Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki-Gedenkveranstaltung am 6. August 2023 in Wedel

 

- Es gilt das gesprochene Wort –

 

Liebe friedensbewegte Menschen, liebe alle,
am 6. August 1945 um 8 Uhr, 15 Minuten und 17 Sekunden Ortszeit wurde die erste US-Atombombe namens „Little Boy“ aus 9.467 m Flughöhe über der japanischen Stadt Hiroshima abgeworfen. Die Bombe explodierte in 599 Metern Höhe über der Stadtmitte.

Drei Tage später, am 9. August 1945 um 11 Uhr und 2 Minuten Ortszeit wurde eine weitere Atombombe auf Nagasaki abgeworfen.

Insgesamt starben bei beiden Abwürfen etwa 110.000 Menschen sofort, über 100.000 weitere starben bis zum Jahresende 1945 an den Folgen der atomaren Verstrahlung. Die genauen Zahlen sind kaum zu beziffern. Bis heute leiden die Überlebenden, die Hibakusha genannt werden, an den Langzeitfolgen.

Heute jährt sich der Jahrestag des Abwurfs auf Hiroshima zum 78. Mal. Und heute möchte ich euch die Geschichte von Setsuko Thurlow erzählen. Manche von euch kennen sie oder ihre Geschichte vielleicht schon, anderen ist sie neu.

Setsuko war eine 13-jähriger Schülerin als die USA eine Atombombe auf ihre Stadt Hiroshima abwarfen. Sie gehörte zu einer Gruppe von 30 Schüler*innen, die im Armeehauptquartier helfen sollten. Sie befanden sich im zweiten Stock des Holzgebäudes, etwa eine Meile vom Hypozentrum entfernt, und wollten ihren ersten Arbeitstag beginnen. Um 8:15 Uhr sah Setsuko einen bläulich-weißen Blitz vor dem Fenster. Sie erinnert sich an das Gefühl, in der Luft zu schweben. Als sie in der völligen Stille und Dunkelheit wieder zu sich kam, stellte sie fest, dass sie in den Trümmern des eingestürzten Gebäudes feststeckte. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie wusste, dass sie mit dem Tod konfrontiert war. Allmählich hörte sie die schwachen Hilferufe ihrer Klassenkamerad*innen. Plötzlich spürte sie Hände, die sie berührten und die Balken, die sie einklemmten, lockerten sich. Die Stimme eines Mannes sagte: "Gib nicht auf! Ich versuche, dich zu befreien! Bleib in Bewegung! Siehst du das Licht?

Kriech darauf zu.“ Als sie herauskam, standen die Ruinen in Flammen. Das bedeutete, dass die meisten ihrer Klassenkamerad*innen, die mit ihr im selben Raum waren, bei lebendigem Leibe verbrannten. Ein Soldat befahl ihr und einigen überlebenden Mädchen, zu den nahe gelegenen Hügel zu fliehen. Setsuko drehte sich um und sah die Außenwelt. Obwohl es Morgen war, sah es wegen des Staubs und des Rauchs in der Luft wie Dämmerung aus. Die Menschen in der Ferne sahen den Atompilz und hörten ein donnerndes Gebrüll. Aber Setsuko hat die Wolke nicht gesehen, weil sie in ihr drinnen war. Sie hörte das Donnern nicht, nur die tödliche Stille, die nur durch das Stöhnen der Verletzten unterbrochen wurde. Ströme von fassungslosen Menschen schlurften langsam aus dem Stadtzentrum zu den nahe gelegenen Hügeln.

Am Fuße des Hügels befand sich ein Truppenübungsplatz, der etwa so groß war wie zwei Fußballfelder. Er war mit Verletzten und Sterbenden bedeckt, die verzweifelt bettelten, oft im leisen Flüsterton: 'Wasser, Wasser, bitte gib mir Wasser'.Sie waren den ganzen Tag damit beschäftigt, den Sterbenden etwas Trost zu spenden. Es gab keinerlei medizinische Hilfsmittel, es gab weder einen Arzt oder Ärztin noch eine Krankenschwester. Bei Einbruch der Dunkelheit saßen sie auf dem Hügel und sahen wie betäubt vom Ausmaß des Todes und des Leids, dessen Zeug*innen sie geworden waren, die gesamte Stadt brennen.

Warum erzähle ich ihre Geschichte so ausführlich? Weil ich das Gefühl habe, die internationale Gemeinschaft, vergisst langsam, was in Hiroshima und Nagasaki passierte. Weil ich das Gefühl habe, Geschichten über den Erfinder der Bombe überschatten die katastrophalen Auswirkungen, die diese Erfindung tatsächlich bedeuten. Weil immer mehr Überlebende alt werden und sterben. Weil ich es für dringend erforderlich halte, dass die jüngere Generation von diesem schrecklichen Beginn des Atomzeitalters weiß. Setsuko Thurlow ist eine Hibakuska, eine Überlebende des Atombombenabwurfs auf Hiroshima. Noch heute ist sie eine engagierte Aktivistin gegen Atomwaffen. Sie war maßgeblich am Zustandekommen des bahnbrechenden  Vertrags über das Verbot von Atomwaffen beteiligt, der 2017 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde und am 22. Januar 2021 in Kraft trat. 91 Staaten haben diesen Vertrag bisher unterzeichnet. Deutschland noch nicht.

Setsuko Thurlow nahm 2017 zusammen mit Beatrice Fihn den Friedensnobelpreis im Namen von ICAN - der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen entgegen. In ihrer Rede sagte sie: „Ich möchte, dass ihr über uns und um uns herum eine große Wolke von einer Viertelmillion Seelen spürt. Jede Person hatte einen Namen. Jeder Mensch wurde von jemandem geliebt. Lasst uns dafür sorgen, dass ihr Tod nicht umsonst war.“ Ihr gibt der Atomwaffenvertrag große Hoffnung, das Ziel eine atomwaffenfreie Welt zu erreichen. Ich hatte die große Ehre sie letztes Jahr in New York kennenlernen zu dürfen. Sie ist eine Inspiration und gibt auch mir Mut, dass wir die Hindernisse, die momentan sehr groß scheinen, überwinden können. Wer mit Atomwaffen droht und den Einsatz vorbereitet, droht damit, Massenmord an Unschuldigen zu begehen. Denn Atomwaffen töten unterschiedslos Hunderttausende. Das darf nie wieder geschehen. Unsere menschliche Sicherheit hängt nicht von diesen Waffen ab. Wir wissen um bessere Alternativen, wie dem Atomwaffenverbostvertrag und gemeinsam werden wir uns weiter dafür einsetzen, dass dieser vollumfänglich umgesetzt wird.

Was mir Hoffnung bei all der Frustration gibt, sind die vielen jungen Menschen und ihr Einsatz gegen Atomwaffen weltweit. Ich und viele weitere jungen Menschen sind nicht bereit, den Status Quo zu akzeptieren. Gerade wir, die in das nukleare Zeitalter
hineingeboren wurden, welches wir weder mitaufgebaut noch dem zugestimmt haben, möchten erreichen, dass unsere Generation und alle anderen Generationen in einer Welt ohne Atomwaffen leben. Daher werden wir uns auch weiter dafür einsetzen, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt, die nukleare Teilhabe beendet und sich an der Entschädigung der Opfer von Atomwaffen und Atomwaffentests beteiligt.

 

Annegret Krüger arbeitet für das Netzwerk Friedenskooperative in Bonn.