Von „law and order“ Operation zum landesweiten Bürgerkrieg

Äthiopien

von Wolfgang Heinrich

Am 4. November 2020 begann Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed Ali in dem Bundesland Tigray eine militärische Offensive, die er als „Operation zur Durchsetzung von Recht und Ordnung“ bezeichnete (Siehe Friedens Forum 2/2021). Er erklärte zu Beginn, dass es „nur“ darum gehe, die in Tigray regierende Tigray Peoples Liberation Front (TPLF) von der Macht zu entfernen. Obwohl die äthiopische Regierung sich bemühte, die Wahrnehmung der Ereignisse zu bestimmen, indem sie Telefon- und Internetverbindungen abschaltete und den Zugang unabhängiger Medien und Berichterstatter*innen unterband, häuften sich sehr schnell Informationen über unfassbare Grausamkeiten. Bereits wenige Wochen nach Beginn der Offensive wurde erkennbar, dass der Krieg vor allem gegen die Bevölkerung Tigrays geführt wurde.

In einem öffentlichen Hearing im April 2021 vor dem G20-Gipfel berichteten Vertreter*innen der Vereinten Nationen, der US-Regierung und der Europäischen Kommission, dass die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur wie die Treibstoff-, Strom- und Wasserversorgung, Krankenhäuser, Schulen, Kirchen und Moscheen systematisch angegriffen und zerstört werden. Bis April 2021 seien über 130 Massaker an Zivilist*innen registriert und untersucht wurden. Bei einem sei die Täterschaft noch nicht hinreichend geklärt. Die Übrigen könnten „ganz klar“ der äthiopischen Armee (Ethiopian National Defence Forces ENDF) und ihren Verbündeten zugeordnet werden. Zudem werden nach übereinstimmenden Berichten der VN, humanitärer Hilfsorganisationen und unabhängiger Beobachter*innen Massenvergewaltigungen und Hunger seitens der Regierungstruppen und ihrer Verbündeten systematisch als Instrumente der Kriegführung eingesetzt.

Ethnisches Profiling und Verfolgung
Parallel zum Krieg führt die Regierung eine Kampagne der ethnischen Diskriminierung im ganzen Land. Tigrayer*innen werden in Reden von Partei- und Regierungsfunktionären zu Feinden erklärt. Abiy Ahmed machte Schlagzeilen, als er am 18. Juli die TPLF als „Krebsgeschwür“ und als „Unkraut“ bezeichnete, das „ausgerottet“ werden müsse, was viele seiner Unterstützer*innen unwidersprochen auf Tigrayer*innen bezogen. Tigrayer*innen, die in UN-Missionen als Angehörige äthiopischer Kontingente Dienst taten oder an äthiopischen Botschaften tätig waren, wurden abberufen. Ämter und Behörden wurden angewiesen, Tigrayer*innen zu entlassen, NROs erhielten amtliche Schreiben, gleiches zu tun. Geschäfte und Betriebe von Tigrayer*innen in Addis Ababa und anderen Städten wurden geschlossen, Bankkonten eingefroren. Diese Kampagne läuft weiter.

Krieg und Wahlen
Während die Regierung in Tigray Krieg gegen die Bevölkerung führte, ließ sie von der Nationalen Wahlkommission die 2020 verschobenen Wahlen organisieren. Am 21. Juni wurde in 80 Prozent der Wahlkreise außerhalb Tigrays gewählt. In den übrigen 20 Prozent mussten die Wahlen aus Sicherheitsgründen auf September 2021 verschoben werden. Abiys im Dezember 2019 aus den Überresten der früheren EPRDF gegründete Prosperity Party (PP) hatte deren Funktionärsapparat und Parteistrukturen bis hinunter auf die kommunale Ebene übernommen. Oppositionsparteien waren, soweit sie deutlich in Opposition zu Abiys Politik standen, bereits ab 2019 durch die Verhaftung ihrer Führungen und – etwa im Bundesland Oromia –, die Inhaftierung von zehntausenden Parteikadern auf lokaler Ebene und die Schließung von lokalen Parteibüros in eine aussichtslose Lage manövriert worden. So konnte Abiy am 10. Juli stolz verkünden lassen, dass er einen „Erdrutschsieg“ eingefahren habe. Von 547 Sitzen im Bundesparlament erhielt die PP 410 Sitze, 11 Sitze gingen an – mit der PP kooperierende – Oppositionsparteien, der Rest an „unabhängige“ Kandidat*innen.

Einseitiger Waffenstillstand und die Eskalation des Krieges
In einer überraschenden Wendung erklärte Premier Abiy eine Woche nach den Wahlen am 28. Juni einen „einseitigen Waffenstillstand“ und ließ den größten Teil der ENDF-Truppen aus Tigray abziehen. Er wolle „der tigrayischen Bevölkerung die Gelegenheit geben, ihre Felder zu bestellen und zur Ruhe zu kommen“. Seine im November 2020 eingesetzte Übergangsverwaltung floh über Nacht aus Tigray.

Nach großen Verlusten zu Beginn des Krieges hatten die Tigray Defence Forces (TDF) sich in unzugängliche Gegenden zurückgezogen und sich dort offenbar neu organisiert. Ab Anfang 2021 hatte die Intensität der Kämpfe zwischen ihren Truppen und den Truppen der Regierung und ihrer Verbündeten stetig zugenommen. Am 28. Juni nahmen Truppen der TDA die Hauptstadt Mekelle wieder ein. Die TPLF erklärte ihre Bereitschaft, über einen Waffenstillstand zu verhandeln, sobald drei Kernforderungen erfüllt seien: Alle äthiopischen Soldaten und „fremden Truppen“ sollten tigrayisches Gebiet geräumt haben, der freie und unbehinderte Zugang zu humanitärer Hilfe müsse gegeben sein und eine unabhängige Untersuchung von möglichen Kriegsverbrechen müsse vereinbart sein.

Alle Bemühungen internationaler und lokaler Akteure, Abiy dazu zu bewegen, Verhandlungen aufzunehmen, prallen bisher ab. Die US-Regierung und die EU drängen unverändert auf Verhandlungen, die USA haben erste gezielte Sanktionen verhängt.

Der Zerfall des Staates
Die TDF ist inzwischen in drei Richtungen weit über die Grenzen Tigrays in Richtung auf Addis Ababa vorgedrungen. Die Regierung Tigrays erklärte den Vorstoß damit, dass sie sicherstellen wolle, dass Tigray nicht erneut angegriffen werden könne und dass die Straßenverbindungen von Djibouti nach Tigray nicht länger von der Regierung blockiert und humanitäre Hilfe unterbunden werden könne. Gleichzeitig hat im Bundesland Oromia die Oromo Liberation Army (OLA) ihre Operationen verstärkt und kontrolliert inzwischen weite Gebiete nördlich und westlich von Addis Ababa sowie im Süden an der Grenze zu Kenia. Die ENDF ist nach Einschätzung von Militärbeobachtern durch hohe Verluste an Personal und Gerät in ihrer Kampffähigkeit entscheidend geschwächt. Aber auch die zivile Verwaltung löst sich auf. Deutliches Indiz dafür ist, dass selbst in Addis Ababa die Sicherheitsorgane Gerichtsurteile öffentlich sichtbar einfach ignorieren und zum Beispiel vom Gericht frei gesprochene politische Gefangene im Gerichtsgebäude wieder festnehmen und verschwinden lassen.

Seit Kurzen reden Sicherheitsforscher über eine „Kriegslage im ehemaligen Staat Äthiopien“.

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Rubrik

Krisen und Kriege
Dr. Wolfgang Heinrich hat als Mitarbeiter europäischer Nichtregierungsorganisationen über 30 Jahre in und zu der Region am Horn von Afrika gearbeitet. Wissenschaftlich befasst er sich seit 1978 vor allem mit Äthiopien und Somalia.