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Eine Polemik gegen den (bundes)deutschen Hang zu "besonderer Verantwortung"
Wir kennen keine Geschichte mehr, wir kennen nur noch Missionen...
vonÜberall begegnet uns, ob rechts oder links, in Parteien oder Bewegungen, die Rede von der bundes-, meist sogar schlichter: von der deutschen Besonderheit. Die geläufigste Form dieser historisch-politischen Sonderration ist die Betonung einer "besonderen deutschen Verantwortung". Die Zuständigskeitsbereiche variieren beträchtlich, Einigkeit aber besteht - lagerübergreifend - im Missionsdenken. Da kann es sich um die "deutsche Einheit" handeln, die bundesdeutschem Verantwortungsbewußtsein anheimgegeben sei (Präambel des Grundgesetzes). Genauso gut bezieht sich das Vormundschaftsverlangen auf Europa, wahlweise auf "Mitteleuropa" oder auf die Gestaltung EG-Europas. Werner Weidenfeld etwa, langjähriger Kanzlerberater und jetziger Koordinator der deutsch-amerikanischen Beziehungen, sprach davon, daß es die bundesdeutsche Staatsräson gebiete, "europäische Führungsimpulse" freizusetzen. Ist die Friedensbewegung von solchen Anwandlungen so ganz frei? - Immer wieder ist auch dort die Rede von der "besonderen" deutschen Verantwortung für den Frieden, von der Aufforderung, es "müsse" etwas vom "deutschen Boden ausgehen" - Frieden nämlich. Solche Sprach- und Denkformen, sie mögen ganz unverdächtig sein, verbinden sich zwanglos mit der These, die Deutschen hätten ein "besonderes Verhältnis" zu ihrer Vergangenheit...
An alledem wäre viel Wahres, wenn sich nicht untergründig ein altbekannter Akzent in diese Sprache mischte. Der Kern deutscher Besonderheit, ganz ohne Anführungszeichen, war in den letzten 200 Jahren das Abweichen von den demokratischen Normen, die sich das übrige Europa in Revolutionen und Kämpfen erarbeitete. Hierzulande blieb die bürgerliche Revolution aus. Die Gründung des (angeblichen) Nationalstaats wurde mit "Blut und Eisen" vollzogen, mittels einer "realpolitischen" Zufallsgründung von großpreußischer-kleindeutscher Dimension. Resultat dieses Gründungsaktes war die Unterdrückung der ethnischen (polnischen, dänischen, elsässischen und lothringischen) und der politischen (sozialdemokratischen, katholischen usw.) Minderheiten im inneren und der Aufbruch zum zweimaligen "Griff nach der Weltmacht" nach außen. Genozid und Vernichtungskrieg standen am Ende des deutschen Sonderwegs, in dessen Verlauf die so mühsam wie willkürlich zusammengestoppelte "Reichs"substanz gründlich aufgezehrt wurde.
Besondere Verantwortung?
"Besondere Verantwortung" wahrzunehmen, das hieß hierzulande noch stets, universalistischen Normen (Menschenrechten) und republikanischer Normalität enthoben zu sein und in einer Art permanentem Ausnahmenzustand zu leben. Die Definition sogenannter "Realpolitik", dieser Inbegriff ausgewogenen (bundes)deutschen Staatshandelns, als einer "Kunst des Möglichen", erhält ihre Pointe erst durch das, was damit nicht ausgesprochen wird: denn im Zweifelsfall ist "alles möglich", sind Verträge ein Fetzen Papier (neudeutsch: "Modus vivendi") - "Not kennt kein Gebot" (Bethmann-Hollweg anläßlich des deutschen Einmarsches in das neutrale Belgien). Noch heute werden etwa von Michael Stürmer oder auch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Entstehungsbedingungen der beiden Weltkriege "sinnverstehend nachvollzogen als zweimalige Versuche des 'Ausbruchs' aus der verhängnisvollen Mittellage" (früher nannte man das die Einkreisungsangst der Deutschen). Wie auch immer, die rigide Trennung von Politik und Recht (von Moral nicht zu reden) war eine der Konsequenzen deutschen "Sendungsbewußtseins".
So mußte es nach 1945 doch um nichts anderes gehen, als Deutschland "in den Kreis der Völker zurückzuführen" (so eine Formulierung des Potsdamer Abkommes). Um das deutsche Problem stillzulegen, war die Einbindung in internationale Verträge, Bündnisse und Kontrollgremien unerläßlich. Die "doppelte Lösung der deutschen Frage" (Wilfried Loth, "Blätter für deutsche und internationale Politik", 1/1989) mittels Zweistaatlichkeit war eines der wichtigsten Ergebnisse europäischer Gleichgewichts- und Sicherheitspolitik.
Neudeutsche Besonderheit?
Damit wäre die "deutsche Besonderheit" eigentlich an ihr Ende mit Schrecken gekommen. Aber ganz so "bedingungslos", wie die Alliierten die Kapitulation gefordert und durchgesetzt hatten, wurde sie hierzulande nicht angenommen. Nach dem Motto "deutsch sein, heißt offen sein" wurde die sogenannte deutsche Frage für ungelöst und damit zum Grundstein neudeutscher Besonderheit erklärt. Und auch im Alltagsverstand gelang Normalisierung nur bedingt. Rückblicken machte Alexander Mitscherlich auf ein Motiv des gekränkten deutschen Narzismus aufmerksam: "Der demokratische Wandel nach dem Krieg hat viele Deutsche zwar aus der persönlichen Verantwortung für die Verbrechen entlassen, ... aber den Zwang zu eine Art auserwählter Verantwortung fortbestehen lassen." (Interview, TAZ vom 23. 9. 1983) Dieser Denkstil ist alles andere als überholt. In den Gedenkreden zum 8. Mai oder 1. September hört man immer wieder die folgende rhetorische Figur: unermeßliches Leiden haben wir, die Deutschen, den anderen zugefügt, aber (das symptomatische 'aber') am Schluß - so in der Worten Weizsäckers in jener vielgerühmten Rede - "am Schluß blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden, das eigene, das deutsche Volk." Spätestens an dieser Stelle kippt die Rede von Mitleid in Selbstmitleid, um dann - aus der Talsohle des Leidens gewissermaßen - mit neudeutscher Überheblichkeit zu vollenden: wer soviel durchgemacht hat wie "wir", der hat auch Anspruch, besonderes Gehör zu finden...
Selbst nicht die Anerkennung der Singularität des Völkermords an den europäischen Juden, von Kohl nach langem Zögern formuliert und als "Sieg" im Historikerstreit begrüßt, ist nicht davor gefeit, dem penetranten Anspruch auf "besondere deutsche Verantwortung" dienstbar gemacht zu werden. Im Lichte der NS-Verbrechen scheinen dann die "deutschen Besonderheiten" schier unermeßlich: man zehrt noch vom Feuer der Verbrennungsöfen, um sich ins rechte Licht zu setzen...
Schlachtfeld Deutschland
Inzwischen wird dieses "geschichtspolitische" Argument von einem weiteren untermauert. Neben die "historischen Lehren" tritt das Axiom von den geopolitischen Besonderheiten der deutschen "Mittellage". Der Friedensbewegung ist dies Argument ja so unbekannt nicht, wenn etwa vom "Schlachtfeld Europa" die Rede war oder man sich ein einem neuen "Deutschen Opferkollektiv" wähnte, das von den "Supermächten" unterjocht werden. Was lag (liegt?) da näher, als die geschwinde Kettenbildung "Auschwitz - Hiroshima - Euroshima"? Mußte die Alternativ-Mission, die da neutralistisch vorgetragen wurde, nicht Irritationen wecken? Kann man damit rechnen, daß die deutsch-deutsche "Verantwortungsgemeinschaft" (so groß ihr Stellenwert für Konfliktlösungen auch ist!) nur auf Begeisterung stößt? Muß immer irgendetwas "von deutschem Boden ausgehen"?
Wäre nicht schon viel gewonnen, wenn man von der Besonderheits- und Verantwortungs-Rhetorik Abschied nähme und sich - statt auf neue Missionen - wieder der Gegenwart zuwendete? Das Geschäft, sich in demokratische Normen und republikanische Normalität einzuleben ist schwierig genug. Vielleicht haben wir uns inzwischen lange genug über Kohl's Gnade der späten Geburt" erregt, um zumindest eine Botschaft (gleichgültig, ob der Redner sie intendierte oder nicht) beim Wort nehmen zu können: die Aufforderung an die Spätgeborenen, mit Sonderbewußtsein und Betroffenheitsrhetorik - sei's aus (Un)taten, sei's aus Leiden - endlich einmal Schluß zu machen. Oder "brauchen" wir Holocaust und Apokalypse zur Dramatisierung unserer Biographie, zur Erlösung vom Alltag, zur Suggestion einer Opferrolle, zur Flucht vor den Depressionen der Mittelmäßigkeit...?