Wie Saddam Hussein im Jahr 2004 zum Entwicklungshilfeempfänger wurde

von Jürgen Kaiser

Das hätte sich der gefangengesetzte Diktator wohl nicht träumen lassen: Ende 2004 wurde er rückwirkend zu einem der größten Entwicklungshilfeempfänger der Welt: Kredite, welche westliche und östliche Exporteure in den achtziger Jahren für Krankenhäuser und Straßen, für Waffen und marmorne Kloschüsseln in seinen Palästen gewährt hatten, verwandeln sich im nachhinein in Entwicklungshilfeleistungen.

Wie das?
Mitte November verhandelten im so genannten "Pariser Club" die Gläubigerregierungen mit der irakischen Übergangsregierung über die seit rund zwei Jahrzehnten nicht mehr bedienten Schulden aus der Saddam-Zeit. Aus politischen Gründen, und weil sie selbst andernfalls den Wiederaufbau weitgehend aus eigener Tasche zahlen müssen, drängten die USA auf eine nahezu vollständige Streichung der Altschulden. Deutschland, Frankreich und Russland waren dagegen nur bereit, bis zu 50% zu erlassen. Im Ergebnis wurde ein Verzicht von 80% vereinbart, welcher in drei Stufen gewährt werden soll: 30% Erlass gibt es sofort, das heißt nach Unterzeichnung der notwendigen Regierungsabkommen voraussichtlich im Jahr 2005. Weitere 30% werden nach Unterzeichnung eines Abkommens des Irak mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) gewährt. Das könnte ebenfalls im Jahr 2005, vielleicht aber auch erst 2006 stattfinden. Die letzten 20% schließlich werden gestrichen, wenn das Abkommen mit dem IWF drei Jahre lang minutiös erfüllt worden ist, also etwa 2008.

Insgesamt wurden von allen Mitgliedern des Clubs knapp 40 Mrd. der insgesamt 120 Mrd. US-$ auf diese Weise umgeschuldet bzw. erlassen. Deutschland ist mit Forderungen von 5,9 Mrd. dabei. Davon entfallen zwei Milliarden auf die eigentlichen deutschen Exporteure, während 3,9 Mrd. Eigentum des Bundes sind. Dieser hatte nämlich, nachdem Saddam in den achtziger Jahren seine Rechnungen nicht bezahlt hatte, die deutschen Exporteure über die Hermes Kreditversicherungs AG entschädigt und war damit Eigentümer der ursprünglich privaten Forderungen geworden.

Wenn solche Forderungen dann im Pariser Club teilweise erlassen werden, weil sie - wie im Fall des Irak - absolut nicht einzutreiben sind, rechnen die Regierungen diesen Erlass auf ihre Entwicklungshilfeleistungen an. Sie begründen dies damit, dass es sich schließlich um eine geldwerte Leistung handelt, welche dem Empfängerland zugute gekommen ist. In den vergangenen Jahren haben diese zusätzlichen "Transfers" bereits mitgeholfen, die bescheidene deutsche ODA-Quote (,Official Development Aid" = Entwicklungshilfe), nicht ganz so erbärmlich aussehen zu lassen, wie sie tatsächlich war. Rund 3,5 Mrd. weist der Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) in diesem wie im kommenden Jahr aus und dümpelt damit unterhalb von 0,3% des jährlichen Bruttosozialprodukts. Nicht mal die Hälfte der bereits in den siebziger Jahren versprochenen 0,7% werden somit erreicht. Und selbst die bei der UNO-Konferenz über Entwicklungsfinanzierung in Monterrey 2002 versprochenen 0,33% im Jahr 2006 sind vorläufig nicht in Reichweite.

Gerade das wird sich aber schlagartig ändern: Die Bundesregierung erlässt dem Irak im Rahmen des Pariser Abkommens insgesamt 3,1 Mrd.. Die ersten beiden Tranchen machen je 1,1 Mrd. aus. Wird je eine davon in den Haushaltsjahren 2005 und 2006 wirksam, erhöht sich die Entwicklungshilfeleistung des Bundes schlagartig um fast ein Drittel. Das heißt: relativ zum Bruttosozialprodukt wird eine Quote in der Nähe von 0,4% erreicht werden. Keine schlechte Fügung in einem Wahljahr für eine Bundesregierung, die einst angetreten war, das Schattendasein der Entwicklungspolitik unter der Kohl-Regierung zu überwinden. Und wer in der UNO Unterstützung für seine Forderung nach einem Ständigen Sitz im Sicherheitsrat möchte, steht gegenüber der Mehrheit der armen Länder auch etwas besser da, wenn er seine vor eben dieser UNO gemachten feierlichen Verpflichtungen sogar ein bisschen übererfüllt.

Nun handelt es sich unter gleich drei Aspekten bei dieser Art von Schuldenstreichung um eine höchst seltsame Art von Entwicklungshilfe:

Erstens: Was wurde mit dieser Hilfe eigentlich entwickelt?
Die deutschen Exporte, die zu marktüblichen Konditionen, d.h. international üblichen Zinsen zusätzlich einem saftigen Aufschlag für den im Krieg befindlichen Risikoschuldner Irak, vergeben worden waren, wurden zum größten Teil von der deutschen Bauindustrie geleistet. Straßen wurden gebaut, Infrastruktureinrichtungen, sogar ein Krankenhaus, ein Flughafen, und allerlei weitere Maschinen und Verbrauchsgüter, die im Zusammenhang dieser Projekte gebraucht wurden, gingen in den Irak. Gerade der Bereich der baulichen Infrastruktur ist ein klassischer "Dual Use"-Bereich: Auf den mit deutschem Geld von deutschen Firmen gebauten Straßen rollte der zivile Verkehr ebenso wie Saddams Panzer. In wenigstens drei Fällen besteht allerdings der begründete Verdacht, dass deutsche Unternahmen auch an der Ausrüstung des irakischen Militärs beteiligt gewesen sind. Bei anderen Gläubigern liegt der Fall noch eindeutiger: Russlands und Frankreichs Lieferungen an den Diktator bestanden sogar überwiegend aus militärischer Ausrüstung. Es wäre unmöglich, solche Leistungen nach den Kriterien der in dieser Frage maßgeblichen OECD im Moment der Lieferung als Entwicklungshilfe zu deklarieren. Auf dem Umweg über den kommerziellen Kredit und die anschließende Schuldenstreichung geht es schließlich doch.

Zweitens: Wer wurde mit dieser Hilfe eigentlich entwickelt?
Der erste, der nach dem Sturz des Diktators eine vollständige Streichung der Saddam-Schulden forderte, war der amerikanische Präsidentenberater Paul Wolfowitz. Er verwies dabei auf die Doktrin der "Odious Debts" (,Anrüchige Schulden"); diese besagt, dass bestimmte Schulden unabhängig von ihrer Bezahlbarkeit nicht eingetrieben werden dürfen, wenn die Kredite gegen den Willen der betroffenen Bevölkerung aufgenommen wurden, diese von ihnen keinen Nutzen hatte und beides den Kreditgebern bekannt war. Auf einen großen Teil der irakischen Auslandsschulden wäre die Doktrin im Prinzip anwendbar.

Schließlich hat die Saddam-Diktatur, welche unter anderem durch die Finanzierungen aus Deutschland und den anderen Gläubigerländern an der Macht gehalten wurde, nicht nur die Bevölkerungen der überfallenen Staaten Iran und Kuwait zu Opfern des ersten und des zweiten Golfkriegs gemacht. Zuallererst waren es die einfachen Iraker/innen, die unter Krieg und Repression zu leiden hatten. Die dabei geleistete Mithilfe der westlichen und östlichen Industrieländer im Nachhinein als Hilfe zur Entwicklung zu deklarieren, fügt dem Schaden auch noch den Spott hinzu.

Drittens: Wird eigentlich auf etwas verzichtet?
Der Irak ist natürlich nicht der erste Fall, in dem so verfahren wird. Die von den Herren Somoza (Nicaragua), Mengistu (Äthiopien), Banzer (Bolivien) und vielen anderen aufgehäuften Schulden, wurden ebenso abgeschrieben und entsprechend umdeklariert. Das war zumeist weniger spektakulär, weil es insgesamt um erheblich geringere Summen ging, und weil nicht über wenige Jahre Milliardenbeträge ausfielen. Da der Irak seit 1980 praktisch keine Zahlungen mehr geleistet hatte, ein großer Teil der Forderungen daher überdies aus Zinseszinsen bestand, wurden gewaltige Beträge in so wenigen Raten fällig.

Wer darob nun annimmt, der Bundesfinanzminister sähe mit Sorgen in ein weiteres abgründiges Etatloch, hört überraschend beruhigende Töne aus dem Finanzministerium. "Keine Panik!", heißt es. Die Forderungen an den Irak seien ohnehin als uneinbringbar abgeschrieben. Und in der Tat: Einnahmeerwartungen aus dem Irak weist schon seit Jahren kein Bundeshaushalt mehr auf. Vernünftigerweise. Schließlich entspringt auch der in Paris vereinbarte Erlass nicht besonderer Menschenfreundlichkeit gegenüber dem geschundenen irakischen Volk oder auch nur der besonderen Sympathie mit der gegenwärtigen von den USA eingesetzten Übergangsregierung. Vielmehr ist er der Einsicht geschuldet, dass man einem nackten Mann beim besten Willen nicht in die Tasche packen kann. Für die Bundesregierung bedeutet dies: die willkommene Erhöhung der ODA-Quote erhält sie haushaltstechnisch zum Nulltarif.

Was sollte also geändert werden?
Es liegt nahe, an dieser Stelle eine Änderung der Anrechnungsregeln der OECD zu fordern, um eine solche widersinnige Konstellation künftig zu verhindern. Dazu wäre es unerlässlich, auch die Qualität der bestehenden Forderungen unter die Lupe zu nehmen. Schuldenerlass ist schließlich eine durchaus sinnvolle Form des Mitteltransfers von Nord nach Süd - vorausgesetzt die ursprünglichen Kredite haben den betreffenden Volkswirtschaften genützt und nicht geschadet.

Eine solche Differenzierung kann aber nicht geschehen, solange die Gläubiger allein über das "ob", "wie" und "wie viel" von Erlassen entscheiden. Über Schulden darf nicht länger in den abgeriegelten Hinterzimmern des "Pariser Clubs" verhandelt werden, sondern vor einer neutralen Instanz - etwa vor einem Schiedsgericht. Dies ist seit langem eine Forderung des deutschen Entschuldungsbündnisses "erlassjahr.de" und der weltweiten "Jubilée"-Bewegung. Im konkreten irakischen Fall hatte genau dies auch das irakische Übergangsparlament gefordert, nachdem die Pariser Verhandlungen der Illegitimität der Saddam-Schulden überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt hatten.

Die finanzielle Zusammenarbeit mit Herrschern vom Schlage Saddams muss bestraft und nicht durch solche Anrechnungstricks auch noch belohnt werden. Wenn das gelänge, wäre das nicht nur eine gute Nachricht für die potenziellen Opfer der Diktaturen. Es wäre auch eine gute Nachricht für die Entwicklungshilfeministerin, deren Erfolgsbilanz von solchen zweifelhaften Aktivposten bereinigt würde; und für diejenigen Menschen, denen Entwicklungshilfe eigentlich zugute kommen soll.

 

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Hintergrund
Jürgen Kaiser arbeitet in der Erlassjahr-Kampagne.