Redebeitrag von Alexander Netschajew für den Ostermarsch Sachsen-Anhalt in Stendal am 17. April 2017

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

s ist Krieg! ’s ist Krieg!

O Gottes Engel wehre,

Und rede Du darein!

s ist leider Krieg –

und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen

Und blutig, bleich und blaß,

Die Geister der Erschlagenen zu mir kämen,

Und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,

Verstümmelt und halb tot

Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten

In ihrer Todesnot?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,

So glücklich vor dem Krieg,

Nun alle elend, alle arme Leute,

Wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten

Freund, Freund und Feind ins Grab

Versammelten und mir zu Ehren krähten

Von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?

Die könnten mich nicht freun!

s ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

 

Dies, meine Damen und Herren, liebe Freunde,

sind Verse, die fast 240 Jahre alt sind. Ihr Verfasser: der Dichter Matthias Claudius, dessen friedvolles „Abendlied – Der Mond ist aufgegangen…“ im kollektiven Bewusstsein der Deutschen verankert ist. Sein "Kriegslied" hat Claudius 1778 geschrieben – und leider könnten diese Zeilen kaum aktueller ausfallen, denn es scheint nicht nur so, dass die Welt kriegerischer geworden ist:

  • Nach neusten Erhebungen hat sich die Zahl der bewaffneten Konflikte zwischen 2007 und 2015 verdoppelt.
  • Seit 2008 ist der internationale Terror um das 2,8-Fache gestiegen.
  • Und nach Angaben der UNO-Flüchtlingshilfe sind über 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht.

Und gerade der syrische Bürgerkrieg geriet in den letzten Tagen wieder

schmerzlich in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit.

Warum?

Es besteht mittlerweile kein Zweifel darüber, dass am 4. April Giftgas in Syrien eingesetzt wurde. Die Folge? Unterschiedliche Schuldzuweisungen der Mächtigen, keine Gewissheit über die wahren Sachverhalte, Aufklärung – Fehlanzeige. Sicher ist nur: Es gab weit über 80 Todesopfer, elendiglich erstickt am Wasser in den eigenen Lungen, ausgelöst durch den chemischen Kampfstoff Sarin. Die Opfer waren Zivilisten, darunter viele Kinder. Die verätzte Lunge füllt sich mit Körperwasser, man erstickt langsam und qualvoll. Bei einer nicht tödlichen Dosis bleibt die Lunge lebenslang geschädigt.

s ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

Diese menschliche Regung scheint den Staatenlenkern Trump und Putin

gleichermaßen zu fehlen. Der eine erzählt launig einer Reporterin, die dem Alter nach seine Tochter sein könnte, vom delikaten Schokoladenkuchen, den er mit Chinas Staatspräsidenten gegessen hat, als er den Befehl zur Bombardierung des Irak gab. – Verzeihung, Mr. President, es war Syrien! – Wie? Ach ja, Syrien! – Der andere beharrt trotzig auf einer Version, wonach die Raketen geheim gelagerte Chemiewaffen der Rebellen getroffen und die dann die Giftgaskatastrophe ausgelöst haben sollen. Eine wissenschaftlich widerlegte Theorie. Nicht einmal im Lügen oder im Seriosität-Vorheucheln gibt man sich mehr Mühe.

Da stirbt gerade vor den Augen der Weltöffentlichkeit seit sechs Jahren ein Volk und die Weltmächte agieren und argumentieren auf Kindergartenniveau. – Wie ekelhaft!

In Syrien, das scheint offensichtlich, geht es um Einfluss-Sphären, Machtansprüche und – so vermute ich – um knallharte Wirtschaftsinteressen. Die Leidtragenden sind die Menschen.

Der syrische Bürgerkrieg begann 2011 und dauert seit sechs Jahren an. Nach UN-Schätzungen gab es bereits mehr als 500.000 Tote, fast fünf Millionen Syrer sind auf der Flucht. Und wo, bitte, ist letzten Endes der Unterschied, ob einen eine mit Nägeln gefüllte Fassbombe zerreißt, ob einem eine bunkerbrechende Waffe das eigene Kellergeschoss zum Grab macht, oder ob Giftgas einem das Wasser in die Lungen treibt und qualvoll ersticken lässt? Ist das eine Morden besser als das andere? – Ich verstehe das nicht.

Ich war nie in Syrien, kenne die Schönheit dieses Landes und die Schrecken dieses Krieges nur aus den Medien und dem Internet, so wie wohl die meisten von uns. Aber in Syrien – so wirkt das auf mich – scheinen längst alle roten Linien, Grenzen, Hemmungen und Skrupel verschwunden. Eine Welt, die nur mehr mit den Schultern zuckt, wenn Krankenhäuser bombardiert, Hilfskonvois samt Fahrer verbrannt, Städte ausgehungert werden, eine solche Welt ist selbst längst so verroht und abgestumpft wie dieser Krieg. Da nützt es auch nichts, bei dem Wort „Giftgas“ – egal von wem und gegen wen – ein betroffenes Gesicht aufzusetzen.

Und leider gehöre ich, gehören wir mit zu dieser Welt, die zuschaut. Zuschauen muss. Und nun Matthias Claudius:

s ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

„In der Türkei Erdogans werden die Menschenrechte missachtet. Flüchtlinge, die versuchen, über die syrisch-türkische Grenze in Sicherheit zu kommen, werden beschossen. In Griechenland spielen sich humanitäre und menschenrechtliche Katastrophen ab, für die die EU unmittelbar verantwortlich ist." – So die Menschenrechtsorganisation PRO ASYL.

Ich hege große Sympathien für die Werte der Europäischen Union. Es geht uns hier durch Wohlstand und Frieden so gut, wie wahrscheinlich noch keiner Generation vor uns. Und somit wurde die EU im Jahre 2012 m.E. durchaus zurecht "für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa" mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Doch: Seit 2014 starben nach Angaben des UNHCR mehr als 10.000 Menschen bei der Überfahrt über das Mittelmeer, mehr als 2.800 allein in diesem Jahr. Die europäische Grenze zum Mittelmeer ist damit wohl die tödlichste Grenze der Welt geworden. Verträgt sich das mit Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten? Der Schutz des Lebens gilt auch für Flüchtlinge. Die Würde des Menschen gilt, denke ich, nicht nur für die Bürger der EU.

Und natürlich das stets unappetitliche Thema Rüstungsexporte. Auch und immer wieder für deutsche Firmen ein Milliardengeschäft. Laut Rüstungsexportbericht der Bundesregierung verkauften deutsche Firmen im Jahre 2015 Rüstungsgüter im Wert von weit über sieben Milliarden Euro ins Ausland, unter anderem nach Nahost und Nordafrika. Für 2016 bewegt sich die Zahl laut noch inoffiziellen Berechnungen in ähnlicher Höhe.

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?

Die könnten mich nicht freun!

s ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

Doch machen wir es uns nicht zu bequem. Nur auf die Rüstungsindustrie zu deuten, wäre zu kurz gegriffen. Die unbequeme Erkenntnis liegt nahe, dass wir in Deutschland unweigerlich zu der Gewinnerseite eines globalen Wirtschaftssystems gehören.

Der frühere UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Die Welt quillt über vor Reichtum. Und alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Aber" – so Ziegler weiter – "die Risse in dieser kannibalischen Weltordnung werden sichtbarer.“ Ziegler spricht provokant von einem „Weltkrieg“ gegen die Dritte Welt, in der allein im Jahre 2016 etwa 54 Millionen Menschen gestorben seien und rechnet vor: „Diese Menschen sterben durch Kriege, Hunger, Kindersterblichkeit, durch verseuchtes Wasser oder an an sich längst besiegten Epidemien. Von 7,3 Milliarden Menschen ist noch immer eine Milliarde permanent schwerstens unterernährt. Das ist eine kannibalische Weltordnung. Die 500 größten Konzerne kontrollieren 52,8 Prozent des Weltbruttosozialproduktes, also aller in einem Jahr produzierten Reichtümer. Das ist eine Machtfülle, wie sie kein König, Kaiser, Papst je hatte.“

Ja, auch der internationale Verbund von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen OXFAM belegt, dass die acht „superreichsten“ Menschen genau so viel Geld wie die ärmere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung besitzen. Und ja: Natürlich ist auch innerhalb Deutschlands die Verteilung der Vermögen äußerst ungleich: Die reichsten ein Prozent der Haushalte in Deutschland besitzen 33 Prozent aller Vermögen. Die Gegenrechnung lautet: Die ärmere Hälfte der Deutschen besitzt gerade einmal 2,5 Prozent der Vermögen. Und trotzdem ist es und bleibt es so, dass wir Deutschen auf der Gewinnerseite des globalen Wirtschaftssystems stehen. Wie könnte es sonst passieren, dass in unserem Land statistisch gesehen jede Sekunde 313 Kilo Lebensmittel in den Müll geworfen werden.

Ich brauche leider keine Kriege, um mir Sorgen über den Zustand unserer Welt zu machen. Die Politik, die Profite statt Menschen in den Mittelpunkt stellt und die die extreme Ungleichheit, die uns alle betrifft, eher befördert als eindämmt, treibt schreckliche Blüten:

  • Wasser wird mehr und mehr privatisiert.
  • Bald schwimmt mehr Plastikmüll in den Weltmeeren als Fische.
  • Die Betreibung des Internets setzt so viel CO2 frei wie der gesamte globale Luftverkehr.
  • Donald Trump beerdigte vor wenigen Tagen den Klimaschutz, indem erstaatliches Land für den Kohleabbau in den Vereinigten Staaten freigab.

Mich beschleicht das Gefühl, dass Kriege, Wirtschafts- und Umweltpolitik unentwirrbar miteinander verknüpft und verbunden sind. – Wie ist diese Misere zu lösen?

Wenn ich König von Deutschland wäre, so würde ich jeden zur Verfügung

stehenden Euro in das Bildungssystem stecken. Das kostet, ja! Aber wir wollen eines nicht vergessen: Die deutschen Steuerzahler haben seit 2008 insgesamt 236 Milliarden Euro für die sogenannte „Bankenrettung“ bezahlt. Diese Zahl geht aus einer Mitteilung der Deutschen Bundesbank Mitte des Jahres 2015 hervor. Das sind – sollte sich diese Zahl seitdem nicht weiter erhöht haben – das sind über 23 Milliarden pro Jahr für notleidende Banken. Investieren wir das ab sofort lieber in die Köpfe und Herzen unserer Kinder und Jugendlichen! Fördern wir soziokulturelle Projekte, finanzieren wir hochwertige Jugendarbeit, investieren wir in den Sport. Geben wir unseren jungen Leuten die besten Universitäten, Hochschulen und Ausbildungsstätten, deren wir fähig sind.

Das pakistanische Mädchen Malala Yousafzái – heute Friedensbotschafterin der Vereinten Nationen – wollte sich das Recht auf Bildung nicht nehmen lassen. Taliban schossen ihr in den Kopf, als sie 15 Jahre alt war. Sie überlebte und erhielt zwei Jahre später, 2014, den Friedensnobelpreis. In ihrer Rede sagte sie: "Mit Panzern tötet man vielleicht Terroristen, mit Bildung den Terrorismus. Lasst uns einen weltweiten Kampf wagen, gegen Analphabetismus, Armut und Terrorismus, lasst uns unsere Bücher und Stifte holen, sie sind unsere stärksten Waffen. Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern. Bildung ist die einzige Lösung. Bildung ist das Wichtigste."

Nun, leider ist Malala heute keine Staatspräsidentin und ich bin auch nicht König von Deutschland. Die Frage, die mich also bewegt lautet: Was kann ich gegen die Ungerechtigkeit in der Welt etwas tun als derjenige, der ich bin: Bürger eines demokratischen Staates, der sich eine freiheitliche Grundordnung gegeben hat, die sich auf unveräußerliche Menschenrechte bezieht?

Viel! Ich kann mich positionieren und eintreten für diese nicht selbstverständlichen Werte. Ich kann mich positionieren, wenn Scharfmacher und Fanatiker – egal ob sie rechts, links, religiös oder sonst-wie-fundamentalistisch geprägt sind – demokratiefeindlich, frauenfeindlich, schwulenfeindlich, rassistisch oder intolerant daherreden. Ich kann laut NEIN sagen, wenn ein Nein geboten ist. Verteidigen wir die Mitte, in der wir uns befinden! Lassen wir die Hassprediger dort stehen, wo sie hingehören: an den Rändern. Lasst uns Mauern überwinden. Grenzen wir diejenigen aus, die böswillig unsere Gesellschaft spalten wollen, aber wenden wir uns denjenigen zu, die Hilfe und Orientierung brauchen. Kommen wir ins Gespräch. Und wenn es eine Diskussionsgrundlage gibt, auf die wir uns beziehen, so sei dies nicht die Bibel, nicht der Koran, nicht ein Parteiprogramm und auch kein Facebook-Post, sondern einzig und allein das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Da stehen großartige Sätze drin, Errungenschaften, die man sich in Erinnerung rufen sollte, wenigstens die ersten 19 Paragraphen, die Grundrechte, von denen sich alle anderen Gesetze ableiten.

Z.B. unter Paragraph 1, Absatz 2: "Das Deutsche Volk bekennt sich zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt."

In Paragraph 2: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt“.

Oder unter Paragraph 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

In Paragraph 4: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“

Paragraph 5, Absatz 1: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt."

Und natürlich Paragraph 1, Absatz 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." Ein Satz mit Ewigkeitsgarantie. Ewigkeitsgarantie ist ein juristischer Begriff, der die Verlässlichkeit und Unveränderlichkeit dieses Paragraphen unterstreichen soll. Welch ein Anspruch! Welch ein Ansporn! Denn die Würde des Menschen ist antastbar. Und kaum woanders ist dies grausamer unter Beweis gestellt worden als auf deutschem Boden. Und gerade weil wir das wissen, haben unsere Verfassungsväter diesen Satz voran gestellt, weil der Staat dem Einzelnen und seiner Würde zu dienen hat – und nicht umgekehrt.

Solidarität, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte werden dieser Tage – vielleicht gerade wegen Brexit , Trump, AfD und Erdogan – neu entdeckt. Vielleicht entdecken wir erneut: Demokratie ist eben nicht einfach die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, wie das manch Rechtspopulist so gerne darstellt. Demokratie bedeutet, dass Grundrechte für den Einzelnen aktiv einklagbar sind, dass der Rechtsstaat seine schützende Hand über jeden einzelnen Bürger hält, dass Menschenrechte ohne Wenn und Aber für jeden gültig sind. Oder wie es die Autorin und Publizistin Carolin Emcke auf den Punkt brachte: „Menschenrechte können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird.“

 

Alexander Netschajew ist Intendant am Theater der Altmark in Stendal.