Redebeitrag von Christa Blum (IPPNW) für den Ostermarsch Mainz-Wiesbaden am 15. April 2017

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

- Sperrfrist: 15.04., Redebeginn: ca. 12 Uhr -

 

Krieg und Friedensbemühungen in der Türkei

 

Guten Tag alle zusammen,

In den Straßen der mehrheitlich von Kurdinnen und Kurden bewohnten Stadt Diyarbakır in der Osttürkei gibt es mehr Panzer als Taxis bei uns. Über die Stadt donnern Kampfjets. Polizei und Militär ist allgegenwärtig und schwer bewaffnet.

Über die derzeitige Entwicklung in der Gesamttürkei wird zur Zeit in den deutschen Medien breit berichtet. Wir empören uns über Hunderttausende, die entlassen wurden, Zigtausende, die für unabsehbare Zeit in Gefängnissen sind, über den Untergang der Pressefreiheit und die drohende Diktatur, die alles zu unterdrücken versucht was nicht in das Konzept der Erdoğan‘schen Autokratie-wünsche passt.

Ich möchte in diesem kurzen Beitrag über die KurdInnen sprechen.

Was mich lange verwunderte: Diese massive Unterdrückung geschieht in den kurdischen Gebieten seit Jahrzehnten, ohne dass es in Europa breiter wahrgenommen wurde.

Die Bombardierungen und Vertreibungen der Bevölkerung aus Tausenden von Dörfern, die Foltergefängnisse, die unzähligen Unterdrückungsmechanismen seit fast hundert Jahren -

Wussten Sie zum Beispiel, dass im Dezember 2011 in einer einzigen Nacht über dreihundert gewählte BürgermeisterInnen, MenschenrechtlerInnen, RechtsanwältInnen in Haft kamen, im Jahr darauf systematisch Hunderte von Kindern in Gefängnisse kamen, meist weil sie das Siegeszeichen zeigten oder einen Stein gegen einen Panzer warfen? Oder auch ohne Anlass?

Von den unzähligen Repressionen war in deutschen Medien kaum die Rede und die KurdInnen fragten immer wieder „Warum hört Europa uns nicht“?

Einen Höhepunkt des Horrors bildeten die Bombardierungen zahlreicher kurdischer Städte, als Ende 2015 die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen radikalisierten Jugendlichen und dem Militär stattfanden. Es gab wochenlange Ausgangssperren und eine völlig unverhältnismäßige Gewalt und Zerstörung dieser Städte durch das Militär. Etwa 500.000 Menschen wurden vertrieben, die gewählten kurdischen Bürgermeister abgesetzt, zum Teil inhaftiert und die Städte unter türkische Zwangsverwaltung gestellt.

Warum? Die KurdInnen verfolgen seit 2005 das Konzept der demokratischen Autonomie: das heißt sie haben eine kommunale Selbstverwaltung eingerichtet, mit basisdemokratischen Strukturen, die in radikalem Kontrast stehen zum autoritären und patriarchalen Zentralismus der AKP und dem Machtstreben der Person Erdoğans. Dieses demokratische humanistische Konzept das auch den Kampf für die Rechte der Frauen einschließt und das auch in Rojava, den syrisch-kurdischen Gebieten, und bei der PKK in den Bergen versucht wird zu realisieren, ist im Nahen Osten einmalig. Dabei sollen die Menschen aller Religionen und Ethnien in die Gesellschaft mit einbezogen werden ohne nationalistische Grenzen. Dies ist das Konzept.

Es geht wesentlich auf Anstöße von Abdullah Öcalan zurück der auch vom Gefängnis aus an dem Friedensprozess 2013 beteiligt war.

Auf dem Newrozfest 2013 wurde eine Rede von Öcalan verlesen – ich war damals bei der Verlesung der Rede dabei - in der er unter anderem sagte:

„Die Waffen sollen endlich schweigen, Gedanken und Politik sollen sprechen. Endlich beginnt eine neue Ära, nicht die Waffen, sondern die demokratische Politik wird im Vordergrund stehen. Die Zeit des Streits, der Konflikte und der gegenseitigen Verachtung ist vorbei, die Zeit ist reif für Einheit, Gemeinsamkeit, Umarmung und Vergebung.“

Wie es weiterging, wissen wir. Die kommunalen Strukturen wurden weitgehend zerschlagen, PolitikerInnen, MenschenrechtlerInnen, AnwältInnen, JournalistInnen sind in Gefängnissen eingesperrt, auch die über tausend AkademikerInnen, die 2015 einen Friedensappell unterschrieben haben, sind im Gefängnis oder haben zumindest Arbeit und Einkommen verloren.

Zur Zeit finden Hungerstreiks in verschiedenen türkischen Gefängnissen statt.

Und die herrschende deutsche Politik? Hat viel zu lange geschwiegen.

Weil wir die Türkei als NATO- und Handelspartner nicht kritisieren wollten, lange vor dem Flüchtlingsdeal. Und wohl auch, weil Deutschland an den Waffenexporten gut verdient.

Maßgeblich deutsche Waffen haben die kurdischen Dörfer zerstört, geben Militär und Polizei mörderisches Material gegen die eigene Bevölkerung. Und die KurdInnen, AlevitInnen und all die anderen freiheitlich denkenden Menschen in der Türkei werden weitgehend ihrem Schicksal überlassen.

Das Bild von Abdullah Öcalan darf auf Demonstrationen in Deutschland nicht gezeigt werden. Das ist ein Skandal.

Menschen, die die PKK unterstützt haben, sitzen in Deutschland im Gefängnis, wenn sie Veranstaltungen organisiert haben oder für die PKK Geld gesammelt haben, da die PKK als terroristische Organisation im Ausland gilt. Und das türkische Militär? Lasst uns hinschauen, wie im Vergleich dazu die deutsche Justiz auf die Mitglieder des türkischen Militärs reagiert, die nach dem Putsch in Deutschland Schutz suchen.

Ja, die Türkei ist unsere NATO-Partnerin. Dafür zahlen die Menschenrechte einen hohen Preis.

Vielen Dank fürs Zuhören!

(Mainz, den 3.4.2017)

 

Christa Blum ist Ärztin und aktiv bei der IPPNW.