Die herrschende „Kulturelle Grammatik“ aufbrechen!

Was ist Kommunikationsguerilla?

von Boris Add Buster
Schwerpunkt
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Kommunikationsguerilla: Dieses Wort erfand 1998 die Autonome A.F.R.I.K.A.-Gruppe aus Tübingen als Marketing-Catchwort für ihr gleichnamiges Buch. „Guerilla": Das klang herrlich nach Abenteuer und Aufregung. Die inhaltliche Ausgangsfrage des damaligen Buches: „Warum hört uns keiner zu? Und das, obwohl wir so viele kluge Texte schreiben?“ Ihre These: Der Alltag der Menschen ist so entpolitisiert, dass linksradikale Politik erst einmal wieder eine Re-Politisierung des Alltages bewirken müsse, bevor man überhaupt argumentieren könne. Daher sei es nicht nur notwendig, linke Inhalte unter die Leute zu bringen. Damit es überhaupt Interesse an diesen gäbe, müsse man erst die von ihnen sogenannte „Kulturelle Grammatik" durcheinander wirbeln bis ändern. Dies könne eine „Kommunikationsguerilla" leisten.

Ein Blick nach rechts, ein Blick nach links, dann geht es los. Zwei Aktivist*innen stehen auf dem Mittelstreifen „Unter den Linden" am Brandenburger Tor. In ihren Händen haben sie Rohrsteckschlüssel und ein Citylight-Poster. Zügig verlassen sie den Sichtschatten eines Kiosks. Doch der Polizei-Posten an der Botschaft gegenüber schaut auf sein Handy statt auf die Straßenszene. Mit schnellen, gezielten Bewegungen öffnen die beiden Aktivist*as die Werbevitrine. In der Werbevitrine befindet sich ein Werbeplakat der Bundeswehr. Mit Sprühkleber befestigen sie auf dem Plakat einen Überkleber. Aus „Neugier auf Technik? Komm zur Bundeswehr.“ wird so blitzschnell „Neugier auf Morden? Komm zur Bundeswehr.“ Nach einer eleganten Drehung fällt der Blick der Aktivist*as auf den Polizeibeamten: Er schaut immer noch auf das Handy. Bevor der Cop wieder aufmerksam ist, sind beide Aktivist*as unerkannt entkommen. Die Aufkleber verzieren das gesamte Wochenende die Bundeswehr-Plakate in den Werbevitrinen der beliebtesten Flaniermeile Berlins.

Augenmerk auf der Praxis
Besonderes Augenmerk legten die Autor*innen des Handbuchs Kommunikationsguerilla auf damals ungewöhnliche Weise auf die Praxis. Die Gruppe analysierte, dass linksradikale Politik damals in den Medien deutlich anders repräsentiert war als heute. Die 90er Jahre nach der Wiedervereinigung waren eine Zeit der rassistischen Pogrome („Baseballschlägerjahre“). Dem gängigen Vorurteil widersprechend betraf dies auch Westdeutschland. Doch obwohl damals praktisch jeden Tag NSU war, äußerte die Regierung Verständnis für jed*e noch so deutsch*e Rassist*in, ohne dass Medien dies groß hinterfragten. Auch die vielen klugen linken Texte schienen daran nichts zu ändern.

Unter dem Marketing-Begriff schlugen sie verschiedenste Aktionen vor, die die Protestforschung sachlich unter dem Begriff „irritierende Protesttechniken" verortet: Adbusting und gefälschte Behördenschreiben dürften die Bekanntesten sein, aber auch Radioballett und Performances aller Art finden sich dort. Diesen Protestakten ist gemeinsam, dass sie versuchen, gegenüber herrschaftsförmigen Sprechakten subversiv zu wirken. Um das zu erreichen, nutzt die Kommunikationsguerilla das Wissen über die in der Kulturellen Grammatik zu findenden sozialen Regeln, um diese gegen die zu wenden, die normalerweise von diesen Regeln profitieren.

Die Verwendung des Begriffes Kommunikation verweist darauf, dass sich das Politische in Gesellschaften in Sprechakten zwischen Menschen konstituiere. Diese Sprechakte fänden nicht willkürlich statt, sondern unterliegen größtenteils informellen Regeln. Dieses informelle Regelwerk nennen sie Kulturelle Grammatik. Die Kulturelle Grammatik stellt durch Sozialisation Wissensschätze bereit, die es Menschen ermöglichen, in konkreten sozialen Situationen ein Verhalten an den Tag zu legen, dass als gesellschaftlich angemessen gilt.

Kapitalistische Ordnung in sozialen Praktiken
Leider leben wir im Kapitalismus. Kapitalismus durchzieht sämtliche Lebensbereiche, also auch die Kulturelle Grammatik. Kapitalismus sorgt u.a. dafür, dass gesellschaftliche Ressourcen nicht gleichberechtigt für alle Menschen zugänglich sind, und formt dadurch hierarchische Gesellschaften. Diese Regeln für den Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen und die Hierarchisierung der Gesellschaft bilden sich auch in der Kulturellen Grammatik ab und werden von ihr stabilisiert. Das wird u.a. an den Regeln in der Kulturellen Grammatik für die Fragen, wen man siezt und wen man duzt, sichtbar. Als höher gestellt gelesene Personen werden in der Regel gesiezt, als randständig wahrgenommene Personen werden in der Regel geduzt.

Wir reproduzieren damit die in der Kulturellen Grammatik kodierten Vorstellungen darüber, wie Politik gemacht werden sollte, und wer dafür zuständig ist. Diese Kulturelle Grammatik regelt nach wie vor, dass wichtige Menschen für Politik zuständig sind, und dass die Subalternen sich bitte an diese zu wenden haben. Direkte gleichberechtigte Kommunikation auf Augenhöhe ist dabei nicht vorgesehen. Die großen bundesweiten NGO-Demos in Berlin treffen sich samstags am Hauptbahnhof, um durchs am Wochenende menschenleere Regierungsviertel zu ziehen. Die Abschlusskundgebungen finden im urbanen Nirgendwo zwischen Tiergarten, Spree, Reichstag und Bundeskanzler*innenamt statt. Statt konkrete Menschen zu erreichen und z.B. eine Demo auf der anderen Seite des Hauptbahnhofes in Moabit zu formen, veranstalten wir unseren Protest an den (samstags menschenleeren) Orten der Macht.

Protest hat kulturelle Grammatik
Auch das Protesthandeln folgt also einer Kulturellen Grammatik, die Herrschaft reproduziert und stabilisiert. Deshalb fragen die Protagonist*innen der Kommunikationsguerilla nicht nur nach dem Was? von Politik, sondern auch nach dem Wie? des Politischen. Ziel dabei ist, Aktionsformen zu entwerfen, die nicht nur einen konkreten Inhalt fordern, sondern bei den Beteiligten auch Bewusstwerdungsprozesse über die hierarchischen Regeln der Gesellschaft anstoßen.

Denn neben der unterschwelligen Reproduktion und Stabilisierung von gesellschaftlichen Hierarchien bietet der Lese- und Interpretationsprozess, mit dem Menschen in gesellschaftlichen Situationen die jeweilige Kulturelle Grammatik erkennen, interpretieren und anwenden, aber auch subversives Potential für eine Veränderung der Gesellschaft.

Bedeutung ist veränderbar
Vermutlich läuft der Prozess des Entschlüsselns der Kulturellen Grammatik in drei Phasen ab, die Menschen normalerweise wie selbstverständlich und quasi nebenbei durchführen. Zuerst erfassen Menschen eine Situation und verhalten sich entsprechend zur Bedeutung der Situation. Ob eine Situation als interessant oder aufregend oder verängstigend wahrgenommen wird, prägt selbstverständlich das Verhalten von Personen. Ob eine Polizist*in als „Freund und Helfer“ oder staatlich bezahlte Gewalttäter*in wahrgenommen wird, hängt unter anderem von den Vorerfahrungen der Betroffenen ab. Handelt es sich um eine Person, die der als normal konstruierten Mehrheitsgesellschaft zugeschrieben wird, oder handelt es sich um eine Person, die von klein an erlebt hat, mit racial profiling und willkürlichen Kontrollen konfrontiert zu sein?

Weiter entsteht die Bedeutung der sozialen Situation durch soziale Interaktion mit anderen Menschen. Die Wahrnehmung hängt neben den Vorerfahrungen auch davon ab, ob ich eine*n angemessen respektvoll auftretende*n Polizist*in vor mir habe, oder die aufgepumpte mackerige Variante voller Testosteron.

Und letztlich werden die Bedeutungen durch einen interpretativen Prozess verändert, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Situationen benutzt. Das Erleben des ganz normalen (Gewalt-)Handelns der Polizei kann selbst absolut staatsgläubige Angehörige der Mehrheitsgesellschaft nachhaltig traumatisieren, während das Erleben eines Rückzuges von staatlichen Gewalttäter*innen angesichts entschlossener Aktivist*innen sehr ermächtigend sein kann.
Diese Möglichkeit der Veränderung von Bedeutungen ist der Ansatzpunkt für Kommunikationsguerilla. Hier kann Kommunikationsguerilla aufzeigen, dass das Aussehen dieser Welt von Menschen gemacht wurde. Und dass es deshalb vermessen ist, anzunehmen, dass Menschen nicht auch eine ganz andere Welt schaffen könnten. Hier kann Kommunikationsguerilla aufzeigen, dass alles auch ganz anders sein könnte.

Echt oder wahr?
Auf Berlins Flaniermeile sind die Adbuster*innen mit ihren Überklebern derweil längst weitergezogen. Eine Fotograf*in macht derweil Fotos von den überklebten Postern. Ein Paar mittleren Alters wird aufmerksam. Er: „Du Erna, guck ma, ist das echt?“ Erna schaut hin und antwortet nach kurzem Überlegen: „Nein, das ist nicht echt. Aber wahr!“

Mehr Infos:
Berlin Busters Social Club: Mega Unerhört! Adbustings mit Polizei und Militär. 2023. Zu beziehen im Shop der DFG-VK für 15 Euro: https://shop.dfg-vk.de/?product=buch-mega-unerhoert-adbustings-mit-poliz...
Fridolin: Kampagne gegen Reichtum. Neu-Edit 2020:
https://de.indymedia.org/node/170093
Tägschen, Dirk: Die Mischung machts! Aktionsmethoden kombinieren: Von Theater bis Militanz. Eine Einführung in Direct Action. Saasen 2003, https://projektwerkstatt.de/media/text/da_download_a5mischung.pdf

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Boris „Add“ Buster ist Gründungsmitglied des Berlin Busters Social Clubs. Laut Selbstbeschreibung »sammelt, kuratiert und archiviert« der Club »Mythen, Geschichten und Legenden« der Berliner Kommunikationsguerilla-Szene. 2020 veröffentlichte der Club das Buch „Mega Unerhört: Adbusting gegen die Gesamtscheiße“, das der Club bereits in über 100 Veranstaltungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz der Öffentlichkeit präsentieren durfte.