos. Der Westen, insbesondere die USA, hat also eine gewichtige Stimme. Er könnte folglich bei entsprechenden politischen Willen die Logik des Krieges durchbrechen, um mit der Ukraine und Russland den Weg zu einem Verhandlungsfrieden zu finden.   

Anmerkungen
1 Hans-Georg Ehrhart: Europäische Armee: eher Chimäre als Vision!, in: Friedensgutachten 2014, Münster: Lit Verlag; 2014, S.87-99
2 Milena Hassenkamp: Annalena Baerbock zum Ukraine-Krieg: “Die Ukraine muss gewinnen”, in: Der Spiegel, 2.6.2022, unter: https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/annalena-baerbock-zum-ukra...
3 Ukraine-Krieg: Haben die „Lumpenpazifisten“ bald Oberwasser?, in: Deutsche Sicht 24/7, 20.7.2022, unter: https://24ds.org/ukraine-krieg-haben-die-lumpenpazifisten-bald-oberwasser/.

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Krisen und Kriege
Dr. Hans-Georg Ehrhart ist Senior Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.