Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki-Gedenkveranstaltung am 6. August 2023 in Offenbach

 

- Es gilt das gesprochene Wort –

 

Liebe Freund:innen von der Offenbacher Friedens-Initiative, liebe Zufalls-Passant:innen, liebe Kritiker:innen,
danke dass ich heute hier sprechen darf; es ist mir ein Anliegen. Ich spreche als Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft -Vereinigte Kriegsdienstgegner:innen. Ich freue mich, dass auch Karen Malsy von der Vereinigung der Verfolgten
des Naziregimes und Naisan Raji von der Marx-Engels-Stiftung ihre Überlegungen mit uns teilen werden.

Die Grenzlinie zur Menschheitsvernichtung wurde überschritten

Die Zerstörung Hiroshimas durch eine Atombombe hat unwiderruflich vor Augen geführt, dass es für das Handeln von Menschen Grenzlinien gibt, die niemals überschritten werden dürfen. Mit der Ermordung von 200.000 Menschen in der japanischen Großstadt musste die Welt erkennen, dass die Selbstvernichtung der Menschheit nicht nur möglich ist, sondern dass sie unverhohlen begonnen wurde. Hiroshima ist nicht unsere einzige Konfrontation mit der unverzeihlichen Verletzung von Grenzlinien der Menschheit. Auch die industrialisierte Massenvernichtung von Menschen im Holocaust hat diese Grenzlinie und ihre Überschreitung gezeigt, auf völlig unvergleichbare Art.

In den letzten Jahren aber ist die Verwischung und Leugnung von Grenzlinien ein Teil der politischen Tagesordnung vieler Regierender geworden. Sie möchten, dass wir es nicht merken, aber wir merken es ja doch.

Weitere Grenzlinien werden planvoll überschritten

Im menschengemachten Klimawandel und seiner aktiven Verschärfung ist die Grenzlinie längst überschritten.

In der Eskalation des Krieges gegen die Ukraine droht eine weitere Entgrenzung. Grenzlinien werden nicht unversehens überschritten. Es handelt sich nicht um einen Unfall, nicht um eine plötzliche Katastrophe, sondern um ein Vorrücken, Stück um Stück, verfolgbar und zu weiten Teilen einschätzbar. Die Komplexität der Verhältnisse ist nicht ursächlich für die Grenzüberschreitung, sondern ursächlich ist, dass wir ganz einfach das bekommen wofür wir arbeiten und investieren. Dies wird nicht erst im Rückblick deutlich. Kernphysik, Industrie und Politik haben im sogn. Manhattan Project Jahre und Jahre eng zusammengearbeitet, zugespitzt auf die Zündung einer Atombombe als Kriegswaffe. Der Mord an der Bevölkerung von Hiroshima hatte einen langen Vorlauf, an dem viele Menschen beteiligt waren – viele hochausgebildete, international begehrte Spezialisten ihres Faches.

Christopher Nolans Oppenheimer-Film - eine vulgäre Verzerrung

Derzeit läuft in den Kinos der Film von Christopher Nolan über Robert Oppenheimer. Ich möchte kurz auf den Film eingehen, weil er einige Verzerrungen enthält, denen man sich nicht hingeben sollte. Nolans Film stellt uns die Abläufe bis hin zur Zündung der Bombe über Hiroshima als eine Auseinandersetzung von Titanen der Wissenschaft und der Politik vor, die mit ihren Skrupeln um eine gute Entscheidung ringen. Da werden Helden konstruiert, die dann mit der Unausweichlichkeit einer griechischen Tragödie schuldig werden an einer nicht mehr umkehrbaren Bedrohung der Welt. In meinen Augen ist das eine vulgäre undgefährliche Verklärung. Sie ist vulgär, indem sie das Bedürfnis bedient, Helden zu sehen, und sie ist gefährlich, weil sie Unausweichlichkeit suggeriert und uns einredet, nun sei nichts mehr zu ändern. Eine Verklärung ist diese Darstellung, weil sie das Geschehen so darstellt, als sei es der Einwirkung „normaler irdischer Menschen“ entzogen.

Skrupel sind die Begleitmusik der Grenzverletzung

Die Begleitmusik zu all dem ist der Skrupel. Die Helden der Geschichte ringen mit sich selbst. Aber bitte, jeder Skrupel zeigt vor allem die Fehlerhaftigkeit einer Entscheidungs-Option. Worauf es ankommt ist, ob eine richtige Entscheidung ge-
troffen wird. Oppenheimer hat falsch entschieden, und zwar nicht erst im Rückblick, sondern a priori.

Ich hatte vor wenigen Jahren eine Auseinandersetzung mit dem damaligen Militärbischof der Evangelischen Kirche, Sigurd Rink. Rink befürwortete die Auslandseinsätze der Bundeswehr, kokettierte aber mit den Skrupeln, die, wie er sagte, ihm die Entscheidung schwer gemacht haben. Bullshit. Gleichgültig ob wir es mit einem Menschen von der intellektuellen Strahlkraft eines Robert Oppenheimer oder mit einem eher kleinen Lämpchen wie Sigurd Rink zu tun haben: Ist die Entscheidung falsch, dann wird sie auch durch den Skrupel nicht besser. Was zählt, ist der Entschluss, und was noch mehr zählt, ist die Tat. Oppenheimer wollte den Bau der Bombe ermöglichen; Rink wollte die Auslandseinsätze der Bundeswehr legitimieren. Das zählt.

Pazifismus ist ein klarer Entschluss

Skrupel haben unter Politikern wie auch unter Kirchenleuten große Konjunktur seit dem Angriff Russlands gegen die Ukraine. Statt eine gute und klare Entscheidung für den Spurwechsel zum Frieden zu treffen, werden erkennbar opportunistische Entscheidungen für noch mehr und noch mehr Waffenlieferungen damit beschönigt, der Entscheidungsprozess sei aber ja doch von Skrupeln begleitet gewesen. Das ist ein Geschwurbel ohne gedankliche Klarheit und eine Leugnung der eigenen Verantwortung. Lasst uns da einfach und ehrlich bleiben: Letztlich bekommt die Menschheit das, woran sie arbeitet.

Woran arbeiten wir, und wie setzen wir uns dafür ein? Vorhin sprach ich von der Verklärung, die viele Menschen ins politische Geschehen hineinfantasieren. Zu dieser Art von Verklärung gehört auch die Vorstellung, Pazifist:innen seien sozusagen von Natur aus anders beschaffen als andere Menschen. Das will ich nicht verstehen. Ich halte es lieber mit Pier Paolo Pasolini, dem großen politischen Filmkünstler, dem schwulen Kommunisten und katholischen Christen, der von seiner Partei ausgeschlossen wurde, weil er schwul war, und von der Kirche verfolgt wurde, weil er Kommunist war. Pasolini schrieb: „Ich bin Pazifist, nicht etwa weil ich als Pazifist geboren wurde, sondern weil ich mich dazu entschlossen habe.“

Wir selbst sind Teil des Problems

Die Verwischung und Verrückung der Grenzlinien sind aber auch unsere Sache, wir sind Teil des Problems. Ich muss zumindest für mich selbst sagen: Ich habe kein ausreichend entwickeltes Repertoire von Reaktionen auf die Grenzüberschreitungen. Ich habe keine angemessenen Reaktionen. Das war nicht immer so. Auf den Beschluss, die mit Atomwaffen bestückten Pershing II Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, haben meine Frau und ich mit jahrelang anhaltendem Zivilem Ungehorsam reagiert, und wir wussten was wir taten. Das kann ich heute nicht mehr sagen. Die Eindeutigkeit im Handeln ist mir abhandengekommen. Ich bin mir trotz meiner eindeutigen pazifistischen Sicht unschlüssig,wie ich mich in Bezug auf den neuen Krieg in Europa stimmig verhalten kann, und ebenso wenig weiß ich, was in meinem eigenen Leben die nicht nur tendenziell richtige, sondern auch angemessene Antwort auf die Tatsache der menschengemachten Klimakatastrophe sein kann.

Jedoch habe ich eine verlässliche Ressource: Das Gespräch mit anderen Menschen.

Gemeinsames Nachdenken ist eine wichtige Ressource

Als die Nato 1999 ihren Angriffskrieg gegen Serbien startete, habe ich meine Nachbarn zusammengetrommelt, um mit ihnen gemeinsam zu überlegen: Was können wir tun. Daraus entstanden neue Initiativen mit neuen Beteiligungsmöglichkeiten. Heute findet für mich das gemeinsame Nachdenken in meiner Frankfurter Gruppe der Deutschen Friedensgesellschaft statt. Unsere monatlichen Gruppentreffen haben sich ab Februar vorigen Jahres stark verändert. Waren sie bis dahin vor allem Planungs- und Arbeitsverteilungstreffen, sind sie jetzt stärker geprägt vom Austausch über unsere inhaltlich einschlägigen Erlebnisse, und vom Austausch unserer durchaus kontroversen Gedanken. Die Arbeitstreffen dienen dem gemeinsamen Nachdenken, und stets, bei jedem einzelnen Treffen, bis zu dem Punkt, dass wir dann auf dieser Basis Verabredungen treffen, an welchen Initiativen wir uns beteiligen und was wir selbst an eignen Initiativen in Gang bringen.

Was kann und soll hier und heute getan werden:

Heute Abend ist mir in dieser Weise wichtig, dass wir – möglichst wir alle hier - uns beteiligen an den Aufrufen, dass die Bundesregierung endlich dem Atomwaffen-Sperrvertrag beitritt; und dass wir alle die Petition an die ukrainische Regierung unterzeichnen, die Anklage gegen Yurii Sheliazhenko fallenzulassen. Sheliazhenko ist Geschäftsführer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung; er wird von der ukrainischen Regierung formell des „Verbrechens der Rechtfertigung der russischen Aggression" angeklagt.

Die Beteiligung an solchen Aufrufen ist nicht spektakulär; sie ist eher wie ein gutes Fundament für das weitere Handeln. Es ist eher wie die tägliche Hausarbeit, die weiterlaufen muss, auch wenn man eigentlich ein neues Haus bauen möchte.
Das neue Haus, an dem ich mitbauen möchte, das zeigt mir die Bildungsinitiative Sicherheit neu denken.

Zugleich aber ist die Mitwirkung in Gruppen wie der Offenbacher Friedensinitiative oder der DFG-VK oder der IPPNW oder den Fridays for Future und wohl auch der VVN oder der Marx-Engels-Stiftung und von Sicherheit neu denken bereits Teil des Neuen und Anderen, das wir aufbauen möchten. Bei den Gruppen, die ich kenne, wird auch das eigene berufliche Handeln reflektiert, das schützt uns davor, Fehlentscheidungen zu treffen, während uns Skrupel plagen. Dass wir untereinander und miteinander so handeln, wie es unserer pazifistischen Vorstellung entspricht, das ist bereits der Beginn der Arbeit an dem neuen Haus. Es bedeutet mir viel, dass wir dies sorgfältig und gründlich tun.

An Hiroshima zu denken bedeutet für mich: Die unverrückbaren Grenzlinien menschlichen Handelns ins Bewusstsein zu rücken, und mich zu stärken zum Einsatz für Frieden und eine nachhaltig bewohnbare Erde. Die Gedenkfeier der Offenbacher Friedensinitiative an der Hafentreppe gibt dem eine gute Form.

Vielen Dank.

 

Wilfried Kerntke ist aktiv bei der DFG-VK Offenbach.