ungehaltener Redebeitrag für den geplanten Ostermarsch Rügen in Sassnitz am 13. April 2020

 

Frieden

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, 
Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“ 

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

in Schillers Drama „Wilhelm Tell“ (1804) hat dieser Satz persönliche wie auch politische Bedeutung. Er ist die Antwort Wilhelm Tells auf die Anrede eines Passanten: „Ja, wohl dem, der sein Feld bestellt in Ruh und ungekränkt daheim sitzt bei den Seinen.“ Das kann Tell nicht: Der mächtige Landvogt Geßler hat ihm furchtbares Unrecht angetan und verfolgt ihn seitdem gnadenlos. Nur noch der Mord an diesem Tyrannen kann Tells persönliches Leben retten, weil seine Tat zum Auslöser eines politischen Umsturzes wird. 

Zu allen Zeiten ist dieser Satz als scharfes Argument gegen jede Form des Pazifismus gewendet worden. Frieden, so scheint er zu belegen, steht nicht völlig in unserer Hand. Krieg kann von außen, vom „bösen Nachbarn“ zu uns getragen werden. Wir müssen deshalb stets optimal gewappnet sein, um einer solchen Möglichkeit nicht wehrlos ausgesetzt zu sein, ja, sie womöglich durch eigene Wehrlosigkeit geradezu anzulocken. „Si vis pacem, para bellum“ - „wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg“, sagten die Römer. 

Leider ist dieses Argument nicht von der Hand zu weisen, wie auch Beispiele aus jüngster Zeit belegen. Afghanistan hatte 2001 keine Mittel, um sich dem US-Angriff entgegenzustellen. Wenn Saddam Hussein die unterstellten Massenvernichtungswaffen wirklich besessen hätte, wäre sein Land 2003 vermutlich nicht angegriffen worden. Umgekehrt, hätte Nordkorea keine Atomwaffen, wäre es als Teil der „Achse des Bösen“ (G.W.Bush) vielleicht schon längst angegriffen worden; zumindest ist das die Lesart der nordkoreanischen Regierung. Die Assoziation „der Frömmste“ fällt hier freilich schwer, das ist ein Teil des Problems. Ein anderes oft genanntes Beispiel ist der chinesische Einmarsch von 1950 in das friedliche Tibet, das sich allerdings erst 1913 einseitig von China getrennt hatte. 

Es ist unstrittig, dass Mächtige immer wieder rücksichtslos ihre (vermeintlichen) Interessen mit Gewalt durchsetzen. Aber Schillers Satz hat ein logisches Problem: Der „fromme“ Nachbar wird dem „bösen“ im Kriegsfall selbst zum „bösen“ Nachbarn.

Wir Deutschen sind in einer besonderen Situation: Wir waren erwiesenermaßen der „böse Nachbar“, und doch glaubten 90 Prozent unserer Landsleute daran, die „Frommen“ zu sein. Auch die Demokratie hat daran nichts geändert: Beim Angriff auf Afghanistan 2001 leisteten wir dem Angreifer „uneingeschränkte Solidarität“ (Bundeskanzler Schroeder). Man glaubt den Medien der eigenen Seite und kann (und will) die ganze Wahrheit nicht erfahren. 

„Si vis pacem para bellum“ ist die simple Logik des Krieges: Ich selbst muss für meine Sicherheit sorgen und meine Interessen wahren. Wenn ich genügend gerüstet bin, bin ich vor dem potentiellen Gegner sicher. Es gibt aber keine Grenze für meine Rüstung, denn ich weiß nicht, was der Andere plant. Ich sollte ihm auf jeden Fall überlegen sein. Noch besser ist es, wenn ich im Voraus die Möglichkeit seines Angriffs verhindere. Deshalb kann ein rechtzeitiger eigener Angriff meine beste Verteidigung sein. Wenn ich Verteidigungsbereitschaft als notwendig ansehe, muss ich ggf. auch zum Angriff bereit sein. „Und so steigern sich beide bis zum äußersten, ohne daß es andere Schranken gäbe als die der innewohnenden Gegengewichte“ (Clausewitz: Vom Kriege). 

Vor 75 Jahren, am 6. August 1945 um 8:15 Ortszeit warf ein einzelnes Flugzeug eine Atombombe über Hiroshima ab, die in Sekunden 90 Prozent der Innenstadt zerstörte und in 10 km Umkreis Brände entfachte. Mehr als 70 000 Einwohner starben auf der Stelle; die oberen Hautschichten verdampften buchstäblich. Noch weit mehr starben später an der Strahlung. Menschengemachtes Inferno. Drei Tage danach folgte Nagasaki.

Die Kriegslogik führt fast notwendig zum Krieg bis hin zur vollständigen Vernichtung, denn sie blendet andere Lösungen systematisch aus. Es ist unsere Aufgabe, sich mit diesem Denken und seinen Quellen auseinanderzusetzen, um uns dagegen zu immunisieren. Der Glaube an Gott wäre eine Möglichkeit dafür, aber noch in allen Kriegen wurde Gott zum Stammesgott erniedrigt und vor den eigenen Karren gespannt, im Widerspruch zu unserem Glaubensbekenntnis: CREDO IN UNUM DEUM – ich glaube an den einen Gott. 

Der Logik des Krieges gegenüber steht die sehr viel schwierigere Logik des Friedens. Friedenslogik ist bejahendes Mitdenken der lebenswichtigen Interessen und Bedürfnisse aller, auch aller Gegner, „denn alle Kreatur braucht Hilf von allen“ (Bert Brecht). Politische Verantwortung wäre demnach Verantwortung gegenüber allen Betroffenen der eigenen Politik, nicht nur gegenüber der eigenen Klientel. Die gewaltsame Durchsetzung eigener politischer Interessen, auch noch so berechtigter, muss etwas Undenkbares werden, wie eben der Mord für die meisten Menschen als Handlungsoption undenkbar ist. Das müssen wir auch unseren Politiker*innen sagen: Ihre Verantwortung für unsere Sicherheit endet dort, wo die Sicherheit anderer bedroht werden könnte. 

Aber Friedenslogik beginnt viel früher: Bereits das Schlecht-Reden des möglichen Konkurrenten ist ein Akt der Feindschaft. „Suche den Frieden“ heißt: Suche das Gute beim Gegner, persönlich und kollektiv, und wehre denen, die über seine Fehler herziehen, die eigenen aber übersehen. Ein Beispiel: Dass Gewaltfreiheit (Satyagraha = Festhalten an der Wahrheit) in einer bis zum Platzen gewalterfüllten Welt Heilung bringen kann, ist historisch vielfach erwiesen und muss intensiv bedacht werden. Die Forderung nach Gewaltfreiheit richtet sich aber an uns selbst, an die eigene Seite; wird sie an Gegner gestellt, womöglich an Schwächere, kann sie zu feindlicher Propaganda werden; unsere eigene Gesellschaft ist ja alles andere als gewaltfrei.

„Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“ (Mt. 7, 12)

 

Jost Eschenburg ist im Vorstand von Pax Christi Augsburg.

 

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