Was ist aus den Weltsozialforen geworden?

Weltsozialforen: Ein Blick zurück nach vorn

von Christian Schröder
Schwerpunkt
Schwerpunkt

„This is what democracy looks like!“ war einer der Sprechchöre, die von den 250.000 Menschen auf den Straßen von New York City beim globalen Klimastreik im Jahr 2019 zu hören waren – ein Zeugnis aus einer Zeit der globalisierungskritischen Bewegungen der Jahrtausendwende.

In dieser Zeit vor nunmehr zwanzig Jahren fand das erste Weltsozialforum (WSF) in Porto Alegre in Brasilien statt. Als ‚außergewöhnliches Treffen‘ mit über 10.000 Teilnehmer*innen wurde es etwa von einem der Zeitzeugen (1) beschrieben, auf dem es nicht darum ging, eine gemeinsame politische Plattform zu erarbeiten, die die Vielfalt der Teilnehmenden einschränken würde, sondern offen für alle zu sein, die daran interessiert sind, Erfahrungen auszutauschen, Solidarität aufzubauen, Alternativen zu durchdenken und über Strategien zur Erreichung gemeinsamer Ziele zu diskutieren. Der Slogan lautet bis heute unverändert: „Eine andere Welt ist möglich“. In ihm sowie in der Charta der Prinzipien des WSF, die vom Organisationskomitee des ersten Forums ausgearbeitet und auf der Veranstaltung selbst verabschiedet wurde, drückt sich die Entschlossenheit aus, für eine andere Welt gemeinsam einzustehen, „in der es keine Kriege und keine Gewalt gibt, in der die Menschen Freunde sind, in der es keine mörderische oder zumindest aufreibende Konkurrenz gibt, in der die natürliche Schöpfung geachtet wird, in der die Umwelt nicht ohne Rücksicht auf die Zukunft unseres Planeten ausgebeutet und zerstört wird.“ (2)

Das WSF erlangte mediale Aufmerksamkeit als zivilgesellschaftlicher Gegengipfel zum Weltwirtschaftsforum, einer Versammlung der einflussreichsten Menschen dieser Erde, die sich alljährlich im schweizerischen Davos treffen. Die in der Folge veranstalteten WSF-Events zogen immer mehr Teilnehmer*innen an. Im Jahr 2005 waren es sogar bis zu 150.000. Bis heute hat das WSF in Mumbai (Indien), Caracas (Venezuela), Nairobi (Kenia), Dakar (Senegal), Tunis (Tunesien) und Montreal (Kanada) stattgefunden. Zudem sind aus dem WSF andere transnationale Netzwerke, wie die Weltfrauenbewegung oder das Weltforum für freie Medien entstanden. Zahlreiche ‚Ableger‘, die sich an der Idee des ‚offenen Raumes‘, wie er in der Charta der Prinzipien beschrieben wird, orientieren, werden regional, national bis hin zur städtischen Ebene weltweit organisiert. So hat das WSF über zwei Jahrzehnte hinweg unzählige Menschen zusammengebracht, die bereit sind, ihre Erfahrungen und gemeinsamen Träume für eine bessere Welt zu teilen. (3)

Vom 23. bis 31. Januar 2021 feierte das WSF sein 20-jähriges Bestehen zum ersten Mal in einer rein virtuellen Ausgabe: Mit einem virtuellen Protestmarsch für Demokratie, Menschenrechte und die Zukunft des Planeten wurde das WSF im Jahr 2021, mit Videos von Organisationen, Statements von Aktivist*innen aus der ganzen Welt eröffnet. Etwa 6.000 Menschen und über 700 Gruppen aus 117 Ländern waren vertreten. Das virtuelle Format des WSF im Jahr 2021 ließ viele der Teilnehmenden über ihre Erfahrungen berichten, die sie auf den vergangen WSF-Event erlebt hatten. In den Erzählungen wurde betont, wie bereichernd persönliche Begegnung vor Ort sind, wie die Atmosphäre auf dem Event mit den unterschiedlichen Sprachen, musikalischen Eindrücken und unterschiedlichen Gerüchen eine ganz einmalige Stimmung verbreitet und wie das Gemeinschaftserleben auf den Veranstaltungen, das Gefühl stärkt, Teil einer globalen Zivilgesellschaft zu sein. Diese Erfahrung ist – so ein weitgehender Konsens in den abschließenden Diskussionen auf dem WSF 2021 – virtuell nicht in vergleichbarer Weise möglich. Umso mehr bestärkten sich die Teilnehmenden darin, dass angesichts der aktuellen Lage der Welt, das nächste gemeinsam geplante WSF in Mexiko im Jahr 2022 einen ganz bedeutsamen Stellenwert der Historie globalisierungskritischer Bewegungen einnehmen wird. Denn wie in den vergangenen zwei Jahrzehnten drängt auch heute angesichts der Corona-Pandemie, des Klimawandels und der sich weiter verschärfenden Ungleichheiten die Zeit, sich innerhalb der Zivilgesellschaft transnational zu vernetzen, um sich über Themen sozialer Gerechtigkeit auf Basis der Menschenrechte auszutauschen und gemeinsam politisch aktiv zu werden.

Anmerkungen
1 Fisher, William H. (2001): A Different World is Possible: The World Social Forum. In: Anthropology News 42 (5), S. 54–55. DOI: 10.1111/an.2001.42.5.54.2.
2 Whitaker, Francisco (2007): Das Weltsozialforum. Offener Raum für eine andere Welt. Hamburg: VSA-Verlag.
3 Schröder, Christian (2015): Das Weltsozialforum. Eine Institution der Globalisierungskritik zwischen Organisation und Bewegung. Bielefeld: transcript Verlag (Global Studies). Online verfügbar unter https://ww

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Christian Schröder ist Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes in Saarbrücken und Autor des Buchs: „Das Weltsozialforum. Eine Institution der Globalisierungskritik zwischen Organisation und Bewegung“. Kontakt: christian.schroeder@htwsaar.de