Redebeitrag für die Antikriegstagsveranstaltung am 1. September 2022 in Bremerhaven

 

- Es gilt das gesprochene Wort! -

 

Die Waffen nieder! Stoppt den Krieg in der Ukraine!

 

Liebe Freundinnen und Freunde des Friedens,

vor gut einem halben Jahr begann Russland einen völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine mit verheerenden Folgen, auch für die Zivilbevölkerung:

allein 5.663 getötete Menschen, zusätzlich 365 Kinder – Stand 28.8.22 (UNHCR), 8.055 Verletzte, zusätzlich 623 Kinder;

Tausende getöteter Soldaten auf beiden Seiten – die Angaben variieren interessenbedingt je nach militärischen Akteuren zwischen 15.000 und 40.000 Soldatinnen und Soldaten auf jeder Seite.

Die zerstörte Infrastruktur, Wohnungen, Häuser, Straßen, Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser, die materiellen Verluste sind immens, und die Kosten beziffern sich schon jetzt auf geschätzte 500-600 Milliarden Euro, also gigantische Summen.

Wir lernen – angesichts der Streubomben und anderer Munition in den Böden – dass der Krieg, nicht nur in der Ukraine, der größte Umwelt-Killer überhaupt ist. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die Reste beseitigt sind – die Bundesrepublik kennt das Problem, fast jede Woche wird eine 2.Weltkriegs-Bombe entschärft. Und wir sind hier in Bremerhaven: in der Nord- und Ostsee lauern noch immer Mio. von Tonnen Kriegsschrott aus dem 2.Weltkrieg mit giftigen Gefahren für Menschen, Fische und Pflanzen auf Jahrzehnte hinaus. Ist das nicht allein schon Grund genug, um mit dem Vergiften, Verseuchen und Morden aufzuhören?

Wir sind aus prinzipiellen Gründen gegen jede Form von Krieg, egal ob in Afghanistan, in Mali, im Sudan, in Eritrea oder in Syrien und im Jemen, wo ebenfalls seit Jahren täglich hundertfach gemordet wird.

Die Waffen nieder! Dieser pazifistische Satz der Friedensaktivistin Bertha von Suttner gilt auch heute uneingeschränkt.

Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine beträgt mindestens 11,6 Mio., der Löwenanteil wird von den Nachbarstaaten in Osteuropa getragen, die sich in der Flüchtlingskrise 2015 ff. wenig solidarisch gezeigt haben. Sonntags in der Kirche die Universalität der Menschenrechte predigen und werktags die Grenzen für syrische und afghanische Flüchtlinge schließen. Diese christlich verbrämte Heuchelei machen wir nicht mit! Das Asylrecht gilt für alle - unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Religionszugehörigkeit!

Seit Beginn des Ukraine-Krieges haben wir feststellen müssen, dass sich über die Generationen hinweg eine bellizistische Strömung breit gemacht hat. Die Macht der Medien hat hier kräftig mitgewirkt, aber auch die anderen Säulen unserer Gesellschaft - mit einer unkritischen Haltung gegenüber der Politik der ukrainischen Regierung und einer an Russophobie grenzenden Verdammung der russischen Regierung, personifiziert im Präsidenten Putin. Sowenig man ihn von seiner verantwortungslosen Kriegspolitik freisprechen kann, so ist es geradezu pervers, eine solche Personalisierung vorzunehmen (Antikommunismus – Anti-Russland – Anti-Putinismus usf.). Die dahinterstehenden Apparate, der militärisch-industrielle Komplex in Russland, die Großmachtpolitik mit reichsmythologischer Begründung, das ganze System der Oligarchen, die orthodoxe Kirche, die eigene Kriegsrhetorik sprechen eine deutliche Sprache. Die Vorgeschichte des Kriegsausbruchs in die Analyse einzubeziehen und gar zu „verstehen“, macht uns deshalb noch lange nicht zu „Putin-Verstehern“, wie uns rechte Propaganda hierzulande weißmachen will. Eine solch kriegerische Reaktion der russischen Regierung können wir Friedensbewegten weder verstehen noch gutheißen.

Der mediale Monopolpluralismus – manche fühlten sich an den August 1914 erinnert – hat den Meinungsspielraum verengt, weshalb wir ihn schrittweise erweitern und wiederherstellen müssen. Das ist eine unserer zentralen Aufgaben, über so existenzielle Fragen in einer Demokratie wie Krieg und Frieden mitreden und mitentscheiden zu können.

D.h. z.B., dass wir über die Entscheidungen der letzten Wochen – über die 100 zusätzlichen Milliarden für die Bundeswehr, über die Lieferung von sogenannten „schweren Waffen“ an die Ukraine, über die Ausweitungsgefahr dieses Krieges über die Ukraine hinaus und den Mythos vom „Siegfrieden“ sprechen müssen. Und über die sozialen Folgen für die Bevölkerungsmehrheit (Gas-Umlage, staatliche Kompensationszahlungen, etc.). Außenministerin Baerbock sprach von Kriegsmüdigkeit in der deutschen Bevölkerung und jüngst davon, wie schon NATO-Generalsekretär Stoltenberg, dass der Krieg noch Jahre dauern könne. Lieber kriegsmüde als kriegsbegeistert, lautet meine Antwort an die Außenministerin. Dem bellizistischen Geschrei von gestern folgt die Ermüdung, oder besser: Ernüchterung von heute, wenn die Auswirkungen konkret werden. Inflation, Gas- und Lebensmittelpreise, Benzin an den Zapfsäulen galoppieren in astronomische Höhen. Die Menschen werden zu Recht unruhig. Friedensbewegung, Ökologiebewegung und Gewerkschaftsbewegung haben eine große gemeinsame Schnittmenge in ihren Forderungen. Lasst uns die vermeintlichen oder tatsächlichen Differenzen überwinden und die Umschichtung der Militärausgaben für die dringend notwendigen sozialen und ökologischen Aufgaben fordern. Es geht um nichts weniger als um die Rettung dieser unserer Welt: Klimakrise, Gesundheitskrise und Krieg sind die größten Bedrohungen für die Menschheit und verstärken das Gefahrenpotential wechselseitig.

Was soll das Gerede vom langen Krieg in der Ukraine? Die Bevölkerung soll offensichtlich auf eine lange militaristische Durststrecke eingestimmt werden – der Kriegsunterstützung nach außen folgt die Mobilisierung im Inneren. Ein sehr altes Muster, das Annalena Baerbock aus ihren völkerrechtlichen und hoffentlich auch historischen Studien eigentlich kennen müsste. Die Waffen müssen zuerst schweigen, das ist das Gebot der Stunde – ich bin Joachim Schuster, dem SPD-Europaabgeordneten für HB und BRV dankbar für seine Initiative für einen Waffenstillstand. Die Außenministerin ist in dieser Hinsicht überhaupt nicht aktiv, stattdessen predigt sie ein militärisches „Weiter so!“ mit unzähligen Toten und weiterer Zerstörung und Verwüstung des Landes. Welch ein katastrophaler Wandel von „basisdemokratisch und gewaltfrei“ 1983 zur Kriegsrhetorik 2022. Joschka Fischer hatte diesen historischen Umfall schon 1999 im Falle des Kosovo und Jugoslawiens vorexerziert.

Der abstrakte Appell an den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft (früher hieß das: Volksgemeinschaft) klingt mehr als hilflos: Konzerne des Gasimports (z.B. Uniper) erhalten ab Oktober eine von allen Bürgern bezahlte Gas-Umlage, weil der Wirtschaftsminister angeblich die Verflechtungen des Gasmarkts nicht durchschaut habe. Für wie dämlich halten uns Politiker eigentlich? Die politisch begründete Verknappung der Gaslieferungen durch den Boykott von Nord Stream 2 hat den Marktpreis in die Höhe getrieben. Der Grünen-Wirtschaftsminister verhält sich in diesem Punkt wie ein CDU- oder SPD-Minister in der Vergangenheit: Die sozialen Folgen der nicht allein durch den Krieg induzierten Energiekrise und der Inflation werden in fast klassisch neoliberaler Weise „abgefedert“. Weder ist das Kartellamt gesetzlich und personell ausreichend ausgestattet, um den Konzernen Paroli zu bieten noch ist der ökonomische Staatsinterventionismus mit dem Willen zum gesellschaftlichen Eigentum, mit Demokratisierung und Mitbestimmung verknüpft (weder bei der Lufthansa noch bei Uniper). Gas, Strom und das Wasser gehören in die öffentliche Hand, welche Rechtsform auch immer, und das demokratisch kontrolliert (Art.14, 15).

Was ich bis jetzt vorgetragen habe, zeigt den engen Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik. Die USA sind mit Abstand die Nation mit den höchsten Rüstungsausgaben, die Bundesrepublik hat sich auf Platz 7 vorgearbeitet. Unsere Regierung stellt diese 100 Milliarden-Politik als alternativlos dar – was sie natürlich nicht ist. Krankenhäuser sind unterversorgt, die Pflegekräfte ausgelaugt, viele Schulen sind in einem maroden Zustand, der Lehrermangel ist bundesweit katastrophal, die Klimakrise und mit ihr der Wassermangel, der Zustand vieler Bäume ist alarmierend, und das Verschwinden von Pflanzen und Tierarten schreitet voran. Zu all diesen ökologischen und sozialen Fragen gibt es Alternativen, aber ihre Realisierung wird von einem herrschenden Block in Ökonomie und Politik blockiert.

Die innenpolitische Blockade wird eingerahmt von einer Konfliktlage in den internationalen Beziehungen, in der der Kampf um die Neuordnung der Welt nach 1990 ins Zentrum gerückt ist. Der westliche Block wird von den USA angeführt, in der NATO militärisch abgesichert und von einem politisch zerklüfteten, durch den Krieg zusammengehaltenen Europa bündnispolitisch gestützt – demgegenüber versuchen China und ein jetzt schon geschwächtes Russland, ihre Rolle in der Welt neu zu finden und den USA Paroli zu bieten. Die USA sehen offensichtlich dem chaotischen Treiben in der europäischen Sicherheitspolitik gelassen zu und kalkulieren Destabilisierung in Europa mit ein. Ob die Ukraine als „Vorfeld“ in einer größeren Auseinandersetzung der USA mit Russland (daher das Einschwören auf einen längeren Krieg) gedacht ist, lässt sich bislang nur vermuten. Eine langfristige Schwächung Russlands an der Seite Chinas dürfte den US-Großmachtinteressen mit militärischer Überlegenheit entgegenkommen („Victory is possible“).

Diese Konstellation birgt riesige Gefahren in sich – insbesondere die Gefahr eines atomaren Infernos, das schon in der Ukraine mit ihren 16 AKWs überdeutlich ist (am Bsp. Saporischschjas „brandaktuell“). Die USA bereiten sich auf den nächsten Großkonflikt vor und provozieren schon länger im südchinesischen Meer und nun mit ihrer milliardenschweren Aufrüstung von Taiwan. Es überrascht kaum, dass die USA den Atomwaffenverbotsvertrag nicht unterzeichnet, ebenso die Bundesrepublik, die sich wie ein Vasall verhält und die Unterzeichnung beharrlich verweigert. Die BRD sollte aber im eigenen Interesse, aber auch im Interesse der EU und des Völkerrechts den Atomwaffenverbotsvertrag sofort unterzeichnen und damit einen Beitrag zur Entspannung in Europa und ein friedliches Signal in Richtung Russland senden – trotz aller Aggression.

Was folgt aus diesen eher analytischen Überlegungen für die Friedensbewegung in der Bundesrepublik und in Bremen?

  • Die am Ukraine-Krieg Beteiligten müssen sofort – unter Federführung der Vereinten Nationen – Verhandlungen aufnehmen mit dem Ziel eines Waffenstillstandes.
  • Die Bundesrepublik sollte jegliche Waffenlieferung an die Ukraine stoppen – auch in andere Kriegsgebiete (Richtlinien für Waffenexport, Kriegswaffenkontrollgesetz), um den Krieg nicht weiter anzuheizen.
  • Die EU muss wieder ein autonomer Faktor in der Friedens-Politik werden, und sich vom Machtkampf USA und NATO – Russland und China abkoppeln.
  • Die geplanten Militärausgaben für die Bundeswehr müssen zugunsten sozialer und ökologischer Dringlichkeitsaufgaben umgeschichtet werden.
  • Friedens-, Ökologie- und Gewerkschaftsbewegung müssen diesen Kurs für eine neue Politik gemeinsam gestalten und durchsetzen.
  • Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sollte ihre besondere Verpflichtung aus dem „Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ vom 12.9.1990 bekräftigen und ihr Handeln daran praktisch orientieren, „die Sicherheit zu stärken, insbesondere durch Maßnahmen zur Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung, ihrer Bereitschaft sich gegenseitig nicht als Gegner zu betrachten, sondern auf ein Verhältnis des Vertrauens und der Zusammenarbeit hinzuarbeiten“.
  • Diese Verpflichtungen sind Bestandteil des Völkerrechts und binden die Bundesregierung auch im Jahr 2022.

 

Gerhard Schäfer ist aktive beim Bremer Friedensforum.