Der faschistische Flügel bei den französischen „Gelbwesten“

Übergänge von Gelb zu Braun

von Lou Marin
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Die französische Gelbwesten-Bewegung (Gilets jaunes) bekämpft die neoliberale Regierung Macron seit Mitte November 2018 – mit zwischenzeitlichem Erfolg, denn die für Anfang 2019 angekündigte Mineralölsteuer-Preiserhöhung und die Erhöhung der Gas- und Elektrizitätspreise wurden aufgehoben. Die Bewegung hat außerdem eine beeindruckende Ausdauer, denn von Jahresbeginn bis Anfang März war sie noch immer präsent, wenn auch die Beteiligtenzahlen auf den samstäglichen Demos in Paris und anderen Städten sich auf geringerem Niveau einpendelten. Doch das Zentrum der Bewegung waren noch nie diese städtischen Demos, sondern die Blockaden der Infrastruktur auf dem Lande, an den Verkehrskreiseln (Rond Points).

Was die Medien nur selten in den Mittelpunkt stellten, war der dortige Versuch, an Gemeinderäten, PolitikerInnen und Gewerkschaften vorbei alternative Formen des ökonomisch-politischen Drucks von unten zu organisieren, weil die kommerzielle Zuliefer-Infrastruktur durch den Stau von LKWs gestört wurde.

Die TrägerInnen der Bewegung gehörten zum sozial abgehängten unteren Mittelstand, der aus den Ballungszentren mit teuren Mieten und Grundstückspreisen vertrieben und nun gezwungen wurde, vom Lande aus zur dortigen Arbeit zu pendeln. Der Geograf Olivier Lacoste hat eine Landkarte mit den dezentralen Aktionszentren der Bewegung entworfen und festgestellt, dass sie sich mit strukturschwachen ländlichen Gebieten deckt, in denen etwa die Gesundheitsversorgung und die ärztliche Infrastruktur seit rund zehn Jahren schwindet. (1) Man kennt das aus Deutschland, doch in Frankreich greift diese Bewegung gerade diesen Abgrund zwischen dem Leben in der Stadt und auf dem Lande an. Darin liegt zweifellos ihr progressiver und emanzipatorischer Charakter.

Der faschistische Flügel wird sichtbar – am Anfang der Bewegung ...
Übliche BeobachterInnen aus der deutschen Linken nehmen diese Verankerung auf dem Lande und die Kritik des Stadt-Land-Gegensatzes kaum wahr, sondern konzentrieren sich auf einen angeblich generell rechten, nationalpopulistischen Charakter der Bewegung. Dieser wohlfeile Blick ist so simpel wie falsch. Die Gelbwesten-Bewegung ist nicht generell rechts, sondern äußerst heterogen. In diesem Rahmen gibt es in ihr in der Tat einen faschistischen Flügel, der in manchen Phasen sichtbar wurde. Diese Sichtbarkeit war mit den ersten Straßenschlachten antifaschistischer und neofaschistischer Gruppen an der Demospitze am 24. November und 1. Dezember in Paris am Arc de Triomphe verbunden, als sich die Medien auf die Auseinandersetzungen mit der Polizei und eine Sachzerstörung an den Ornamenten des Bauwerks stürzten. Und sie trat nun erneut zutage in den letzten Wochen, besonders am Samstag, 16. Februar, als es am Rande der Pariser Demos zu antisemitischen Ausfällen aus einer Gelbwesten-Demo heraus kam. Doch die Tatsche, dass diese Akte beide Male in Paris passierten, zeigt bereits den falschen zentralistischen Blick auf diese dezentrale Bewegung. Aber der Reihe nach:

Das linke Medienportal Mediapart konnte belegen, dass am 1. Dezember 2018 an der Demospitze militante Gruppen der neofaschistischen „Bastion social“ bei den Kämpfen besonders hervortaten. Am Arc de Triomphe kam es zu folgender Konstellation:

„Sie [Bastion social-Gruppen; d.A.] hatten dazu aufgerufen, das ‚Chaos in Paris zu schaffen’. Bevor dann rund hundert Radikale vom Aufruf zur Aktion schritten und sich aktiv an den Auseinandersetzungen beteiligten, die durch die Medien weltweit übertragen wurden. Nebenbei trafen sie dabei auf ihre eingeschworenen Feinde von der antifaschistischen Bewegung, die gleichzeitig vor Ort war.“ (2)

Einer der wenigen selbstkritischen Linken, Clément Homs, sprach hier von „Sorelscher Gewalt“ in Anlehnung an die Biografie des revolutionären Syndikalisten Georges Sorel, Autor des Buches „Über die Gewalt“ (1908), der zunächst Lenin und danach Mussolini bejubelte – wodurch dieser Bezug auf Sorel heute dafür steht, die Apologie der Gewalt als dominant und wichtiger zu erachten als die Richtung, aus der sie kommt. Homs kritisierte Linksradikale bei den Gelbwesten-Demos, die „Steine auf die Cops auf den Champs-Élysées warfen, wie sie stundenlang an der Seite der Leute des Front National, der GUD in einem Mischmasch aus ACAB und Fahnen der Tricolore (Nationalflagge), der Internationale und patriotischen Gesängen agierten“. (3) „ACAB“ heißt „All Cops Are Bastards“ und ist nicht nur sexistisch, sondern ein Streetfighter-Tag, der sowohl von Neonazis wie Linksradikalen benutzt wird.

Nazi-Gruppen auf den Straßen hatte es in Frankreich auch früher vereinzelt gegeben, doch lange wurden sie absorbiert als Teil oder Saalschutz des Front National (heute umbenannt in: Rassemblement National, RN). Entscheidende Jahre für ihre Erneuerung und neue Stärke waren 2009 und 2013: 2009 warf Marine Le Pen den antisemitischen Flügel um Alain Soral aus der Partei – ein Teil ihrer Strategie der „Entdiabolisierung“, will heißen: Regierungsfähigkeit. Und 2013 führten die Massendemonstrationen gegen das Gesetz für die gleichgeschlechtliche Ehe unter Hollande zu einer Neuorganisation und –gründung zahlreicher neofaschistischer Gruppen außerhalb des Front National, auf der Straße als Streetfighter-Gangs.

So ging Alain Sorals Vereinigung „Étalité et Reconciliation“ (Gleichheit und Versöhnung), gegründet 2017, aus der GUD (Groupe Union Défense; Vereinigte Gruppe zur Verteidigung) hervor, einer lange bestehenden, FN-nahen Saalschutzgruppe, die sich 2013 in der Anti-Homo-Bewegung dann als besonders homophob und auch antisemitisch gerierte. (4) Ein weiteres alt-faschistisches Aktivisten-Reservoir der „Bastion social“ bildete die „Action Française“, 1898 gegründet und bereits in der Dreyfus-Affäre aktiv, später katholisch-monarchistisch und mit dem Namen Charles Maurras verbunden. Sie erfuhr ebenfalls durch die Anti-Homo-Bewegung 2013 einen Aufschwung. 2018 spalteten sich wichtige Kader von ihr ab und gingen zu den „Bastion social“-Gruppen über. Merkmal der „Bastion social“ ist die Tatsache, dass sie in vielen Städten offen „Büros“ eröffnen, wo sie Schläger ideologisch ausbilden, Martial-Arts-Kurse anbieten, und die sie, wo möglich, militant verteidigen. Verbindungen bestehen auch zum italienischen Faschismus der „CasaPound“. Im Februar 2019 hat Macron nunmehr die „Bastion social“ verboten. Aber ein Neofaschismus-Experte wie Nicolas Lebourg aus Montpellier meint dazu, dass eine Organisationsauflösung erfahrungsgemäß nur zur Neugruppierung unter anderem Namen führe. (5)

...und am Ende der Bewegung als antizionistischer Antisemitismus
Es ist richtig, dass auch dezentral auf dem Lande einige Rond-Point-Blockaden der Gelbwesten von Front-National-Leuten gegründet wurden. Doch sie trafen dabei auf Andersdenkende – und vor allem auf Frauen, die in großer Zahl an der Bewegung teilnahmen, vor allem alleinerziehende Mütter, die vorher isoliert auf dem Lande lebten. Hinzu kam das Prinzip, an den Rond Points als Partei oder Gruppe nicht offen aufzutreten oder in deren Namen keine Symbole zu verwenden oder Flugblätter zu verteilen. Als Einzelne wurden rechte Sympathisanten dort in kritische Gespräche verwickelt. Als die Beteiligtenzahlen kurz vor Weihnachten stark zunahmen und die Bewegung vor allem soziale Forderungen sowie die Forderung nach Referenden aufgrund von Volksbegehren in den Mittelpunkt stellte, konnte der Einfluss der Rechten zeitweise zurückgedrängt werden. Außerdem kritisierten die Frauen der Bewegung in Sonntagsdemos am 7. Januar die nahezu einhundertprozentige Männerdominanz bei den städtischen Schlachten mit der Polizei. (6)

Im Januar und Februar 2019 jedoch ging die Beteiligung an den Rond Points und den Samstagsdemos wieder zurück, so dass die rechten Randströmungen der Bewegung wieder sicht- und hörbarer wurden. Besonders zeigte sich das an den antisemitischen Anwürfen in Paris vom 16. Februar, als der zufällig die Demo kreuzende nationalkonservative Philosoph Alain Finkielkraut explizit als Jude und nicht wegen seiner politischen Position angegriffen wurde: „Frankreich gehört uns!“, „Dreckiger Scheiß-Zionist, hau ab!“, „Palästina!“, „Geh heim nach Israel!“, „Nach Tel Aviv, nach Tel Aviv!“, „Du wirst sterben!“, „Du wirst zur Hölle fahren!“, „Gott wird dich bestrafen!“  Dabei befürwortet Finkielkraut ausgerechnet zu Israel/Palästina eine Zwei-Staaten-Lösung, immerhin seine progressivste Position, aber das interessiert die Diffamierer nicht weiter. (7)

Auch rechte Verschwörungstheorien haben in der Gelbwesten-Bewegung Konjunktur: So zeigt eine Umfrage des Institutes IFOP unter 1506 SympathisantInnen des RN von Ende Dezember 2018, dass typische Komplott-Thesen, die bei den Gelbwesten Konjunktur haben, auch am stärksten bei RN-AnhängerInnen verbreitet sind. Zum Beispiel die These, dass das islamistische Attentat vom 11. Dezember 2018 in Straßburg, bei dem fünf Menschen ermordet wurden, eine „Manipulation der Regierung“ gewesen sei, die nur dazu gedient habe, die Medienaufmerksamkeit von der Gelbwesten-Bewegung abzulenken. Das glauben 22% der RN-SympathisantInnen. Und auch der Antisemitismus bleibt an der Basis des RN virulent – trotz der Kader-Säuberungen von Marine Le Pen 2009. (8)

Auf des Messers Schneide
Weil sich die Gelbwesten jenseits der Strukturen der Gewerkschaften oder politischen Parteien gebildet haben und austauschen, haben Websites und Facebook-Portale bei deren politischem und strategischem Austausch große Bedeutung. Dort zeigen sich aber Phänomene, die in Deutschland durch die aus den Reihen der AfD kommende Brutalisierung der Sprache bekannt sind. So werden abweichende Projekte, etwa Wahllisten, die bei den Gelbwesten aufgrund ihrer verständlichen Ablehnung politischer Repräsentation ziemlich verpönt sind, aber auch gleich mit Morddrohungen an die ProtagonistInnen verbunden. Oftmals werden Symbole wie die Guillotine aus der Französischen Revolution als Drohung verwendet; gegen parlamentarische PolitikerInnen werden ähnliche Todesdrohungen ausgesprochen, mitunter als Sprühereien auf deren Privathäusern. Das endet dann dabei, so der Gelbwesten-Kritiker Jean-François Kahn, linker Buchautor und Journalist, „dass man in den sozialen Netzwerken nicht mehr weiß, wer da eigentlich wer ist“ (9), nämlich Rechter oder Linker.

In der Tat kommt die Bewegung im Moment bei Wahlumfragen für die Europawahl eher dem RN zugute. Nach einer Umfrage von Ipsos und Le Monde vom 15.-21. Februar stehen Macrons Partei LRM mit 23% und Le Pens RN mit 19,5% weit an der Spitze – und die linke Partei LFI (La France insoumise; Widerspenstiges Frankreich) des linkspopulistischen Politikers Melenchon, der die Gelbwesten geradezu verzweifelt von links verteidigt hatte, liegt abgeschlagen bei 8%. (10)

Doch es gibt auch interne Gegenströmungen. Am Samstag, 23. Februar, zeigten viele Gelbwesten Plakate gegen Antisemitismus auf ihren Demos. Es steht auf Messers Schneide. Die Kommentatoren Dardot/Laval von Mediapart formulierten es so:
„Die wichtigste aktuelle Frage ist demnach die, ob sich innerhalb der Gelbwesten-Bewegung die demokratische, ökologische und egalitäre Strömung durchsetzt, oder die identitäre, nationalistische, protofaschistische, die in Italien und jetzt in Brasilien gewonnen hat.“ (11)

Anmerkungen:
1 Vgl. Interview mit Olivier Lacoste: „Depuis dix ans, l’État n’a rien obtenu contre les déserts médicaux“ (Seit zehn Jahren hat der Staat nichts gegen Verwüstung der medizinischen Infrastruktur erreicht), in: Le Monde, 28. Februar 2019, S. 14.
2 Zit. nach Laurent d’Ancona: „L’ultra-droite sur tous les fronts“ (Die extreme Rechte an allen Fronten), in: La Provence, 28. Februar 2019, Schwerpunkt zur extremen Rechten, S. 2.
3 Clément Homs: „La Gauche, les ‚gilets jaunes’ et la crise de la forme sujet“ (Die Linke, die Gelbwesten und die Krise der Subjektform), hier zit. nach: Lou Marin: Gelbwesten: Repression und Gegenstrategien, in: Graswurzelrevolution, Nr. 435, S. 5.
4 Vgl. zur Geschichte der GUD: https://fr.wikipedia.org/wiki/Groupe_union_défense .
5 Vgl. zur Geschichte der Bastion social: https://fr.wikipedia.org/wiki/Bastion_social ; sowie: Interview mit Nicolas Lebourg: „On peut dissoudre, la radicalité na va pas disparaître“ (Man kann verbieten, aber die Radikalität wird dadurch nicht verschwinden), in: La Provence, 28. Februar 2019, Schwerpunkt zur extremen Rechten, S. 3.
6 Le Monde und AFP: „Des centaines des femmes « gilets jaunes » manifestent dans plusieurs villes de France“ (Hunderte Gelbwesten-Frauen demonstrieren in mehreren Städten Frankreichs), in: Website von Le Monde, siehe: https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/01/06/des-centaines-de-femme... , 6. Januar 2019.
7 Vgl. Aline Leclerc: „Antisémitisme : les ‚gilets jaunes’ face à leurs responsabilités“ (Antisemitismus: Die ‚Gelbwesten’ sind mit ihrer Verantwortung konfrontiert), in: Le Monde, 19. Februar 2019, S. 8f.
8 Lucie Soullier: „L’électorat du RN très perméable au complotisme“ (Die RN-Wählerschaft sehr durchlässig für Komplottismus), in: Le Monde, 21. Februar 2019, S. 9.
9 Jean-François Kahn: „ « Une autocritique des médias s’impose » “ (Eine Selbstkritik der Medien wird nötig), in: Le Monde, 4. Januar 2019, S. 21.
10 Gérard Courtois: „Macron toujours favori des européennes“ (Macron noch immer Favorit bei den Europawahlen), in: Le Monde, 26. Februar, S. 12.
(11): Pierre Dardot, Christian Laval: „Avec les gilets jaunes: contre la représentation, pour la démocratie“ (Mit den Gelbwesten: gegen die Repräsentation, für die Demokratie), in: Le blog de Les invités de Mediapart, 12. Dezember 2018, S. 3.

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Lou Marin lebt seit 2001 in Marseille. Er ist u.a. Autor der Zeitschrift „Graswurzelrevolution“. Publikationen u.a. über Albert Camus, Simone Weil, M.K. Gandhi, zuletzt über die Begegnung von Martin Buber und Dag Hammarskjöld.