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Rückkehr zu friedenspolitischer Vernunft
Auch ein „Verteidigungskrieg“ ist ein Krieg
vonWer vor einem Krieg abschrecken will, muss ihn kämpfen können, lautet die gültige Maxime der militärischen Sicherheitspolitik. Nach dieser Auffassung kann Kriegsverhinderung nur funktionieren, wenn neben der permanenten Drohung mit Massenvernichtungswaffen auch die Fähigkeit und Entschlossenheit glaubhaft dokumentiert werden kann, einen möglichen Verteidigungskrieg erfolgreich zu führen.
Die Bundeswehr müsse befähigt werden, ihren eigentlichen Auftrag der Landesverteidigung im Sinne des Grundgesetzartikels 87a wieder erfüllen zu können. Deshalb seien Ausrüstungsdefizite zu beheben und umfangreiche Beschaffungen notwendig, um die Bundesrepublik Deutschland verteidigen zu können. (1)
Das von der NATO geforderte 2%-Ziel des Bruttoinlandprodukts wurde von der Bundesrepublik inzwischen erfüllt, scheint aber zur Finanzierung der Ausrüstung aus der Sicht verschiedener Politiker*innen nicht auszureichen. Inzwischen kursieren Forderungen von 3,5% (Robert Habeck) bis hin zu voluminösen 5%, die der amerikanische Präsident Donald Trump von den Nato-Staaten fordert.
Tritt der Verteidigungsfall ein, bedeutet Landesverteidigung Krieg!
Was bedeutet der Verteidigungsfall für die Menschen in Deutschland und in Europa? Mit wie vielen Toten, verletzten und traumatisierten Menschen, mit welchen Zerstörungen der lebenswichtigen Infrastruktur kalkulieren die Militärs der Bundeswehr und der NATO? Wo werden im Falle eines Versagens der Abschreckung konventionelle Waffen zum Einsatz kommen?
Ein Schlachtfeldszenario wie im 1. Weltkrieg ist völlig unrealistisch, da sich ein Krieg nicht mehr regional begrenzen lässt. Wie sollen Ballungszentren wie das Ruhrgebiet, Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München militärisch verteidigt werden? Wie sehen realistische Pläne zur Evakuierung von Millionen Menschen aus? Wie viele Millionen flüchtende Menschen werden einkalkuliert? Ist eine medizinische Versorgung von Hunderttausenden verletzter Soldat*innen und Zivilist*innen überhaupt möglich?
Die USA und Russland besitzen annähernd jeweils 5.000 Atomwaffen, die als Gefechtsfeldwaffen mit niedriger Sprengkraft (ca. 0,3 KT), als taktische Atomwaffen mit bis zu 50 KT TNT, oder als strategische Nuklearwaffen im Bereich von MEGA-Tonnen einsetzbar wären.
Die über Hiroshima von den USA abgeworfene Atombombe besaß ca. 15 KT Sprengkraft TNT.
Diese Zahlen dokumentieren, welches Zerstörungspotential eingesetzt werden könnte.
Grundlegend verändert haben sich in den letzten drei Jahrzehnten alle Parameter der konventionellen Waffentechnik: vor allem durch die Steigerung der Reichweite, der Durchschlagskraft und Zerstörungswirkung im Zielbereich. Die Reaktionszeiten verkürzen sich dramatisch, weil feindliche Flugkörper tieffliegend kaum ortbar sind. Hyperschallraketen, konventionell oder gar nuklear bewaffnet, sind in wenigen Minuten im Zentrum gegnerischer Staaten und kaum abzuwehren. Mit einer 5-10-fachen Schallgeschwindigkeit tragen sie ihre tödliche Last in ein anderes Land. Enthauptungsschläge werden hierbei auch bei konventioneller Bewaffnung der Raketen möglich. Damit steigt auch das nukleare Eskalationsrisiko, da eine Nuklearmacht auf einen Enthauptungsschlag höchstwahrscheinlich mit einem nuklearen Gegenschlag reagieren wird.
Die sogenannte „Nukleare Teilhabe" der NATO enthält konkrete atomare Kriegsführungsoptionen mit weitreichenden Konsequenzen: Nuklearwaffen könnten „chirurgisch“ gezielt und begrenzt eingesetzt werden. Rüstungstechnisch führt diese Entwicklung zur Miniaturisierung der Atomwaffen mit hoher Zielgenauigkeit sowie sicherheitspolitisch zu einer Herabstufung der „Nuklearen Schwelle“. (2)
Risiken der geplanten Stationierung von US-Marschflugkörpern ab 2026 in Deutschland
In einer kurzen „Gemeinsamen Erklärung" (3) vereinbarten am Rande des NATO-Gipfels Anfang Juli 2024 in New York die USA und die Bundesrepublik die Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme: Ab 2026 sollen nur in Deutschland Tomahawk-Marschflugkörper, SM-6-Raketen und neue Hyperschallwaffen stationiert werden, die konventionell und – wenn gefordert – auch mit Atomsprengköpfen bewaffnet werden könnten. Mit über 2000 km Reichweite könnten sie im Tiefflug in nur wenigen Minuten Zielobjekte in Russland erreichen und bekämpfen. Beschlossen wurde das Rüstungsprojekt am Bundestag und sogar auch am NATO-Rat vorbei und ohne ein gleichzeitiges Verhandlungsangebot an Russland – wie beim NATO-Doppelbeschluss unter Helmut Schmidt. Ein dichtbesiedeltes Land wie die Bundesrepublik könnte zur Zielscheibe russischer Atomraketen werden (4).
Allerdings muss hierbei angemerkt werden, dass auch Russland Hyperschallraketen u.a. in Kaliningrad, ca. 500 Kilometer von Berlin entfernt, stationiert hat. (5) Hier wird deutlich, wie wichtig ein Angebot zur gemeinsamen Abrüstung im Zuge einer vorgesehenen Raketenstationierung gewesen wäre.
Gefahr durch Cyber-Waffen und KI
Durch den Einsatz von Cyber-Waffen und KI besteht die Gefahr, dass die Kontrollsysteme der Atomwaffen erheblich gestört werden könnten. Der Kontrollverlust erhöht das Risiko von Fehleinschätzungen und Fehlalarmen. Dadurch würde die Atomkriegsgefahr rapide ansteigen. „Deshalb wäre es besonders wichtig, Kriege und den aktuellen Konfrontationskurs zwischen großen Nationen zu beenden. Vertrauen und gute Kommunikationskanäle müssen wieder aufgebaut werden, und das sollte zwischen allen Nationen erfolgen, auch solchen, die sich derzeit als Gegner betrachten.“ (6)
Auch die Entwicklung einer sogenannten Superintelligenz, eine sich verselbstständigende generative KI, könnte aufgrund einer fehlenden wirkungsvollen transnationalen Kontrolle der KI-Entwicklung nicht nur über das Internet zu Eingriffen in die kritische Infrastruktur, sondern auch zu ungewollten Interventionen in nukleare Waffensysteme führen: „Unkalkulierbar sind auch potenzielle Cyberangriffe, wobei Komponenten oder Daten eines Frühwarnsystems manipuliert werden könnten, was auf vielfältige Art möglich sein kann. Weltweit führende KI-Wissenschaftler und auch Chefs von großen Unternehmen haben im Jahr 2023 eindringlich vor den möglichen Risiken gewarnt. Auch eine Superintelligenz, bei der das menschliche Intelligenzniveau weit überschritten wird, wird in den nächsten Jahren für möglich gehalten.“ (ebda).
Existentielle Verwundbarkeit moderner Industriestaaten
Dichte Ballungszentren mit großer Industriekonzentration prägen im Besonderen die Situation in Mitteleuropa. Es hat sich eine Lebens- und Arbeitswelt entwickelt, die durch Komplexität, Vernetzung, Arbeitsteilung, Mobilität, Automation und Information gekennzeichnet ist. Die Interoperabilität fast aller Arbeitsbereiche durch verschiedenste Kommunikations- und automatisierte Informationssysteme trägt zwar zur Produktions- und Effizienzsteigerung bei, erhöht aber gleichzeitig die Störanfälligkeit und Verwundbarkeit des Gesamtsystems. Die Gefahren durch Cyberangriffe auf lebenswichtige Versorgungseinrichtungen einer Gesellschaft wie Strom, Wasser und Logistik sind allgegenwärtig. Hacker-Angriffe auf die EDV-Systeme des Deutschen Bundestages, Stadtverwaltungen, Banken und Industrieunternehmen waren erfolgreich. Eine Unterbrechung des Kühlsystems von Atomkraftwerken in Staaten, wo es noch Kernkraftwerke gibt, – trotz redundanter Absicherung – wäre ein Super-GAU-Szenario mit unabsehbaren Folgen.
Die Leistungsfähigkeit und Stärke der hochentwickelten Industriestaaten hängen ab vom Funktionieren einer zivilen Infrastruktur, die hochgradig verletzlich ist und bereits mit nichtatomarer Munition und "intelligenten" Waffenträgern - niedrig fliegende, gelenkte Drohnen, Raketensysteme - ausgeschaltet werden kann.
Fazit
Deshalb wäre es notwendig, eine auf Diplomatie und internationale Zusammenarbeit basierende Sicherheitsordnung wiederherzustellen bzw. neu zu entwickeln, so dass der Verteidigungs- bzw. Kriegsfall eher unwahrscheinlich wird. Hierbei wird sich das vorhandene Sicherheitsdilemma einer Landesverteidigung entschärfen lassen, wenn in internationaler Abstimmung die noch vor wenigen Jahren gültigen Abrüstungsverträge wieder eingeführt, aktualisiert und ausgebaut würden. Zurzeit scheinen wir uns aber von einer vernünftigen friedenspolitischen Regelung immer weiter zu entfernen. Wir fragen uns, was noch alles passieren muss, damit eine Rückkehr zu einer friedenspolitischen Vernunft und zu einer größeren internationalen Verantwortlichkeit zukünftig möglich wird.
Anmerkungen
- (1) https://www.telepolis.de/features/Ruestungsindustrie-2024-Bombengeschaef...
- (2) https://www.berliner-zeitung.de/open-source/vor-nato-gipfel-2024-buerger...
- (3) https://www.bundesregierung.de/gemeinsame -erklärung-usa-ger- nato-gipfel
- (4) https://www.freitag.de/autoren/hans-georg-ehrhart/sicherheit-von-deutsch...
- (5) https://www.merkur.de/politik/russland-ukraine-krieg-hyperschallwaffen-k...
- (6) https://www.telepolis.de/features/Atomkrieg-aus-Versehen-Deepfakes-und-C...
Rolf Bader, Jg. 1950, Dipl. Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr, ehem. Geschäftsführer der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte/-innen für die Verhütung des Atomkrieges/ Ärzte/-innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW).
Klaus Moegling, Jg. 1952, ist habilitierter Politikwissenschaftler i.R., er lehrte an verschiedenen Universitäten und Institutionen der Lehrerbildung, zuletzt an der Universität Kassel als apl. Professor im Fb Gesellschaftswissenschaften, er engagierte sich in der Friedens- und Umweltbewegung sowie in Bildungsinitiativen.