Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki- Gedenkveranstaltung am 6. August 2020 in Berlin

 

- Es gilt das gesprochene Wort –

 

Sehr geehrte Gäste, liebe Friedensfreund*innen,

In den letzten Tagen habe i ch wieder viele Geschichten von Menschen gelesen, die die schrecklichen Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki vor 75. Jahren überlebt haben. Einige von Ihnen hier werden das gleiche getan haben. Da i st zum Beispiel die Geschichte von Fujio Torikoshi, der elf Jahre alt war, als ihm die Atombombe über Hiroshima den Körper verbrannte. Fujio wurde nach langem Fieberkampf gesagt, er habe höchstens noch neun Jahre zu leben. Das er heute 86 ist, grenzt an ein Wunder. Fujio ist einer von hunderttausenden, deren Leben an jenem Tag ausgelöscht oder für immer verändert wurde. Viele wurden zu Weisen, mussten auch nach dem Atombombenangriff noch ums Überleben kämpfen. Als i ch diese Geschichten las - und vielleicht ging es Ihnen ähnlich - ging mir eine Frage nicht aus dem Kopf: Was bedeutet es hier und heute an der Seite dieser Menschen zu stehen? Was bedeutet es für uns, an der Seite der Betroffenen zu sein?

Natürlich, da ist zum einen das Gedenken, das Erinnern. Das, was wir diese Woche besonders tun. Wir erinnern an die Schrecken des Krieges, an die Toten, die Überlebenden. Wir stehen symbolisch hier an der Friedensglocke, wie die Überlebenden heute morgen i n Hiroshima an der Friedensglocke standen. Doch ist das genug? Ich meine nein, denn wir müssen auch über Hiroshima und Nagasaki hinaus schauen. Zum Beispiel auf die Schauplätze der Atomwaffentests und der Ressourcennutzung.

Auf den Marshall Inseln, zum Beispiel, sind die Spuren der 106 amerikanische Atomwaffentests vor über 60 Jahren noch immer sichtbar. Ganze Inselgruppen wurden für Jahrzehnte unbewohnbar gemacht - eine Insel soll regelrecht verdampft sein. Andere Bereiche wurden für die nächsten 2400 Jahre zum Sperrgebiet erklärt. Ein Teil der kontaminierten Runit Insel musste mit einem 8m hohen Betonsarg versiegelt werden. Die Kinder auf den Marshall Inseln wachsen mit dem Wissen um die Strahlung und darüber auf, dass i hre Eltern und Großeltern einst von ihren Heimatinseln vertrieben wurden, um diese Tests zu ermöglichen. Und sie wachsen mit dem politischen Kampf auf, den Hibakusha der Marshall Inseln Anerkennung, Entschädigung und Respekt zu erstreiten.

Ein anderes Beispiel Ist die Provinz Saskatchewan in Kanada. Der Uranabbau in der Region deckt heute noch 20% des weltweiten Bedarfs. In den 1950er Jahren wurde dort insbesondere auch Uran für Atomwaffen gefördert. Der Uranabbau zerstört auch heute noch die Lebenswelt der Dene und anderer indigener Bevölkerungsgruppen, die dort seit Jahrtausenden leben und von denen heute einige gegen den Uranabbau kämpfen. Ja, mit den Betroffenen von Hiroshima zu stehen heißt, ihrer zu gedenken. Es heißt aber auch, sich an jene Betroffene von Atompolitik zu erinnern, die l eicht vergessen werden und ihre Führungsrolle in nuklearer Abrüstung muss verstärkt anzuerkennen. Der 2017 von den Vereinten Nationen verabschiedete Atomwaffenverbots-Vertrag zum Beispiel, wurde maßgeblich von atomwaffenfreien Staaten und Akteur*innen, die unter der globalen Nuklearwaffenpolitik leiden, vorangebracht.

Und das bringt mich zum zweiten Punkt. Mit den Betroffenen zu stehen heißt: diverse Stimmen anzuerkennen und in die Debatte einzubeziehen. Über Krieg und Frieden darf nicht mehr nur in Runden der sprichwörtlichen “alten weißen Männer”  entschieden werden. Frauem, zum Beispiel, machten in Friedensverhandlungen zwischen 1992-2018, laut dem Think Tank “Council on Foreign Relations”, nur 13% der Teilnehmenden aus. Diese Zahl illustriert ein viel tiefer greifendes Problem: als “rational” bezeichnete Sicherheitspolitik wird viel zu häufig verknüpft mit antiquierten Bildern militarisierter Männlichkeit. Aufrüstung und Abschreckung wird als männlich dargestellt. Man denke nur an Donald Trump, der der Welt in sexuel aufgeladener Sprache mitteilte sein “Atomknopf” sei “viel größer” als Kim Jong Un’s. Abrüstung, auf der anderen Seite, gilt als Symbol der Schwäche, welches mit Weiblichkeit verknüpft wird. Abrüsten zu wollen, heißt weiblich zu sein,

irrational zu sein, schwach zu sein. Diesen Mythen gilt es zu widerstehen und die Gegenfrage zu stellen: Wer ist im Bezug auf Atomwaffen eigentlich irrational? Aus meiner Perspektive sind es die, die glauben, dass es i n einer Welt voller Konflikte 13.400 Atomwaffen geben kann, ohne dass diese je zum Einsatz kommen. Doch diverse Stimmen einzubeziehen, bedeutet nicht nur patriarchale Gedankenmuster abzulehnen. Es bedeutet auch, dass people of colour, queeren Menschen, Frauen und junge Menschen, die einen wichtigen Platz in der Friedensbewegung einnehmen dieser auch in der öffentlichen Wahrnehmung nicht streitig gemacht werden darf. Und das bringt mich zu meinem dritten Punkt. Mit den Hibakusha zu stehen heißt: weiterzugeben. Es i st ein Privileg, dass die Hibakusha heute noch ihre Geschichte an jüngere Generationen weitererzählen können. Normalerweise reisen jedes Jahr junge Menschen nach Hiroshima, um mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören. Die Zeit dafür ist begrenzt.

Manche Abrüstungexpert*innen sagen schon heute, dass viele Politiker*innen und Verhandlungsführer*innen den kalten Krieg nicht mehr nah genug erlebt haben, um aus dem Schrecken heraus nach Abrüstung zu streben. Umso wichtiger wird es gerade auch meiner Generation den Schrecken der Atombombe und das Wissen um die Strategien der Abrüstung, sowie den kritischen Blick auf Aufrüstung nicht nur als Geschichtsstunde zu vermitteln. Atombomben sind eine anhaltende Gefahr und Abrüstung eine gefährdete Kunst. Im Vergangenen Jahr etwa kündigten erst die USA und dann Russland den INF Vertrag, der den Bau von Mittelstreckenraketen verbietet. Damit wird Europa einmal mehr zur Zielscheibe. Die Modernisierung von  Arsenalen, um kleinere, “einsatzfähigere” Waffen zu bauen, macht ihren Einsatz darüber hinaus immer wahrscheinlicher.

Dennoch, diese Fakten gehen l eicht unter auf der übervollen politischen Agenda meiner Generation. Rassismus, Klimawandel, Mietenwahnsinn und jetzt noch das Coronavirus, sie alle scheinen näher dran an an unserem Leben. Und gerade deshalb ist es immer wieder wichtig darauf hinzuweisen, dass Atomwaffen untrennbar mit diesen Themen verknüpft sind.

Da sind zum einen die Netzwerke von Rassismus und Kolonialismus. Wie auf den Marshall Inseln oder i n Kanada sind von den militärischen Vorbereitungen für Atomkriege häufig People of colour betroffen. Die selben Argumentationsmuster, die wir in der Atompolitik sehen, bestärken den Gedanken, dass nicht jedes Leben gleich viel Wert sei. Und schon führende Mitglieder der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung erkannten in den 1960er Jahren, dass die Milliarden, die in Atomwaffen investiert werden, insbesondere in ihren Schulen, Krankenhäusern, beim bezahlbaren Wohnraum fehlen. Und was das Klima angeht, so hätte selbst ein “lokaler” Atomkrieg verheerende Folgen. Schon der Einsatz von 100 Bomben zwischen Indien und Pakistan, könnte zu einem nuklearen Winter führen, der die Ernten für eine Milliarde Menschen vernichtet. Und auch ohne Atomkrieg verbraucht ein Atombomber Kerosin und stößt CO2 aus.

Vielleicht sind es auch diese Gründe, wegen der die Mehrheit der jungen Menschen weltweit durchaus atomwaffenkritisch eingestellt  ist. Laut einer Studie des internationalen Komitee des Roten Kreuzes aus diesem Frühjahr sprechen sich weltweit 84% der 20-35 Jährigen für ein Verbot aus. Doch es klafft eine weite Lücke gegenüber dem politischen Handeln. Mit den Hibakusha zu stehen, muss daher auch für junge Menschen bedeuten, sich aktiv gegen Atomwaffen einzusetzen. Und damit bin ich an meinem letzten Punkt. Mit den Hibakusha zu stehen heißt, politisch zu handeln. Es heißt, dagegen einzustehen, dass Deutschland neue atomwaffenfähige Kampfflugzeuge kauft. Es heißt, sich zu empören, wenn über Menschenleben in den sterilen Termini nuklearer Abschreckung und sicherheitspolitischer Notwendigkeit gesprochen wird. Es heißt, zu fordern, dass Deutschland nie wieder teilhaben wird, an dem systematischen Mord von Millionen. Ich möchte diesen Punkt betonen. Keine Regierung kann glaubwürdig für Menschenrechte und Demokratie einstehen, solange sie eine Verteidigungspolitik verfolgt, in der sie glaubhaft verkaufen soll, dass sie bereit ist Massenmord zu begehen. Denn nur darauf beruht die fehlgeleitete Ideologie nuklearer Abschreckung. Auf der glaubhaften Androhung von Massenmord.

Mit den Hibakusha zu stehen heißt also auch zu fordern, dass Deutschland den Atomwaffenverbotsvertrag unterschreiben und umsetzen muss.

Es heißt auch, dass junge Menschen i hre Zukunft selbst mitbestimmen müssen, statt sich von oben herab erklären zu lassen, dass uns Atomwaffen sicherer machen. Sie tun es nicht. Es heißt auf die Straße zu gehen, wenn das  Bundesverteidigungsministerium neue Flugzeuge für die nukleare Teilhabe kaufen möchte. Es heißt, Abrüstung zu einem Wahlkampfthema zu machen. Es heißt aufmerksam zu bleiben, in dieser schnelllebigen Welt und die Arbeit von Organisationen wie ICAN, IPPNW, der Weltfriedensglockengesellschaft und vielen mehr zu unterstützen - auch über den sechsten und den neunten August hinaus.

Viele von Ihnen, die hier versammelt sind, tun das schon seit langem, Jahren oder sogar Jahrzehnten. Doch es i st noch immer notwendig, dass wir weitermachen, auch wenn es Rückschläge bei der Rüstungskontrolle gibt - es gibt auch Fortschritte wie den Atomwaffenverbotsvertrag.

Weitermachen. Das i st es was es für mich heißt, heute mit den Hibakusha zu stehen.

Vielen Dank.