Redebeitrag für den Ostermarsch Hannover am 20. April 2019

 

- Sperrfrist: 20. April 2019, Redebeginn: 11 Uhr -

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Grenzen schließen für Waffen - Grenzen öffnen für Menschen - Fluchtursachen bekämpfen!

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

lauten Forderungen aus dem Aufruf für den diesjährigen Ostermarsch in Hannover.

Auch die Bundesregierung und die EU sprechen häufig von der Bekämpfung von Fluchtursachen, wenn es um den Umgang mit Schutz suchenden Menschen geht. Allerdings verbirgt sich dahinter i.d.R. etwas vollkommen anderes, als wohl die meisten von uns hier darunter verstehen.

Wenn Bundesregierung und EU davon sprechen, Fluchtursachen bekämpfen zu wollen, steht dahinter nicht in erster Linie das Anliegen, gerechte Verhältnisse in der Welt zu schaffen, die es unnötig machen, dass sich Menschen gezwungen sehen, ihr Heil in Flucht und Migration zu suchen. Wenn die Regierungen der EU-Staaten sich die Bekämpfung der Fluchtursachen auf die Fahnen schreiben, dann meinen sie damit nicht zuletzt den Ausbau der Kontrolle von Migration und Flucht.

Immer weiter wird das System aus Abschottung und Grenzkontrolle ausgebaut und immer näher an die Ursprungsorte von Flucht und Migration verlegt. Die Menschen sollen möglichst frühzeitig abgefangen und an einer Weiterreise in Richtung Europa gehindert werden. Mittlerweile hat sich ein gestaffeltes System herausgebildet, in dem einige Staaten eine zentrale Rolle bei der Verhinderung von Flucht und Migration spielen. Ganz prominent ist dabei selbstverständlich die Türkei und der mit ihr abgeschlossene sog. EU-Türkei-Deal. Seit März 2016 hindert die Türkei im Auftrag der EU die Menschen an der Flucht Richtung Europa. Schutz suchende Menschen, die es bis in die Türkei geschafft haben, sollen dort bleiben, da dort die Menschenrechte ausreichend gewahrt seien; dabei garantiert die Türkei nur Menschen aus Europa die Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention. Viele Flüchtlinge leben dort auf sich allein gestellt weitgehend ohne jegliche Versorgung, andere sind dort interniert. Gleichzeitig hat auch die türkische Regierung Maßnahmen ergriffen, Flüchtlinge abzuwehren und ihre Grenzen Richtung Syrien abgeriegelt. Die EU zahlt dem autokratisch regierten Land im Rahmen des EU-Türkei-Deals sechs Milliarden Euro und unterstützt zudem den NATO-Partner mit Waffen, die v.a. gegen Kurdinnen und Kurden in Syrien und im eigenen Land eingesetzt werden und so zusätzlich Menschen auf die Flucht treiben.

Auf dem afrikanischen Kontinent ist der sog. Khartoum-Prozess von besonderer Bedeutung. Hier findet eine Zusammenarbeit der EU mit nord- und ostafrikanischen Staaten statt, unter denen sich wenig demokratische Länder wie Ägypten, Eritrea oder Sudan oder ein failed state wie Somalia befinden. Im Rahmen des Khartoum-Prozesses wird ein Projekt mit dem vielsagenden Namen Better Migration Management unter Koordination der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit umgesetzt. Dieses Vorhaben hat zum Ziel die Flucht- und Migrationsbewegung aus den ostafrikanischen Ländern, also v.a. Somalia, Eritrea, Äthiopien und Sudan zu kontrollieren. Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit schreibt zwar, dass an erster Stelle die Rechte und der Schutz der Migranten stünden. Faktisch werden mit EU-Geldern aber z.B. die Sicherheitskräfte des autokratischen Regimes im Sudan finanziert und mit Technik zur Grenzsicherung ausgerüstet; es werden also jene bewaffneten Organisationen unterstützt, die gegen die eigene Bevölkerung vorgehen, die seit Dezember für die Absetzung des Autokraten al-Bashir - letztlich erfolgreich - protestiert hat und nun gegen die neue Militärregierung ihre Demonstrationen fortsetzt.

Um die Migrationsbewegung aus dem westliche Afrika zu kontrollieren, werden Staaten wie Niger unter Druck gesetzt und finanziert, um Kontrollsystem aufzubauen, die dazu führen, dass die Menschen immer gefährlichere Wege auf sich nehmen, mit dem Ergebnis, dass nach Schätzungen der IOM drei Mal so viele Menschen in der Wüste sterben wie auf dem Mittelmeer. UNHCR hat für das Jahr 2018 fast 2.300 Tote im Mittelmeer registriert.

Gewissermaßen als letzte Bastion auf dem afrikanischen Kontinent gegen die unerwünschte Migration werden libysche Mafia-Organisationen von der EU mit Geld, Ausbildungen und Ausrüstungen unterstützt, damit sie die Menschen, die den schrecklichen Lagern in Libyen über das Mittelmeer entkommen wollen, abfangen und wieder zurück in die KZ-ähnlichen Lager, wie selbst das Auswärtige Amt diese bezeichnet hat, zwingen. Wer nicht von den Verbrecherbanden abgefangen wird, soll dem Ertrinken überlassen werden. Laut UNHCR ist letztes Jahr jede_r 16. bei dem Versuch, von Libyen nach Europa zu kommen, gestorben. Zivile Seenotretterinnen und -retter, die der Verletzung der Menschenrechte und des Seerechts aktiv etwas entgegensetzen, werden kriminalisiert, ihre Schiffe unter fadenscheinigen Vorwürfen festgehalten, und wenn sie es doch noch auf See schaffen, wird an ihnen ein Exempel statuiert, indem man sie mit den Schiffbrüchigen an Bord nicht in die Häfen einlaufen lässt.

Diejenigen, die es trotzdem bis nach Europa schaffen, erwarten auch in der EU elende Bedingungen. Es ist offensichtlich, dass diese bewusst in Kauf genommen werden, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Allerdings macht ein Blick auf die Herkunftsstaaten der allermeisten Asylsuchenden deutlich, dass diesen Menschen kaum eine andere Wahl bleibt, als Richtung Europa zu fliehen. Es dürften also weniger sog. Pull-Faktoren als vielmehr Push-Faktoren sein, die die Leute nach Europa führen.

Um diese unmenschliche Asyl- und Flüchtlingspolitik legitimieren zu können, müssen die Schutz suchenden Menschen zu einer Bedrohung aufgebaut werden. Schon die Verwendung von Begriffen wie „Sicherung“ oder „Schutz“ der Außengrenzen soll suggerieren, dass die EU von den Asylsuchenden angegriffen würde. Tatsächlich kann man das, was an den EU-Außengrenzen geschieht, kaum mehr anders als einen Krieg Europas gegen die Menschen aus den Krisenregionen des globalen Südens bezeichnen. Der beschlossene Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex zu einer eigenständigen Armee mit 10.000 Leuten, macht dies ein weiteres Mal nur allzu deutlich.

Innerhalb Europas scheint ein Wettbewerb darin zu herrschen, wer die Geflüchteten am schäbigsten behandelt, um sie aus dem Land zu treiben. Wer in Folge dessen auf der Suche nach erträglichen Lebensbedingungen z.B. nach Deutschland weiter flieht, wird auch hier mit zunehmender Abwehr und Repression konfrontiert. Mit der Dublin-Verordnung soll verhindert werden, dass Menschen einfach selbstbestimmt bessere Lebensperspektiven suchen. Deshalb wird derzeit gerade auf die Menschen, die die Dublin-Verordnung nicht befolgen und nicht bereitwillig in die Verelendung zurückkehren wollen, erhöhter Druck ausgeübt. Das ist u.a. Sinn und Zweck des gerade durch das Bundeskabinett beschlossenen sog. „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“.

Leider gibt es für die kontinuierlich repressiver werdende Politik gegenüber Geflüchtete eine breite gesellschaftliche Akzeptanz. Denn auch in Deutschland ist es den Rechtsextremen gelungen, den Diskurs weiter in Richtung einer menschenverachtenden Politik zu verschieben. Schutz suchende Menschen werden zur Ursache aller möglichen gesellschaftlichen Missstände stilisiert. Geflüchtete werden zur Projektionsfläche von Ängsten und Unzufriedenheit angesichts immer offener zutage tretender Widersprüche. Widersprüche, die in einer weltweit vorherrschenden Gesellschaftsordnung, die permanentes Wachstum, Konkurrenzkampf, Egoismus und Übervorteilung zum konstituierenden Prinzip erhebt, zwangsläufig auftreten. In dieser auf viele immer bedrohlicher und unübersichtlicher wirkenden Welt verlangen mehr und mehr Menschen nach Autorität, die ihnen die komplexe Welt mit einfachen Erklärungen und v.a. klaren Feindbildern strukturiert. Schutz suchende Menschen werden zu eben diesen Feindbildern aufgebaut. In diesem Zusammenhang ist selbstverständlich auch die Asyl- und Flüchtlingspolitik der Bundesregierung unter Führung von Innenminister Seehofer zu sehen. Vorrangiges Ziel ist die Abschiebungszahlen zu erhöhen, als symbolische und zugleich messbare Größe, die man den autoritär gesonnenen Menschen präsentieren kann. Um dieses Ziel zu erreichen, hat das Bundeskabinett Gesetzentwürfe ausgearbeitet, die u.a. vorsehen, dass Geflüchteten Leistungen vollkommen verweigert werden können und die Möglichkeiten der Abschiebehaft massiv ausgebaut werden; Grundgesetz und Europarecht werden dabei schamlos ignoriert.

So weit eine grobe Skizze dessen, was die EU und allen voran die Bundesregierung unter Bekämpfung von Fluchtursachen versteht: nämlich letztlich die Bekämpfung der Menschen, die fliehen.

Wer es aber mit der Bekämpfung von Fluchtursachen ernst meint, muss zunächst die Unterstützung von Regimen, die Menschenrechtsverbrechen begehen,einstellen, das betrifft Waffenlieferungen genauso, wie andere logistische, finanzielle und politische Unterstützung.

Grundsätzlich muss die Erkenntnis reifen, dass die weltweit vorherrschende Gesellschaftsordnung zwar dem globalen Norden Wohlstand beschert - der jedoch höchst ungleich verteilt ist -, zugleich aber die Lebensgrundlagen der Menschen des globalen Süden zerstört. Dies ist letztlich wesentliche Ursache, warum sich Menschen auf die Flucht begeben oder zur Migration gezwungen sehen. Nur mit einem solidarischen Miteinander können wir erreichen, dass Verarmung, Verelendung, Umweltzerstörung und gewalttätige Konflikte zurückgedrängt werden und somit auch niemand zu Flucht und Migration gezwungen ist.

Für ein Ende der Gewalt gegen Schutz suchende Menschen! Flucht ist kein Verbrechen!

Für eine solidarische Gesellschaft!

 

Sigmar Walbrecht arbeitet für den Flüchtlingsrat Niedersachsen.