Was und zu welchem Ende lässt sich aus der Geschichte lernen?

Anmerkungen zur gemeinsamen Sicherheit in Europa

von Ulrich Wohland
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Krieg ist immer eine politische Option. Solange die Menschheit dieser Option nicht prinzipiell abgeschworen hat, muss Politik darauf gerichtet sein, Kriege zu verhindern. (1) Außenpolitik liegen immer auch Macht- und nationale Interessen sowie Geopolitik zugrunde. Geopolitik wird besonders relevant, wenn Nationen sich als nicht „abgeschlossen“, als geografisch nicht „saturiert“ verstehen. In Mitteleuropa stand z. B. Deutschland, bedingt durch seine geopolitisch ungeklärte Rolle, fast 100 Jahre lang für eine aggressiv expansive Politik. Für Russland spielen seit dem Mittelalter bis heute ungeklärte Grenzen in Richtung Westen eine zentrale Rolle. (2)

Gegenüber tendenziell expansiven Nationen muss Außenpolitik darauf gerichtet sein, solchen Nationen keine Möglichkeit zu bieten, militärisch aktiv zu werden. Im Sinne einer kollektiven Friedenssicherung und bezogen auf russische Interessen wurde dieser Gedanke in den vergangenen 30 Jahren von der europäischen und amerikanischen Außenpolitik nicht beachtet. Gemeinsame wirtschaftliche Interessen, z. B. „Euro gegen Gas“ oder „Handel durch Wandel“ oder die beständige Erweiterung der NATO nach Osten, waren kein Garant für langfristige friedenspolitische Stabilität. Auf Seiten der deutschen Politik unter Kanzlerin Merkel war kein Konzept kollektiver europäischer Friedenssicherung zu erkennen. Auf Seiten der amerikanischen Außenpolitik wurde eine Politik der Einkreisung und Eindämmung betrieben.

Es ist geboten, heute schon Kriterien für ein europaweites kollektives Sicherheitssystem nach dem Krieg in der Ukraine zu entwickeln. Ein Blick in die Geschichte mag uns dabei helfen. Was können wir aus historischen Beispielen lernen?

Der Wiener Kongress 1814/15
In der Geschichtswissenschaft wird die Architektur der Friedensordnung von 1814/15 immer wieder als gelungenes Beispiel eines vergleichsweise stabilen Ordnungsrahmens für Europa hervorgehoben. (3)

Folgende Kriterien für einen stabilen Friedensschluss im europäischen Kontext können aus den Verhandlungen des Wiener Kongresses abgeleitet werden.

  1. Die unterlegene Nation sollte bei den Verhandlungen zu einer neuen europäischen Ordnung als weitgehend gleichberechtigt, also nicht als „Paria“, behandelt werden, bzw. „so früh wie möglich wieder als vollgültiges Mitglied in die Gemeinschaft der Großmächte zurückzuführen“ sein. (Duchardt S. 20) (4)
  2. Die unterlegene Nation sollte nicht bestraft werden, z. B. mit Reparationsforderungen oder Gebietsabtretungen.
  3. Es gilt, europäische Instrumente aufzubauen, um Machtrivalitäten und Interessenkonflikte zwischen Staaten kooperativ abzubauen.
  4. Die relevanten Nationen sollten sich der Idee einer Balance of Power, einem Gleichgewicht der Mächte, verpflichtet fühlen.

Der Friedensvertrag von Versailles 1919
Wenn wir auf der Folie dieser Maximen einen kurzen Blick auf den Friedensvertrag von Versailles 1919 werfen, wird sichtbar, dass bei einer ganzen Reihe von Punkten ein anderes Vorgehen gewählt wurde. Inhalt des Vertrages waren z. B. einseitige Schuldzuweisung, weitgehender Ausschluss von Deutschland aus den Verhandlungen, astronomische Reparationsforderungen, umfangreiche Gebietsabtretungen, Ausschluss Deutschlands aus dem europäischen Mächtekonzert durch weitgehende Entmilitarisierung (nationale Kränkung!). Damit war die Saat gesät für Ressentiments und Revanchegedanken.

Wandel durch Annäherung“ 1963
Machen wir einen weiteren historischen Sprung zum Beginn der westdeutschen Ostpolitik, die letztlich einen wesentlichen Beitrag zum friedlichen Fall der Mauer geleistet hat. Am Anfang steht eine Rede von Egon Bahr, SPD-Politiker und Vertrauter von Willy Brandt, in der Akademie Tutzing 1963. (5) Wir befinden uns auf den Höhepunkt des Kalten Krieges mit Kubakrise und Mauerbau. In dieser Rede entwickelte Bahr eine Reihe von Maximen, an denen sich eine neue Ostpolitik orientieren sollte.

  1. Maximalforderungen vermeiden, da sie nicht zum Ziel führen können und die Möglichkeit für Gespräche verhindern.
  2. Keinen Versuch unternehmen, Regime – und seien sie noch so menschenrechtsverletzend – von außen zu bedrängen, um einen Regime-Change herbeizuführen.
  3. Keine wirtschaftlichen Sanktionen verhängen, da sie nur das Leben der Menschen in den sanktionierten Ländern verschlechtern und die Menschen stärker an die Regime binden und einen Regime-Change von Innen verhindern.
  4. Kooperationen mit dem undemokratischen Regime, primär, um den Menschen dort das Leben zu erleichtern.
  5. Gespräche über vielfältige Konfliktthemen führen, unterhalb der Anerkennung dieser Regime.
  6. Wirtschaftliche Kooperationen mit dem Gegner aufbauen, soweit sie nicht den politischen Sicherheitsinteressen des eigenen Landes zuwiderlaufen.

Unter dem Stichwort „Wandel durch Annäherung“ wurde diese Politik ab 1969 von der sozialliberalen Koalition umgesetzt. Die 70er Jahre waren u.a. geprägt von der „Entspannungspolitik“, die zu einer Reihe von Verträgen mit Ländern des Ostblocks führte und ihren Beitrag zur Wende in Osteuropa 1989 geleistet haben. Anders als hinter der Formel „Wandel durch Handel“ stand hier ein komplexes politisches Konzept und nicht allein die unklare Vorstellung einer primär ökonomischen Verbindung.

Abrüstung und Gemeinsame Sicherheit - Palme Kommission 1982
Hilfreich für unsere Suche nach Kriterien für kollektive Sicherheit in Europa ist auch der Bericht der Palme Kommission von 1982.

  1. Sicherheit ist im (atomaren Zeitalter) nicht mehr gegen den Gegner, sondern nur noch mit dem Gegner möglich.“ (nach Peter Brandt, S. 22) (6)
  2. Anstelle der Erlangung militärischer Überlegenheit sollte zunächst militärische Parität angestrebt werden.
  3. Parität sollte auf möglichst niedrigem Niveau angestrebt werden. Das bedeutet nicht nur Rüstungskontrolle, sondern tatsächlich auch quantitative Abrüstung und auch qualitative Beschränkung von Waffensystemen.
  4. Eine Verknüpfung zwischen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen und dem internationalen Verhalten im Allgemeinen sollte vermieden werden. Aufgabe der Diplomatie ist es, Konflikte isoliert zu bearbeiten und nicht, sie zu verallgemeinern und sich anhäufen zu lassen. (Brandt S. 22)
  5. Friede kann nicht durch militärische Konfrontation erzielt werden. Vielmehr gilt es, sich ständig um Frieden zu bemühen in einem unablässigen Prozess des Verhandelns, der Annäherung“ (Brandt S. 22).
  6. Neben dem militärischen Gleichgewicht in Europa, beziehungsweise weltweit, geht es auch darum, unter dem Leitbegriff der „strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ eine stabile Friedensordnung aufzubauen (Brandt S. 23).
  7. Kontinuierliche „Vertrauensbildende Maßnahmen“ zwischen den gegnerischen Akteuren sollten eine ständige Praxis darstellen.

Vom Fall der Mauer bis zum Ukraine-Krieg
In den späten 1980er und den frühen 1990er Jahren bestand die Gelegenheit zu einer neuen europäischen Friedensordnung, dem „Gemeinsamen Haus Europa“, wie Gorbatschow es formulierte. Dieses Fenster der Gelegenheit wurde nicht genutzt. Statt nach dem Zerfall des Warschauer Paktes eine Transformation der NATO, z. B. in Richtung auf ein kollektives (globales) Sicherheitssystem zu entwickeln,wurde die NATO auf Rüstungswachstum, weltweite militärische Interventionen und globale US-Hegemonie ausgerichtet. Jetzt, dreißig Jahre später, nachdem China global und militärisch verstärkt auftritt und Russland nach einer neuen Rolle im Konzert der Mächte sucht, werden die Karten im großen Machtpoker neu gemischt. Ob die schiefe Ebene Richtung Konfrontation weiter beschritten wird oder der Zeitpunkt genutzt wird für eine neue europäische und globale Sicherheitsarchitektur, wird sich nicht zuletzt daran entscheiden, wie der Konflikt in der Ukraine „befriedet“ wird.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Definition von Frieden durch Johan Galtung. Er definiert positiven Frieden als Prozess. Frieden ist kein Zustand, sondern besteht aus Phasen und Stufen. Die Ostpolitik der 60er und 70er Jahre ist ein schönes Beispiel für einen solchen Friedensprozess. Ein Schritt in diese Richtung sind aktuell frühzeitige Überlegungen über die Ziele von Verhandlungen, sobald das Töten in der Ukraine unterbrochen wird.  Denn „Frieden ist kein kurzer Moment, sondern ein langer Prozess“ (7). Den gilt es ihn vorzubereiten – jetzt!

 

Anmerkungen:

  • (1) Aktuell wird für Juni 2024 ein „Ukraine-Friedensgipfel“ in Genf (ohne Beteiligung Russlands) vorbereitet. Vorliegender Text kann als vorsichtiger Hinweis gelesen werden, was bei nachhaltigen Friedensverhandlungen berücksichtigt werden sollte.
  • (2) Schulze Wessel, Martin (2023): Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte. 3. Auflage C.H. Beck
  • (3) Pyta, Wolfram: Konzert der Mächte und kollektives Sicherheitssystem. Neue Wege zwischenstaatlicher Friedenswahrung in Europa nach dem Wiener Kongress 1815, zitiert nach: Durchhardt, Heinz in: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, C.H.Beck, 2. Auflage, 2015, S.30
  • (4) Durchardt, Heinz (2015): Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, C.H. Beck, 2. Auflage , S.20
  • (5) Rede von Egon Bahr in Tutzing am 15.07.1963 https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0091_bah&...
  • (6) Brandt, Peter (2023): Gemeinsame Sicherheit, in: Sozialismus Nr. 5, S. 21-24
  • (7) Leonhard, Jörn (2023): Über Kriege und wie man sie beendet. Zehn Thesen. C.H.Beck

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Ulrich Wohland arbeitet ehrenamtlich bei der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden und ist Initiator der Ausbildung "Campapeace". Er ist Moderator, Coach, Campaigner und Kommunikationstrainer.