Der Weg in den präventiv-autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat

20 Jahre nach 9/11 – oder: Menschenrechte in Zeiten des Terrors

von Dr. Rolf Gössner
Schwerpunkt
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Die Terroranschläge in den USA vor 20 Jahren haben weit mehr zerstört als das Leben Tausender von Menschen, mehr zerstört als die Skyline von New York, weit mehr getroffen als das Selbstwertgefühl der US-Bevölkerung. Sie setzten national wie international eine Abwehrpolitik in Gang, die zivilisatorische Errungenschaften in Frage stellt und das Selbstverständnis demokratischer Länder beschädigte – auch in Europa und Deutschland, wo sich nach 9/11 die staatliche Sicherheits- und Antiterror-Politik erheblich verschärft und radikalisiert hat. Neben der Beschwörung „unserer westlichen Werte“ erschallt dabei der immer gleiche, letztlich hilflose – aber berechnende – Schrei nach dem starken Staat: nach abermaligen Gesetzesverschärfungen, weiterer Polizei- und Geheimdienst-Aufrüstung, noch mehr Überwachung und Erfassung der Bevölkerung, nach zügiger Abschiebung von Geflüchteten, nach Militäreinsätzen im In- und Ausland …

Aufrüstungsreflexe und Gegenterror
Die sicherheitspolitischen Reflexe speziell auf „islamistische“ Terroranschläge und Anschlagsversuche gehen unvermindert weiter, obwohl doch die Lehren aus den Reaktionen der westlichen Welt auf die Anschläge vom 11.09.2001 längst eine Umkehr gebieten: Denn diese Reaktionen haben weltweit eine Gewaltwelle ausgelöst, die zu Krieg und Terror, Folter und Elend führte – also zu gravierenden Menschen- und Völkerrechtsverletzungen. Und zwar nicht so sehr durch die zahllosen Terrorakte, die wir seitdem erlebten, sondern in weit größerem Maße durch die Art und Weise der Terrorbekämpfung. Ein katastrophaler „Krieg gegen den Terror“ führte zu teils dramatischen Einschränkungen der Bürger- und Freiheitsrechte in westlichen Demokratien und zu wahren Verwüstungen im Nahen und Mittleren Osten. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Irak, der mörderische US-Drohnenkrieg, für den auch Deutschland Mitverantwortung trägt, das US-Foltercamp Guantànamo, das CIA-Folterprogramm sowie die globale Massenüberwachung durch den US-Geheimdienst NSA unter Beteiligung des BND und anderer Geheimdienste sind nur Beispiele für die zahlreichen Exzesse dieses Antiterrorkampfes.

In der Bundesrepublik bescherten uns die Reaktionen auf 9/11 die umfangreichsten Sicherheitsgesetze, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind (2002 ff.). Polizei- und Geheimdienstbefugnisse wurden stark ausgeweitet und Migrant*innen, besonders Muslime unter ihnen, unter Generalverdacht gestellt und einer noch intensiveren Überwachung unterzogen. Tausende von Beschäftigten, die sicherheitsempfindliche Stellen in „lebens- oder verteidigungswichtigen“ Betrieben (etwa Energie-Unternehmen, Krankenhäusern, pharmazeutischen Firmen, Bahn, Telekommunikationsbetrieben) anstreben oder innehaben, werden geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen und ausgeforscht. Und seitdem gab es kein Halten mehr: mehrere „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetze“ folgten mit verdachtsloser Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten der gesamten Bevölkerung, heimlicher Online-Durchsuchung von Computern mit Staatstrojanern, Antiterrorzentren und -dateien, die von Polizei und Geheimdiensten gemeinsam genutzt werden usw.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Selbstverständlich sind Sicherheitspolitik und –behörden verpflichtet, Attentäter und Hintermänner von Anschlägen konsequent und gezielt zu ermitteln und mit geeigneten – aber eben auch mit angemessenen – Maßnahmen für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. Gesetze mit tiefgreifenden Eingriffsbefugnissen gibt es dafür mehr als genug – Vollzugsdefizite und Unzulänglichkeiten leider auch, zumal die Polizei angesichts von Sparmaßnahmen und Personalmangel mit den ihr aufgebürdeten Befugnissen ohnehin längst überfordert ist.

Dass in angsterfüllten Zeiten des Terrors und der (zumeist sozialen) Unsicherheit nur wenige nach dem hohen Preis weiterer staatlicher Aufrüstung fragen, ist zwar nachvollziehbar – aber ziemlich kurzsichtig. Denn mit einer solchen Politik mit der Angst werden oft gerade jene viel beschworenen „westlichen Werte“ beschädigt, die es doch zu schützen gilt: Demokratie, Rechtsstaat und Bürgerrechte, Freiheit, Offenheit und Rechtssicherheit. Außerdem gerät in Vergessenheit, dass es weder in einer hoch technisierten Risikogesellschaft, in der wir längst leben, noch in einer offenen, liberalen Demokratie absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt geben kann.

Verfassungswidrige „Sicherheitsgesetze“ in Serie
Terror und Terrorangst stärken die Staatsgewalt und entwerten Freiheitsrechte – das hat sich seit 9/11 deutlich gezeigt. Tatsächlich mussten Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof für Men-schenrechte in den letzten Jahren mehrfach maßlose Sicherheits- und Antiterrorgesetze ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklären. Erinnert sei nur an den Großen Lauschangriff, die präventive Telekommunikationsüberwachung, die Befugnis im Luftsicherheitsgesetz zum präventiven Abschuss eines entführten Passagierflugzeugs durch das Militär – eine staatliche Lizenz zur gezielten Tötung unschuldiger Menschen. Auch die exzessiven Rasterfahndungen nach „islamistischen Schläfern“ sind für verfassungswidrig erklärt worden, ebenso die anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten der gesamten Bevölkerung (seit 2015 gibt es eine neue Regelung, gegen die auch Verfassungsbeschwerden anhängig sind). 2020 sind das Antiterrordatei- und das BND-Gesetz in Teilen für verfassungswidrig erklärt worden und damit die Praxis der weltweiten strategischen Auslandsaufklärung des BND.

Die Verfassungsgerichte rügen in all diesen Fällen, dass Regierungen und Parlamentsmehrheiten Grund- und Bürgerrechte, die Menschenwürde und den Kern privater Lebensgestaltung unhaltbaren Sicherheitsversprechen und einer vermeintlichen Sicherheit geopfert haben.

Neuere Antiterror-Gesetzespakete
Gleichwohl findet diese Art von „Sicherheitspolitik“ kein Ende: So verabschiedete der Bundestag 2016 ein Antiterror-Gesetzespaket, mit dem sowohl die Befugnisse des „Verfassungsschutzes“ und des BND als auch die der Bundespolizei abermals erweitert und verschärft wurden. Und nach dem Berliner Anschlag Ende 2016 überschlugen sich die Aufrüstungsvorschläge regelrecht – obwohl doch gerade in diesem Fall eklatante Vollzugsdefizite zu Tage traten, obwohl der mutmaßliche Attentäter Anis Amri bei Sicherheitsbehörden und Terrorabwehrzentrum längst als stark vernetzter, hochmobiler „Gefährder“ und auch Straftäter im Visier war, obwohl er von V-Leuten umgeben war, obwohl der marokkanische Geheimdienst rechtzeitig vor ihm und seinen Anschlagsplänen gewarnt hatte. Alles in allem: Amri hätte vor seinem Attentat mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Verkehr gezogen werden können, so dass dieser Anschlag hätte verhindert werden können. Möglichkeiten gab es jedenfalls genug, aber eben auch – wie sich herausstellte – schwere Versäumnisse, Kontrolldefizite und Fehleinschätzungen der Sicherheitsbehörden. Also ein eklatantes Staatsversagen, das mit dreisten Akten-Manipulationen vertuscht werden sollte und dann auch noch als Anlass für neue Nachrüstungsmaßnahmen herhalten muss.

Statt einer überfälligen Evaluierung der bisherigen Sicherheitsgesetze und ihrer Umsetzung – und einer eventuellen Nachjustierung, wo nötig – werden unzählige weitere Verschärfungen durchgesetzt: „Videoüberwachungsverbesserungsgesetz“ und Videoüberwachung mit Gesichtserkennung im öffentlichen Raum (Pilotprojekt) bis hin zu Befugnissen in den verschärften Polizeigesetzen, „terroristische Gefährder“ präventiv in elektronische Fußfesseln zu legen, um sie einer lückenlosen Aufenthalts- und Kontaktkontrolle zu unterziehen, oder aber wochenlang in Präventivhaft zu stecken – also Menschen, die noch nicht straffällig geworden sind, ihnen dies wegen bestimmter Anhaltspunkte und Mutmaßungen aber polizeilicherseits für die Zukunft zugetraut wird. Hinzu kommen verschärfte Abschiebehaft und -praxis, die polizeiliche online-Durchsuchung mittels Staatstrojanern zur heimlichen Ausforschung von Computern und Handys sowie die Quellen-TKÜ zur Überwachung verschlüsselter Kommunikation.

Mit den neuen Überwachungsbefugnissen kann bereits weit im Vorfeld eines Verdachts oder einer Gefahr tief in Grund- und Freiheitsrechte von Betroffenen und Unbeteiligten eingegriffen werden. Man könnte angesichts dieser Entwicklung auch von ausufernden „Notstandsgesetzen für den Alltag“ sprechen, von Verstößen gegen die Unschuldsvermutung und von einem kaum noch kontrollierbaren Sicherheitsstaat, in dem der Mensch allmählich zum Sicherheitsrisiko mutiert, Rechtssicherheit und Vertrauen der Bürger*innen mehr und mehr verloren gehen.

Neue Sicherheitsarchitektur
Im Zuge der Antiterrorpolitik nach 9/11 erleben wir auch einen dramatischen Strukturwandel hin zu einem bisherige Grenzen überschreitenden präventiv-autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat. So kommt es seit Jahren nicht nur – entgegen dem verfassungskräftigen Trennungsgebot – zu einer machtkonzentrierenden Vernetzung von Polizei und Geheimdiensten, sondern – neben der Militarisierung der Außenpolitik – auch zu einer Militarisierung der „Inneren Sicherheit“. Im Mittelpunkt steht dabei der Bundeswehreinsatz im Inland, der noch ausgeweitet und abgesichert werden soll – unter Missachtung jener wichtigen Lehre aus der deutschen Geschichte, wonach Polizei und Militär, ihre Aufgaben und Befugnisse strikt zu trennen sind.

Selbst in Friedenszeiten – also ohne militärischen Angriff von außen – soll die Bundeswehr im Inneren des Landes flexibler eingesetzt werden. So sieht es das „Weißbuch“ 2016 des Verteidigungsministeriums vor. Und zwar nicht nur im bereits zulässigen Fall von Katastrophen und schweren Unglücken, nicht nur im Spannungs- oder Notstandsfall nach den umstrittenen Notstandsgesetzen der 60er Jahre, sondern auch als eine Art nationale Sicherheitsreserve im Inland, als „Hilfspolizei“ mit eigenen hoheitlichen Kompetenzen und militärischen Mitteln.

Doch „Innere Sicherheit“, Terror- und Gefahrenabwehr sind klassische Aufgaben der Polizei, nicht der Bundeswehr. Soldat*innen sind keine Hilfspolizist*innen, sie sind nicht für polizeiliche Aufgaben nach dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern zum Kriegführen ausgebildet und mit Kriegswaffen ausgerüstet; und sie sind auch nicht dafür da, real existierende personelle Defizite bei der Polizei auszugleichen.
Insgesamt gesehen gibt es eine fatale Tendenz dieser Art von Sicherheitspolitik und Antiterrorkampf, den Rechtsstaat radikal umzubauen, die verfassungsrechtlichen Grenzen zwischen Polizei und Geheimdiensten zu schleifen, die Grenzen zwischen Innerer Sicherheit und Außenpolitik, zwischen Verteidigung und Intervention, Militär und Polizei zu verwischen sowie das Instrumentarium des Ausnahmezustands zu schärfen.

Symptom- statt Ursachenbekämpfung
Spätestens hier stellt sich die Frage: Soll der Staat mit diesem forcierten Umbau der Sicherheitsarchitektur und der Anhäufung von präventiven Kontroll- und Repressionsinstrumenten auf Vorrat womöglich nicht nur vor Gewalt und Terror, vor Katastrophen und Unglücken geschützt werden? Wappnen sich Staat und auch EU nicht nur gegen kriegerische Angriffe von außen, sondern vorsorglich auch gegen mögliche soziale Unruhen und militante Aufstände im Inland sowie gegen unkontrollierte Flucht- und Migrationsbewegungen? Just in Zeiten verschärfter ökonomisch-sozialer Krisen und starker sozialer Spaltung und Spannungen in Deutschland und Europa, denen – gerade auch mit der Corona-Krise – eine noch weit tiefere soziale Spaltung droht, wie sie etwa die Hilfsorganisation „Oxfam“ prognostiziert hat.

Mit ihrer Art von Antiterrorkampf zeigen sich Bundesrepublik und EU sowie die Mehrheit ihrer Mit-glieds¬staaten im Übrigen weitgehend ignorant gegenüber den tatsächlichen Gründen und Ursachen von Terror, Gewalt und Flucht, an denen westliche Staaten, Staatengemeinschaften wie EU und NATO maßgeblich beteiligt waren und nach wie vor sind und denen Millionen von Menschen außerhalb Europas zum Opfer fielen und weiterhin fallen. Insbesondere die Militärinterventionen seit 9/11 im Namen von Sicherheit und Freiheit haben die Welt nicht sicherer und nicht freier gemacht und auch den Terrorismus letztlich nicht eingedämmt – im Gegenteil: Krieg ist seinerseits Terror und gebiert immer neuen Terror und neue Terroristen.

Weitere Ausführungen und Quellen in: Gössner, Datenkraken im Öffentlichen Dienst, Köln 2021, S. 275 ff.
Dr. Rolf Gössner ist Jurist und Publizist, Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitherausgeber des „Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ (Fischer-TB, Ffm) und der Zweiwochenschrift „Ossietzky“. Autor zahlreicher Bücher zu „Innerer Sicherheit“, Bürgerrechten und Demokratie – zuletzt: „Datenkraken im Öffentlichen Dienst. ‚Laudatio’ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat“, PapyRossa Verlag, Köln 2021.

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Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt/Publizist, Vizepräsident der Int. Liga für Menschenrechte (www.ilmr.de). Stellv. Richter am Bremischen Staatsgerichtshof, Mithrg. des „Grundrechte-Report“, Mitglied der Jury des Negativpreises „BigBrotherAward“. Autor zahlreicher Bücher zu bürgerrechtlichen Themen. Internet: www.rolf-goessner.de.