Neue Strukturen für die multidimensionale Kriegstüchtigkeit

Bundeswehr der Zeitenwende

von Martin Kirsch
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Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime“ – diese Aussage aus den Verteidigungspolitischen Richtlinien steht bisher wie keine andere für die Marschrichtung, die Verteidigungsminister Boris Pistorius der Bundeswehr verordnet hat. Am 4. April 2024 trat er in Berlin vor die Presse, um die Strukturreform für die „Bundeswehr der Zeitenwende“ vorzustellen. Die Führungsstrukturen der Bundeswehr sollen schlanker, die Hierarchien und Befehlsketten klarer und bisherige Doppelstrukturen abgebaut werden. Ausgerichtet wird die neue Struktur an der US- und NATO-Doktrin namens Multi-Domain Operations. Dieses Konzept für Großmachtkriege der Zukunft sieht eine enge Verzahnung der verschiedenen Dimensionen der Kriegsführung vor.

Im Zentrum der militärischen Strukturen stehen die drei bereits bestehenden Teilstreitkräfte Heer für die Dimension Land, Luftwaffe für die Dimension Luft- und Weltraum und Marine für die Dimension See. Zudem wird der bisherige Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum (CIR) für die gleichnamige Dimension zur vierten Teilstreitkraft aufgewertet. Alle weiteren dimensionsübergreifenden Strukturen der Bundeswehr werden künftig einem Operativen Führungskommando und einem Unterstützungskommando zusammengelegt. Neben den Streitkräften beinhaltet die aktuelle Reform auch die Vorbereitung der Bundeswehrverwaltung auf einen potenziellen Kriegsfall. Besonders brisant ist hier die Schaffung von Strukturen, die in die Lage wären, künftige Musterungen bis hin zur Wiedereinführung eines Wehrdienstes zu verwalten.

Operatives Führungskommando für alle Einsätze
Die „Planung und operative Führung [aller Einsätze] der Bundeswehr aus einer Hand“ ist laut Minister Pistorius Aufgabe des neuen Operativen Führungskommandos. Dafür werden das bisherige Einsatzführungskommando, zuständig für alle Auslandseinsätze – von Out-of-Area bis Bündnisverteidigung an der NATO-Ostflanke –, und das erst im Oktober 2022 neu aufgestellte Territoriale Führungskommando für Einsätze im Inland, von Katastrophenhilfe bis Aufmarschplanung und Landesverteidigung, zusammengelegt. Nach dem Vorbild der drei Joint Force Command der NATO weist dieses neue Führungskommando den vier Teilstreitkräften der Bundeswehr Einsatzaufgaben zu. Diese Zentralisierung von Führungsaufgaben in einem Kommando bringt einen sehr mächtigen Dreisternegeneral an dessen Spitze hervor. Selbst der oberste Soldat der Bundeswehr, Generalinspekteur Carsten Breuer, soll zwischenzeitig Bedenken über die Macht des Kommandeurs des Operativen Führungskommandos geäußert haben.

Cyber- und Informationsraum als Dimension des Krieges
Größter Gewinner der aktuellen Strukturreform dürfte der bisherige Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum (CIR) sein, der zu einer eigenständigen Teilstreitkraft aufgewertet wird. Dieser erst 2017 gegründete Bereich der Bundeswehr ist neben der Sicherung von Führungsfähigkeit, die für die künftige Vernetzung von Waffensystemen zentral sein wird, laut Minister auch für die „Analyse hybrider Bedrohungen“ wie Desinformation und Cyberangriffe zuständig. Die Fähigkeiten des CIR, mit dem Zentrum Cyber-Operationen und dem Zentrum Operative Kommunikation selbst Cyberangriffe und Propagandakampagnen bzw. der Bundeswehr genehme Desinformation durchführen zu können, wird dabei gezielt verschwiegen. Zudem ist CIR auch für die sogenannte „Aufklärung und Wirkung im Feld“ durch elektronische Kriegsführung mit Abhörantennen und Störsendern zuständig. Damit erfüllt CIR mit der Verantwortung für und der Operationsführung im Cyber- und Informationsraum die neue Definition einer Teilstreitkraft.

Ein zentrales Unterstützungskommando
Im Unterstützungskommando sind die Fähigkeiten gebündelt, die in allen Dimensionen gebraucht werden“, verkündete Minister Pistorius auf der Pressekonferenz zur Strukturreform. Konkret verlieren die beiden bisherigen Organisationsbereiche Streitkräftebasis und Zentraler Sanitätsdienst, die als Dienstleister für die Auslandseinsätze der Bundeswehr geschaffen wurden, ihre Eigenständigkeit. Zusammen verschmelzen sie zu einem neuen Unterstützungskommando, das die Verwaltungsaufgaben für alle dimensionsübergreifenden Fähigkeitskommandos übernimmt. Die Mangelressourcen, die von allen vier Dimensionen gebraucht werden, sind vor allem die Sanitätsversorgung der Bundeswehr sowie die Kommandos für Logistik, Feldjäger und ABC-Abwehr.

Kriegsbereite Bundeswehrverwaltung
Neben den Streitkräften soll im Rahmen der aktuellen Strukturreformen auch die Wehrverwaltung kriegstüchtig gemacht werden. Den größten Umbauprozess wird es im Bereich des Bundesamtes für Infrastruktur, Umwelt und Dienstleistung (BAIUDBw) geben. Für den Verteidigungsfall bereitet das Amt mobile Verwaltungsteams vor, die in der Lage sein sollen, auch der kämpfenden Truppe ins Feld zu folgen, um den Soldat*innen Verwaltungsaufgaben abzunehmen. Zudem ist das BAIUDBw beauftragt, wieder Strukturen für den „Vollzug von Versorgungs- und Sicherstellungsgesetzen“ aufzubauen. Dabei handelt es sich um einen Teil der 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze. Sie sichern dem Staat im Kriegsfall privilegierten Zugriff auf Rohstoffe und Dienstleistungen bis hin zur Beschlagnahmung von „verteidigungsrelevanten“ zivilen Gütern wie LKW. Zudem sollen wieder Strukturen zur Bewertung der militärischen Nutzbarkeit von ziviler Infrastruktur im Spannungsfall und zur dezentralisierten Lagerung von Versorgungsgütern der Truppe geschaffen werden.

Strukturen für Wehrdienst in Vorbereitung
 „Wir haben bei den Strukturen mitgedacht, dass es zur Wiedereinführung einer wie auch immer gearteten Wehr-/Dienstpflicht kommen könnte“, verkündete Pistorius zur Strukturreform. Unterhalb des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr (BAPersBw) in Köln sollen vier regionale Personalzentren entstehen, die im Fall der Fälle auch die Aufgaben des jeweils anderen Zentrums übernehmen können. „Die Regionalzentren werden auch ‚Keimzellen‘ für diejenigen Strukturen, die im Ernstfall die personelle Aufwuchsfähigkeit sicherstellen.“ Unabhängig von einer künftigen politischen Entscheidung über die Wiedereinführung einer Wehrpflicht soll dort die „Vorbereitung [...] von Wehrerfassungs- und Musterungsprozessen, um eine verpflichtende Einberufung zum Wehrdienst verwaltungsseitig bewältigen zu können“, in Gang gesetzt werden. Das sei bereits jetzt nötig, weil eine Wiedereinführung der Wehrpflicht im Spannungs- oder Verteidigungsfall auch nach aktueller Gesetzeslage verpflichtend sei. Damit bereitet Pistorius erste Schritte zur flächendeckenden Musterung von Jugendlichen, die ihm ohnehin als Ziel vorschwebt, auf der Verwaltungsseite bereits vor.

Strukturen für einen lauwarmen Krieg
Während die Umbaumaßnahmen in der Wehrverwaltung an eine Reaktivierung der Denke des Kalten Krieges erinnern, spricht die Umstrukturierung der Truppe eher für eine Ausrichtung auf ein Kriegsbild der hoch vernetzten, digitalisierten Kriegsführung der Zukunft. Damit ähnelt der Umbau der Bundeswehr den Umstrukturierungen der US-Streitkräfte für sogenannte Multi-Domain Operations (MDO). Dieses Konzept für die vernetzte, digitalisierte und eng verzahnte Kriegsführung der Zukunft wurde 2018 maßgeblich von US-General David G. Perkins entwickelt. Mit Blick auf die Großmachtkonkurrenz der Zukunft setzt das Konzept auf eine enge Vernetzung der fünf militärischen Dimensionen, Land, Luft, See, Weltraum und Cyberspace. Laut der reinen Lehre von General Perkins gibt es nur Phasen der Konkurrenz und der offenen Konfrontation, die dann wiederum von einer weiteren Phase der Konkurrenz abgelöst würden. Friedenszeiten sind in dieser Denke quasi ausgeschlossen, weil es permanent vonnöten sei, die feindlichen Systeme auszuspähen und zu testen.
In den letzten Jahren hat sich auch die Bundeswehr dem Konzept der Multi-Domain-Operations verschrieben. So heißt es im November 2023 aus dem Planungsamt der Bundeswehr: „Das Erreichen einer MDO-Befähigung der Bundeswehr wird eine Generationenaufgabe sein. Sie wird im Kontext des sehr fordernden Kriegsbilds der Zukunft über die Bedeutung der Bundeswehr im Bündnis und ihre Fähigkeit zur bündnisgemeinsamen Verteidigung entscheiden.“ Auf der Land-Warfare Conference 2018 in London sprach der deutsche General Frank Leidenberger, ein persönlicher Freund von US-General Perkins, mit besonderem Blick auf Cyberattacken davon, dass Deutschland sich bereits in einem „lauwarmen Krieg“ befinde. Die politische Klasse sei allerdings nicht bereit, diese Realitätswahrnehmung zu teilen. Mit der sogenannten Zeitenwende scheint sich die Perspektive der politischen Klasse in Deutschland in relevanten Teilen geändert zu haben. Die aktuelle Strukturreform der Bundeswehr, die auf der Führungsebene bis Frühjahr 2025 abgeschlossen sein soll, atmet die Luft der Multi-Domain Operations und fußt auf der von Pistorius ausgegebenen Maßgabe der Kriegstüchtigkeit.

 

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Martin Kirsch ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung (IMI).