Eine Polemik gegen den (bundes)deutschen Hang zu "besonderer Verantwortung"

Wir kennen keine Geschichte mehr, wir kennen nur noch Missionen...

von Klaus Naumann

Überall begegnet uns, ob rechts oder links, in Parteien oder Bewegungen, die Rede von der bundes-, meist sogar schlichter: von der deutschen Besonderheit. Die geläufigste Form dieser historisch-politischen Sonderration ist die Betonung einer "besonderen deutschen Verantwortung". Die Zuständigskeitsbereiche vari­ieren beträchtlich, Einigkeit aber besteht - lagerübergreifend - im Missionsden­ken. Da kann es sich um die "deutsche Einheit" handeln, die bundesdeutschem Verantwortungsbewußtsein anheimgegeben sei (Präambel des Grundgesetzes). Genauso gut bezieht sich das Vormundschaftsverlangen auf Europa, wahlweise auf "Mitteleuropa" oder auf die Gestaltung EG-Europas. Werner Weidenfeld etwa, langjähriger Kanzlerberater und jetziger Koordinator der deutsch-ameri­kanischen Beziehungen, sprach davon, daß es die bundesdeutsche Staatsräson gebiete, "europäische Führungsimpulse" freizusetzen. Ist die Friedensbewegung von solchen Anwandlungen so ganz frei? - Immer wieder ist auch dort die Rede von der "besonderen" deutschen Verantwortung für den Frieden, von der Auffor­derung, es "müsse" etwas vom "deutschen Boden ausgehen" - Frieden nämlich. Solche Sprach- und Denkformen, sie mögen ganz unverdächtig sein, verbinden sich zwanglos mit der These, die Deutschen hätten ein "besonderes Verhältnis" zu ihrer Vergangenheit...

An alledem wäre viel Wahres, wenn sich nicht untergründig ein altbekannter Akzent in diese Sprache mischte. Der Kern deutscher Besonderheit, ganz ohne Anführungszeichen, war in den letzten 200 Jahren das Abweichen von den demokratischen Normen, die sich das übrige Europa in Revolutio­nen und Kämpfen erarbeitete. Hier­zulande blieb die bürgerliche Revolu­tion aus. Die Gründung des (angebli­chen) Nationalstaats wurde mit "Blut und Eisen" vollzogen, mittels einer "re­alpolitischen" Zufallsgründung von großpreußischer-kleindeutscher Di­mension. Resultat dieses Gründungs­aktes war die Unterdrückung der eth­nischen (polnischen, dänischen, elsäs­sischen und lothringischen) und der politischen (sozialdemokratischen, katholischen usw.) Minderheiten im inneren und der Aufbruch zum zwei­maligen "Griff nach der Weltmacht" nach außen. Genozid und Vernich­tungskrieg standen am Ende des deut­schen Sonderwegs, in dessen Verlauf die so mühsam wie willkürlich zusam­mengestoppelte "Reichs"substanz gründlich aufgezehrt wurde.

Besondere Verantwortung?
"Besondere Verantwortung" wahrzu­nehmen, das hieß hierzulande noch stets, universalistischen Normen (Menschenrechten) und republikani­scher Normalität enthoben zu sein und in einer Art permanentem Ausnah­menzustand zu leben. Die Definition sogenannter "Realpolitik", dieser Inbe­griff ausgewogenen (bundes)deutschen Staatshandelns, als einer "Kunst des Möglichen", erhält ihre Pointe erst durch das, was damit nicht ausgespro­chen wird: denn im Zweifelsfall ist "alles möglich", sind Verträge ein Fet­zen Papier (neudeutsch: "Modus vivendi") - "Not kennt kein Gebot" (Bethmann-Hollweg anläßlich des deutschen Einmarsches in das neutrale Belgien). Noch heute werden etwa von Michael Stürmer oder auch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Entstehungsbedingungen der bei­den Weltkriege "sinnverstehend nach­vollzogen als zweimalige Versuche des 'Ausbruchs' aus der verhängnisvollen Mittellage" (früher nannte man das die Einkreisungsangst der Deutschen). Wie auch immer, die rigide Trennung von Politik und Recht (von Moral nicht zu reden) war eine der Konsequenzen deutschen "Sendungsbewußtseins".

So mußte es nach 1945 doch um nichts anderes gehen, als Deutschland "in den Kreis der Völker zurückzuführen" (so eine Formulierung des Potsdamer Ab­kommes). Um das deutsche Problem stillzulegen, war die Einbindung in in­ternationale Verträge, Bündnisse und Kontrollgremien unerläßlich. Die "doppelte Lösung der deutschen Frage" (Wilfried Loth, "Blätter für deutsche und internationale Politik", 1/1989) mittels Zweistaatlichkeit war eines der wichtigsten Ergebnisse euro­päischer Gleichgewichts- und Sicher­heitspolitik.

Neudeutsche Besonderheit?
Damit wäre die "deutsche Besonder­heit" eigentlich an ihr Ende mit Schrecken gekommen. Aber ganz so "bedingungslos", wie die Alliierten die Kapitulation gefordert und durchge­setzt hatten, wurde sie hierzulande nicht angenommen. Nach dem Motto "deutsch sein, heißt offen sein" wurde die sogenannte deutsche Frage für un­gelöst und damit zum Grundstein neu­deutscher Besonderheit erklärt. Und auch im Alltagsverstand gelang Normalisierung nur bedingt. Rückblicken machte Alexander Mitscherlich auf ein Motiv des gekränkten deutschen Nar­zismus aufmerksam: "Der demokratische Wandel nach dem Krieg hat viele Deutsche zwar aus der persönlichen Verantwortung für die Verbrechen entlassen, ... aber den Zwang zu eine Art auserwählter Verantwortung fort­bestehen lassen." (Interview, TAZ vom 23. 9. 1983) Dieser Denkstil ist alles andere als überholt. In den Gedenkre­den zum 8. Mai oder 1. September hört man immer wieder die folgende rhetorische Figur: unermeßliches Lei­den haben wir, die Deutschen, den an­deren zugefügt, aber (das symptomati­sche 'aber') am Schluß - so in der Worten Weizsäckers in jener vielge­rühmten Rede - "am Schluß blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, ge­knechtet und geschändet zu werden, das eigene, das deutsche Volk." Späte­stens an dieser Stelle kippt die Rede von Mitleid in Selbstmitleid, um dann - aus der Talsohle des Leidens gewis­sermaßen - mit neudeutscher Über­heblichkeit zu vollenden: wer soviel durchgemacht hat wie "wir", der hat auch Anspruch, besonderes Gehör zu finden...

Selbst nicht die Anerkennung der Sin­gularität des Völkermords an den eu­ropäischen Juden, von Kohl nach lan­gem Zögern formuliert und als "Sieg" im Historikerstreit begrüßt, ist nicht davor gefeit, dem penetranten An­spruch auf "besondere deutsche Ver­antwortung" dienstbar gemacht zu werden. Im Lichte der NS-Verbrechen scheinen dann die "deutschen Beson­derheiten" schier unermeßlich: man zehrt noch vom Feuer der Verbren­nungsöfen, um sich ins rechte Licht zu setzen...

Schlachtfeld Deutschland
Inzwischen wird dieses "geschichtspo­litische" Argument von einem weiteren untermauert. Neben die "historischen Lehren" tritt das Axiom von den geopolitischen Besonderheiten der deut­schen "Mittellage". Der Friedensbewe­gung ist dies Argument ja so unbe­kannt nicht, wenn etwa vom "Schlachtfeld Europa" die Rede war oder man sich ein einem neuen "Deutschen Opferkollektiv" wähnte, das von den "Supermächten" unterjocht wer­den. Was lag (liegt?) da näher, als die geschwinde Kettenbildung "Auschwitz - Hiroshima - Euroshima"? Mußte die Alternativ-Mission, die da neutrali­stisch vorgetragen wurde, nicht Irrita­tionen wecken? Kann man damit rech­nen, daß die deutsch-deutsche "Ver­antwortungsgemeinschaft" (so groß ihr Stellenwert für Konfliktlösungen auch ist!) nur auf Begeisterung stößt? Muß immer irgendetwas "von deutschem Boden ausgehen"?

Wäre nicht schon viel gewonnen, wenn man von der Besonderheits- und Verantwortungs-Rhetorik Abschied nähme und sich - statt auf neue Missionen - wieder der Gegenwart zuwen­dete? Das Geschäft, sich in demokrati­sche Normen und republikanische Normalität einzuleben ist schwierig genug. Vielleicht haben wir uns inzwi­schen lange genug über Kohl's Gnade der späten Geburt" erregt, um zumin­dest eine Botschaft (gleichgültig, ob der Redner sie intendierte oder nicht) beim Wort nehmen zu können: die Aufforderung an die Spätgeborenen, mit Sonderbewußtsein und Betroffen­heitsrhetorik - sei's aus (Un)taten, sei's aus Leiden - endlich einmal Schluß zu machen. Oder "brauchen" wir Holo­caust und Apokalypse zur Dramatisie­rung unserer Biographie, zur Erlösung vom Alltag, zur Suggestion einer Op­ferrolle, zur Flucht vor den Depressio­nen der Mittelmäßigkeit...?

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Dr. Klaus Naumann ist Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik", Köln.