ungehaltener Redebeitrag für den geplanten Ostermarsch Rügen in Sassnitz am 13. April 2020

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Hiermit möchte ich alle digitalen Teilnehmer*innen des traditionellen Osterspaziergangs in Sassnitz im Jahr 2020 grüßen. Ein Osterspaziergang und ein Osterfest: so einmalig, besonders und außergewöhnlich, wie wohl noch nie zuvor.  Zur anhaltenden als Corona-Krise bekannten Pandemie des COVID-19 Virus und den Einschränkungen des öffentlichen Lebens haben sicher schon meine Vorredner*innen (oder besser Vorschreiber*innen) ein paar Worte verloren. Aber auch in diesen außergewöhnlichen Zeiten bleibt das Thema Frieden, das uns alle bewegt, präsent. Denn die Kriege und Krisen in dieser Welt pausieren nicht. Daher bin ich sehr froh und dankbar, dass die Organisator*innen andere Möglichkeiten gefunden haben, diese Veranstaltungen zu organisieren.  Auch wenn es uns allen schwerfällt, die Veränderungen unseres Alltags zu bewältigen, geht es in anderen Teilen der Welt genauso weiter wie vorher. Das ist wohl die fast noch schwerwiegendere Krise.

Während sich innerhalb Europas die Menschen solidarisch zeigen, Nachbarschaftshilfen organisieren, Initiativen starten und versuchen die Corona Krise zusammen zu bewältigen, sind abertausende Menschen auf Lesbos und in weiteren Flüchtlingslagern auf engstem Raum und unter unvorstellbaren Bedingungen eingesperrt. Diese Krise der Menschlichkeit, spielt sich neben allen Brennpunkten und Spezialsendungen ab. Mitten in Europa, häufen sich Meldungen von willkürlichen und brutalen griechischen Behörden und Übergriffen von Faschist*innen und Neonazis, die aus ganz Europa anreisten. Die Mitgliedsstaaten der EU waren weder vor, -noch während der „Corona-Krise“ bereit, diese 20.000 Menschen aufzunehmen. Sie nahmen die inhumanen Zustände einfach hin. Und dann werden Ausnahmeregelungen für osteuropäische Feldarbeiter*innen beschlossen, damit der deutsche Spargel geerntet werden kann. 60.000 Menschen sollen einreisen dürfen, denn die Würde des Spargels ist unantastbar. Oder ging das anders?

Gleichzeitig aber verlangen alle, sobald sie selber in eine Krise geraten, nach genau dieser Solidarität. So viele, die vorher bei keiner Gelegenheit ausließen, zu sagen wie ineffizient und aufgeblasen der deutsche Beamtenapparat wäre, die Privatisierungen forderten, auf die „faulen“ Bezieher*innen von staatlicher Hilfe herunterblickten und schimpften wenn es um Steuern, Abgaben und Regularien ging, rufen jetzt nach staatlicher Hilfe, wenn nicht sogar Rettung. Läden von Adidas und weiteren Weltkonzernen weigern sich Miete zu zahlen, nachdem sie vorher Cafés und kleinere Läden, die sich die Miete eben dort nicht mehr leisten konnten, aus den Innenstädten gedrängt hatten.

Am Ende bleibt stehen, der Markt regelt gar nichts. Weder die Preise und Anzahl für und vom überlebenswichtiger Schutzkleidung oder Masken, die Finanzierung und Ausstattung der Krankenhäuser oder die gerechte Bezahlung der „systemrelevanten“ Berufe. Dort überall versagt der Markt, sobald die erste Krise kommt. Am Ende rettet uns keine unsichtbare Hand. Ohne die Solidarität aller, ohne die systemrelevanten Berufe, ohne die ausreichende Finanzierung des Gesundheitssystems, ohne einen funktionierenden Sozialstaat und ohne einen starken, handlungsfähigen Staatsapparat schafft man es nicht durch eine Krise. Wenn diese Einsicht die Krise überdauert, kann man dem allen vielleicht sogar etwas halbwegs Gutes abgewinnen.

Aber es gibt noch eine (vielleicht noch wichtigere) Einsicht in der aktuellen Zeit. Während sich die Demokratie in Deutschland und anderen Ländern handlungsfähig und entschlossen zeigt, versagen Faschist*innen, Autoritäre und die sogenannten Rechtspopulist*innen auf der gesamten Welt.

Die Trumps, Bolsonaros und Johnsons dieser Welt leugneten im Nebel der „alternativen Fakten“ diese Krise und sind jetzt am schwersten davon betroffen und am wenigsten vorbereitet. Aber vor allem in Deutschland zeigt sich, die sogenannte „AfD“ braucht kein Mensch. Sie können in unnachahmbarer Manier Probleme aus dem nichts her schaffen, hetzen und demokratische Institutionen sabotieren. Sobald es aber um Antworten geht, die über das Schließen von Grenzen hinausgehen, versagen sie auf kompletter Linie. Während überall Veranstaltungen abgesagt werden und Menschen dazu aufgerufen werden zu Hause zu bleiben, trifft sich die AfD hier in Sassnitz zur Eröffnung ihres Büros. Eng aneinander gereiht ohne jedes Verantwortungsbewusstsein. Wenige Tage später schreiben sie dann heuchlerisch auf ihren Facebookseiten von „pubertären Jugendlichen“ die sich zu „Corona Partys“ treffen würden. Mit einer Doppelmoral wie eh und je schaffen die ewig gestrigen und ewig pubertierenden Höcke-Jubler*innen es mal wieder nur Menschen gegeneinander aufzuhetzen, ohne auch nur ein Problem zu lösen.

Aber trotz der Unfähigkeit der Neofaschist*innen darf man sie nicht verharmlosen. Egal ob der Mord an Walter Lübcke, der Terroranschlag von Hanau oder die unzählbaren Angriffe auf Geflüchtete oder demokratische Institutionen, wie in Greifswald und Stralsund, zeigen die Gefahr ebendieser. Dass dann diese Gegner*innen einer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft in allen Parlamenten, von der kommunalen Ebene bis zum Bundestag sitzen, zeigt, dass diese Kräfte eine ernstzunehmende Gefahr für alles ist, was seit dem Ende des Nazi-Regimes erkämpft wurde.

Wie ihr alle wisst, wird die AfD auf Rügen in kommunalen Parlamenten von „Wählergruppen“ und anderen Parteien in Bündnissen in Mehrheiten eingebunden und in kommunale Entscheidungsprozesse integriert. Damit passiert hier vor Ort auf kommunaler Ebene das, wovor in ganz Deutschland gewarnt wird. Die AfD befindet sich nicht mehr nur auf dem Weg zur Macht, mit der Hilfe eigentlicher Demokrat*innen sind sie es teilweise schon. Das wiegt noch schwerer, wenn man bedenkt, dass der ehemalige „Flügel“, der vom Verfassungsschutz als Gefahr für die Demokratie in Deutschland eingeschätzt und beobachtet wurde, hier auf Rügen sehr präsent ist und die Funktionäre der AfD auf Rügen fast ausnahmslos Mitglieder des Flügels waren.

Wohin die Machtübertragung des Bürgertums an Feinde der Demokratie führte, mussten wir in Deutschland schon erfahren. Dass sich das in unvergleichbarer Geschichtsvergessenheit wiederholt, ist unverantwortlich.

Aber es geht auch anders. Das haben wir auf Rügen gezeigt. Am 23.11.2019 haben sich über 600 Demokrat*innen des gesamten Spektrums einer diversen und offenen Gesellschaft gegen Höcke und den Flügel  gestellt und gezeigt, dass Rügen mehr ist und die Demokrat*innen auf Rügen mehr sind. Friedlich und offen für alle standen wir draußen, während sich der Flügel und seine Anhänger*innen drinnen abgeschottet haben.

Das zeigt, was man erreichen kann, wenn Demokrat*innen zusammen stehen und gemeinsam agieren, abseits aller politischen (aber innerhalb des demokratischen Spektrums ertragbaren) Differenzen und Konflikte. Aber damit ist noch nicht viel gewonnen. 2021 sind Landtags- und Bundestagswahlen. Der Aufwind der Rechten muss dort gestoppt werden. Hier und überall. Dazu müssen und können wir alle beitragen. Denn wenn irgendetwas den Frieden, den wir in Deutschland und in Europa genießen dürfen bedroht, dann sind es diese Hetzer*innen und Feinde einer offenen Gesellschaft.

Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit und bleibt gesund!

 

Marvin Müller ist stellv. Vorsitzender des SPD Kreisverbanden Rügen-Hiddensee.

 

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