Friedenspolitische Massnmobilisierung:

Ursachen für den Mobilisierungserfolg der Bewegung gegen die NATO-Nachrüstung

von Rüdiger Schmitt-Beck

250.000 Menschen auf den Straßen, um für gewaltfreie Lösungen der Golfkrise zu demonstrieren - eine solche friedenspolitische Massenmobilisierung hat es in der Bundesrepublik Deutschland seit den Protesten gegen den NATO-Doppelbeschluß nicht mehr gegeben. Hatte die Frie­densbewegung 1983 bis zu einer Million Anhänger aktivieren können, so war ihre Fähigkeit zur Massenmobilisierung seither kontinuierlich geschwunden, schien das baldige völlige Versiegen jeglicher Mobilisierungskapazität absehbar. Ob wir heute am Beginn eines neuen, dem damaligen vergleichbaren Aufschwungs der Friedensbewegung stehen, darüber läßt sich fundiert nur spekulieren, wenn man die Hintergründe kennt, die dafür verantwortlich waren, daß die Friedensbewegung der frühen 80er Jahre zur größten politischen Massenmobilisierung in der Geschichte der Bundesrepublik wurde.

In einer empirischen Untersuchung habe ich versucht, diese Hintergründe aufzu­decken. Im Folgenden will ich kurz ei­nige zentrale Ergebnisse zusammenfas­sen. Eine wesentliche Erkenntnisquelle der Studie waren repräsentative Bevöl­kerungsumfragen. Die Analyse der po­litischen Einstellungen der Anhänger der Friedensbewegung im Vergleich zu denjenigen Bevölkerungsgruppen, die ihr ablehnend oder gleichgültig gegen­überstanden, hat einige Mythen über die Friedensbewegung entkräftet. So schöpfte sie ihre Mobilisierungsenergie keineswegs primär aus der Furcht vor einem nuklearen Krieg. Gewiß, solche Ängste spielten durchaus eine Rolle, aber eine hinreichende Triebkraft konnten sie nicht sein. Vielmehr erweist sich die Friedensbewegung der frühen 80er Jahre im Kern als Aktivierung ei­nes vorher schon existierenden latenten Mobilisierungspotentials, das sich aus "postmaterialistischen", hochgebildeten Angehörigen der Nachkriegsgeneration zusammensetzte. Aufgrund spezifischer Sozialisationserfahrungen weist dieses Segment der Bevölkerung eine beson­dere Präferenz für eine Außenpolitik auf, die auf internationale Kooperation und Interessenausgleich anstelle von nationalstaatlicher Selbstbehauptung ge­richtet ist. Zur Regulierung der interna­tionalen Beziehungen präferiert diese Gruppe Vertrauen gegenüber der An­drohung oder Anwendung von Macht­mitteln. Schließlich weisen "Postmate­rialisten" eine ausgeprägt pa­zifistische und antimilitaristische Grundorientie­rung auf. Diese Einstellungsdispositionen machen die "Postmateri­alisten" - auch heute - prin­zipiell für friedenspolitische Bewegun­gen mobili­sierbar.

Besonders wirksam als Basis politischer Mobilisierung ist das beschriebene Ein­stellungsbündel, wenn es einhergeht mit einer generellen Entfremdung von den politischen Herrschaftsträgern. Zusätz­lich fördert Selbstvertrauen in die eigene politische Handlungskompetenz die Be­reitschaft zur aktiven politischen Betei­ligung. Die Friedensbewegung hat vor diesem Hintergrund von einer besonde­ren historischen Konstellation profitiert: Der Machtverlust der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982 hat die "Post­materialisten" unter den Sozialde­mokraten von dem Dilemma entlastet, durch Beteiligung an den Aktionen der Friedensbewegung eine von ihnen grundsätzlich unterstützte Bundesregie­rung angreifen zu müssen. Der neuerli­che Unterstützungsgewinn der Frie­densbewegung bis 1983 ist auf den jetzt ungehinderten Zustrom dieser Gruppe zurückzuführen. Die Friedensbewegung konnte nun sogar zum symbolischen Aktionsfeld aller mit der Kohl-Regie­rung und den Umständen des Macht­wechsels Unzufriedenen werden.

Ein zweiter Mythos über die Friedens­bewegung, welcher der empirischen Analyse nicht standhält, ist die "Gras­wurzelmobilisierung". Die Friedensbewegung war zwar alles andere als ein eingeschriebener Verein, gleichwohl war sie in erheblichem Umfang ein or­ganisiertes Gebilde. Sie setzte organi­satorische Verfestigungen voraus und brachte selber neue Strukturen hervor. Ganz im Sinne neuerer Theorien über die politische Mobilisierung von sozia­len Gruppen erweisen sich bereits exi­stierende Organisationen, Verbünde, so­gar Parteien und Parteigliederungen, aber auch weniger stark formalisierte Gruppen, Zirkel, Bürgerinitiativen, Dis­kussionskreise, Freundescliquen als Bausteine und Rückgrat der Massenbe­wegung. Einen substantiellen Anteil dieser Infrastrukturen bildeten organi­satorische Hinterlassenschaften der so­zialen Bewegungen der 70er Jahre, von alternativen Bildungsstätten bis hin zur Grünen Partei. Ohne das Grundgerüst dieses fein verästelte Netzwerks wäre eine so rapide, umfangreiche und relativ dauerhafte Massenmobilisierung nicht möglich gewesen - trotz allen basisde­mokratischen Unbehagens, das es des­wegen innerhalb der Friedensbewegung gegeben hat. Selbst ein gewisses Maß an zentraler Steuerung, das vor allem vom Bonner Koordinierungsausschuß aus­ging, war erforderlich, um der Gesamt­bewegung Ziel- und Handlungskohärenz zu verleihen.

Hinsichtlich der Aussichten für eine er­neute friedenspolitische Massenmobili­sierung ist sicherlich von Bedeutung, daß die Friedensbewegung der frühen 80er Jahre ihrerseits eine friedenspoliti­sche Infrastruktur hinterlassen hat, die als organisatorisches Gerüst für eine neue­ Aktivierung des "postmaterialisti­schen" latenten Mobili­sierungspotentials wirksam werden könnte. Diese Zeit­schrift ist ein Teil da­von.

Zum Weiterlesen:

Rüdiger Schmitt, Die Friedensbewe­gung in der Bundesrepublik Deutsch­land. Ursachen und Bedingungen der Mobilisierung einer neuen sozialen Bewegung, Opladen: Westdeutscher Ver­lag 1990, 338 S., DM 52,--.

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Rüdiger Schmitt ist Wiss. Mitarbeiter der Universität Heidelberg im Fachbe¬reich Po¬litische Wissenschaften