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Zivilgesellschaftlicher Widerstand als - bitter notwendiges - Korrektiv der Parteiendemokratie
Anti-AKW-Bewegung im Wendland
vonDie Anti-Atom-Bewegung hat die Atomkraft ausgeknipst. Fast. Vor gut einem Jahr, am 15. April 2023, gingen die letzten drei Atomkraftwerke – Isar 2, Neckarwestheim und Emsland – vom Netz. Aber die Urananreicherungsanlage in Gronau und die Brennelementefabrik in Lingen bleiben. Absurd! Aus der Atomkraft auszusteigen, aber andere Länder mit angereichertem Uran und Brennelementen zu füttern.
Es ist dennoch eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Als erstes kommerzielles Atomkraftwerk war das AKW Kahl in Nordbayern im November 1960 in Betrieb gegangen - seit Juni 1961 speiste der kleine Siedewasserreaktor mit 15 Megawatt elektrischer Leistung Strom ins Netz ein.
„Atomkraft aus!“ kommt mehr als ein halbes Jahrhundert später, ohne dass das Licht ausgeht, auch nicht nach dem Ende des – letztendlich überflüssigen – Streckbetriebs, den die Ampelkoalition auf Druck der FDP und unter Verweis auf mögliche Energie-Engpässe als Folge des Ukraine-Kriegs noch durchgedrückt hatte. Stattdessen drehten sich zunehmend Windräder und sammeln Kollektoren das Sonnenlicht ein.
Generationen ging nämlich ein Licht an, sie ließen sich von staatlichen und wirtschaftlichen Versprechungen nicht blenden. Sie widerstanden der Propaganda der Atomindustrie und staatlicher Repression, sie wehrten sich auf der Straße und auf der Schiene, in Gerichtssälen, zu Wasser, in luftigen Höhen gegen das Restrisiko, das ihnen bei einem schweren atomaren Störfall den Rest gegeben und weite Teile Europas unbewohnbar gemacht hätte. Radioaktive Strahlung kennt bekanntlich keine Grenzen …
Gestern „dreckiges Pack“ – heute große Belobigung
50 Jahre lang wurden Atomgegner*innen beschimpft, verhöhnt, marginalisiert und kriminalisiert. Lauschangriffe, Hausdurchsuchungen, Strafverfahren nach § 129a StGB als kriminelle Vereinigung - das ganze Paket, der volle staatliche Wumms!
Für Helmut Schmidt, den SPD-Kanzler der 70er Jahre war die Atomkraft „zuverlässig und umweltfreundlich“. Die Demonstrationen in der Wilstermarsch gegen das AKW Brokdorf bezeichnete er als „Irrweg von Extremisten“. Als „Dreckiges Pack“ beschimpfte CDU-Innenminister Manfred Kanther in den 90ern die Aktivist*innen. Der gleiche Sauber-Mann wurde 2007 vor dem Landgericht Wiesbaden im Zusammenhang mit der Spendenaffäre der hessischen CDU wegen Untreue letztinstanzlich zu einer Geldstrafe in Höhe von 300 Tagessätzen à 180 Euro rechtskräftig verurteilt.
Die Anti-Atom-Bewegung als außerparlamentarische Kraft hat Geschichte geschrieben. Atomausstiegsgeschichte und Energiewendegeschichte. Und sie wird nun ex post von allen Seiten belobigt.
Verhöhnt und kriminalisiert werden heute andere, die Klimaaktivist*innen – vor allem die der „Letzten Generation“ – da überkommt einen ein Déjà-vu. Wie blind gegenüber der Geschichte ist die herrschende Klasse?!
Ein Blick zurück
Da lohnt ein Blick zurück. Den Anfang der Erfolgsgeschichte markierte der Kampf um das AKW Wyhl. Der Aktivist Axel Mayer kennt das historische Datum: „Am 18. Februar 1975 wurde im Wyhler Wald Geschichte geschrieben. Es war der Tag des Baubeginns für die zwei geplanten AKW. Männer und Frauen stellten sich mit ihren Kindern vor die Baumaschinen und brachten diese zum Stillstand, um ihre bedrohte Heimat zu schützen. Es folgte die erste Räumung des Platzes durch die Polizei am 20. Februar. Nach einer Großkundgebung am Sonntag, den 23. Februar 1975 kam es zur zweiten Besetzung.“ (https://www.mitwelt.org/termine/kein-akw-in-wyhl-bauplatzbesetzung-1975)
Mit der Auseinandersetzung um den Bau des AKW Brokdorf (1976) und des Nuklearen Entsorgungszentrums (NEZ) Gorleben (1977) sprang der widerständige Wyhler Initialfunke auf Norddeutschland über. Bereits zehn Jahre nach der Benennung Gorlebens als Standort für das NEZ würdigte der Zukunftsforscher Robert Jungk in seinem Beitrag für mein Buch „Zwischenschritte. Die Anti-Atomkraft-Bewegung zwischen Gorleben und Wackersdorf“ - einer Collage von Leserbriefen, Sachbeiträgen und Interviews – die Erfolge des Gorleben-Protests. „Das, was in diesen zehn Jahren geschah, war nicht nur Regional-, sondern Weltgeschichte“, schwärmte Jungk.
Politisch nicht durchsetzbar
Was war geschehen? Unter dem Eindruck der ersten Protestwelle, die im März 1979 in den berühmten Hannover-Treck mündete, ruderte Albrecht zurück und verkündete, eine WAA sei technisch zwar machbar, politisch aber nicht durchsetzbar. Jungk beschrieb das so: „Als Albrecht eingestehen musste, dass er eine Wiederaufarbeitungsanlage in Niedersachsen nur mit Gewalt durchsetzen könne und daher darauf verzichten wolle, gab er vorübergehend einer Eingebung der Vernunft nach (…). Seither kommt nun vor allem das Erlebnis von Tschernobyl hinzu, um die Betreiber noch mehr zu verunsichern. Sie waren die Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden und hatten daran geglaubt, dass sich ein ernsthafter Atomunfall nur alle paar Tausend Jahre ereignen könne.“
Ja richtig, die Erfolgsgeschichte war nicht denkbar ohne die AKW-Unglücke. Und die Anti-Atom-Bewegung konnte nicht bruchlos an ein Kontinuum einer bewegten Gesellschaft anknüpfen. So hatte die Bewegung gegen den Atomtod die „friedliche Nutzung der Atomkraft“ glorifiziert. Die „Göttinger Erklärung“ der 18 Atomwissenschaftler um Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker aus dem Jahr 1957 hatte eine weitreichende Signalwirkung, die im folgenden Jahr die gesamte Bundesrepublik erfasste. DGB und SPD unterstützten deren Programmatik und infolgedessen musste sich die „neue“ Bewegung gegen die Atomkraftnutzung zunächst auf ihre eigene Kraft besinnen.
Ziviler Ungehorsam – ein Markenzeichen des Protests
Wyhl, Brokdorf, Kalkar, Grohnde, Wackersdorf – Erfolge und Niederlagen der Anti-Atom-Bewegung wechselten einander ab, lagen nah beieinander. Ziviler Ungehorsam war ein Markenzeichen des Anti-Atom-Protests. Entscheidend dabei war auch die Parteienunabhängigkeit der Bewegung, sie hat deshalb maßgeblich zur Demokratieentwicklung beigetragen. Grundrechte fallen nicht vom Himmel, sie sind schon immer der Obrigkeit abgetrotzt worden. Einmal erkämpfte Freiräume blieben umstritten und erforderten streitbare Menschen. Die gab es in der Anti-Atom-Bewegung zuhauf.
Das Versammlungs- und Demonstrationsrecht unterlag einer beständigen Wandlung. Das lag an einem veränderten Protestverhalten seit der „68-Generation”: Happenings, Go-ins, Menschenketten, Sitzblockaden und Schornsteinclimbing waren Ausdruck einer neuen Protestkultur. Seit der Studierendenrevolte Ende der 60er Jahre gab es nicht mehr allein „Aufmärsche“, sondern viel häufiger ein “Gewusel”: da suchten einige die Auseinandersetzung mit der Polizei, anderen musizierten oder machten Straßentheater oder verschönerten den Kundgebungsort mit Straßenmalerei.
Versammlungsfreiheitsgeschichte
Die Gerichte hinkten der Dynamik jenes veränderten Protestverhaltens hinterher, aber sie bewegten sich doch. Ein Wendepunkt und Spiegel der Demokratieentwicklung war der Spruch des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vom 14.5.1985, bekannt als “Brokdorf-Entscheidung”, der in extenso zitiert gehört: “In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen. Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes. Demonstrativer Protest kann insbesondere notwendig werden, wenn Repräsentativorgane mögliche Missstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen.”
Der nächste Meilenstein war das sogenannte „Sitzblockaden-Urteil” des BVerfG vom 10.1.1995, dessen Gehalt kurz gefasst so lautet: wenn nur temporär und nicht dauerhaft, wenn also als nur symbolischer Akt eine Straße oder Zufahrt blockiert wird und nur passiver Widerstand geleistet wird gegen das Wegtragen oder Abdrängen durch die Polizei, so wird diese Protestform nicht mehr per se als Nötigung – also als eine Straftat – geahndet, sie wäre eine bloße Ordnungswidrigkeit. Allerdings, allerdings: da gab und gibt es noch mehrere Haken in der Auslegung, in der Praxis vor Gericht griff überwiegend doch der Nötigungsparagraph 240 StGB.
Von der Anti-Atom- und Friedensbewegung wurden hier Pflöcke eingeschlagen, die Aktionen gegen Castortransporte, AKW-Bauvorhaben und Endlager wirken bis in die heutige Generation nach und haben der jüngeren Klimabewegung Vorbilder geliefert. Gerade ist der politische und juristische Streit um Sitzblockaden als Reaktion auf die Anklebeaktionen der „Letzten Generationen“ entbrannt, wie die jüngsten Verurteilungen der Aktivist*innen durch deutsche Gerichte zeigen. Ganz gleich, wie man zu den Aktionsformen dieser Gruppierung stehen mag, sie sind gar nicht neu, sie stehen in der Tradition der bewegten Nachkriegsgesellschaft.
Polizeigesetze – die ewige Rolle rückwärts
Neu ist auch nicht, dass die Polizeigesetze der Länder die höchstrichterlichen Entscheidungen beständig konterkarieren – es ist und bleibt ein gesellschaftliches Spannungsfeld, wenn die Zivilgesellschaft sich einmischt und stört. Ganz besonders krass kommt das bayrische Polizeiaufgabengesetz daher, das im Artikel 17 einen „Präventivgewahrsam“ erlaubt. Diesen Paragraphen hat soeben der Bayrische Verfassungsgerichtshof für rechtens erklärt. Das bedeutet, dass „gewichtige Gründe des Gemeinwohls“ einen vorbeugenden Gewahrsam erlauben, als „letztes Mittel“. Gegen die „Letzte Generation“. Absurd. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte in seinen wegweisenden Beschlüssen Verbote nur zur Gefahrenabwehr für „elementare Rechtsgüter“ akzeptiert und nur, „wenn Versammlungsauflagen und Polizeiaufgebote keine Abhilfe schaffen“, betont Wolfgang Janisch in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung. Er überschreibt seinen Artikel mit einem Imperativ: „Warum die Gesellschaft massive Proteste aushalten muss“.
Kontinuum der Widerstandsgeschichte
Das wendländische Widerstands-X hat sich längst verselbstständigt und ist an andere ökologische Brennpunkte der Republik weitergezogen. So prangt das gelbe X als Protest gegen den Braunkohletagebau im rheinischen Revier wie auch in der Lausitz an Häusern und Feldwegen. Mitgezogen sind auch die Formen des Protests, längst geht es nicht mehr allein um die Atomkraft, sondern um eine erneuerbare Energiepolitik ohne Kohle und Atom. Es geht um grundsätzlichere Fragen und unsere Verantwortung: Ohne Energiesparen, Energieeffizienz, ohne ein Umdenken und -handeln wird es eine Zukunft nicht geben.
Da schließt sich ein Kreis: Dazu gehört auch das Wissen darum, dass eine enkeltaugliche Klima- und Energiepolitik nicht vom Himmel fällt, so wenig, wie der Atomausstieg vom Himmel gefallen ist. Dazu gehört unbedingt die Erfahrung, dass sich die Aktivist*innen nicht auseinanderdividieren lassen. Auch da stand der Atomkonflikt Modell.
Alle Zitate aus dem Buch von Wolfgang Ehmke (1987): Zwischenschritte. Die Anti-Atomkraft-Bewegung zwischen Gorleben und Wackersdorf, Kölner Volksblatt-Verlag
Wolfgang Ehmke, langjähriger Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, hat ein neues Buch vorgelegt: „Das Wunder von Gorleben. Der Beitrag des Wendlands zur Energiewende“. 2. erweiterte Auflage 2023, 166 Seiten, 9,80 Euro, Köhring-Verlag Lüchow, erhältlich im Buchhandel oder direkt bei der BI unter www.bi-luechow-dannenberg.de.