Interview

Covid -19 und Ziviler Widerstand

von Christine SchweitzerJörgen Johansen
Hintergrund
Hintergrund

Der skandinavischen Friedensforscher Jörgen Johansen beschäftigt sich mit zivilem Widerstand weltweit. Die von ihm mit herausgegeben Zeitschrift „Journal of Resistance Studies“ bemüht sich darum, „resistance studies“als eigenes Fach im universitären Betrieb zu etablieren. Das Friedensforum hat ihn zu den Auswirkungen der Coronakrise befragt.

Christine Schweitzer (CS): Die Corona-Pandemie hat weltweit öffentliche Proteste und Widerstand zum Stillstand gebracht. In vielen Ländern haben Aktivist*innen soziale Medien für Austausch, Kapazitätserweiterung und Protest genutzt. In einigen Ländern fanden während des Shutdowns auch Autokorsos, Demonstrationen mit einer kleinen Zahl von Protestierenden und einige größere Demonstrationen ohne polizeiliche Genehmigung statt. Kannst Du zusammenfassen, was Deiner Meinung nach die Folgen der Pandemie in Bezug auf gewaltlosen Widerstand sind?

Jörgen Johansen (JJ): Das letzte Mal, dass wir eine Weltkrise in Verbindung mit einer globalen Pandemie hatten, war 1918. Diese Grippe hatte einen enormen Einfluss auf den Ersten Weltkrieg, aber nicht viel auf den Widerstand gegen den Krieg. Die heutige Situation ist weit davon entfernt. Es gibt Ähnlichkeiten, wie zum Beispiel die drei wichtigsten Verhaltensregeln - das Tragen von Masken, soziale Distanzierung und häufiges Händewaschen -, aber wie Friedensaktivist*innen und Kriegsdienstverweigerer sich damals der Grippe anpassen mussten, ist ganz anders als die Art und Weise, wie Aktivist*innen heute versuchen, mit der gegenwärtigen Situation fertig zu werden.

Formen des Widerstands sind und waren schon immer in ständiger Entwicklung. Neue Ideen und Praktiken entstehen, wenn sich die Kontexte ändern. Die anhaltende Diskussion darüber, wie man angesichts der neuen Gesetzgebung zur physischen (warum sollte man es sozial nennen??) Distanzierung protestieren und Widerstand leisten kann, ist weder einzigartig noch besonders interessant.

Wenn Historiker*innen der Zukunft die Geschichte schreiben, wie sich die Widerstandsbewegungen im Jahr 2020 entwickelt haben, bezweifle ich, dass die gegenwärtige Situation mit der weltweiten Ausbreitung von Covid-19 einen einzigartigen, substanziellen Einfluss darauf haben wird, wie politische Aktionen durchgeführt werden. Wie immer werden der Liste der Aktionen, Strategien und Ansätze einige neue Ideen hinzugefügt werden, aber was wir heute sehen, ist nichts im Vergleich zu den späten achtziger Jahren in Ost- und Mitteleuropa oder der Region Nordafrika in den Jahren 2011-12.

Was ich mir jedoch erhoffe, ist die Bereitschaft und Fähigkeit, breitere und stärkere Allianzen aufzubauen. Gruppen aus den verschiedensten Bereichen unserer Gesellschaften sind von dem Virus betroffen und könnten verstehen, wie wichtig es ist, zusammenzuarbeiten, um die schlimmsten Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen zu verhindern. Historisch gesehen waren starke Bündnisse sehr erfolgreich. Bei einer gemeinsamen Bedrohung könnten sie Türen öffnen, um einige traditionelle Trennlinien innerhalb der Zivilgesellschaft zu überwinden. In Norwegen 1972 und bei der Volksabstimmung über die Mitgliedschaft in der EWG/EU sahen wir den Aufbau eines breiten Bündnisses über das gesamte politische Spektrum hinweg. Die Opposition gegen die Mitgliedschaft in der EWG gewann, und dieses Bündnis spielt auch fast 50 Jahre später noch eine Rolle in der norwegischen Politik. Die Bedrohung durch die Mitgliedschaft war stark genug, um eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gruppen und Einzelpersonen, die die neue Bewegung bildeten, beiseite zu schieben. Um dies zu erreichen, ist ein Konsens über politische Trennlinien hinweg erforderlich. Eine solche Möglichkeit könnte es auch heute noch geben. Aber bisher habe ich noch keine Anzeichen dafür gesehen.

CS: Manche Leute denken, dass der Stillstand auch eine Chance ist, die Wirtschaft auf umweltfreundlichere und gerechtere Weise wieder aufzubauen. Siehst Du dafür eine Chance, und können Aktivist*innen dem Einfluss der Lobbyisten standhalten, ohne auf die Straße zu gehen?

JJ: Für die wirtschaftliche Situation ist es interessant, dass das alte System zusammenbricht, wenn die Menschen nur das kaufen, was sie tatsächlich brauchen! Ich vermute, dass die Debatte über den Wiederaufbau in den kommenden Jahren dadurch beeinflusst werden wird, dass wir offensichtlich in allen Ländern der Welt einen extremen Überkonsum in der Mittelschicht (und darüber hinaus) gehabt haben. Ich gehe davon aus, dass sich die Verbraucher*innen über die Folgen davon mehr bewusst sind als die Großproduzenten. Neue Konsumtrends werden die traditionelle Wirtschaft herausfordern und könnten die Chance für ein neues Denken über das Wirtschaftssystem als solches eröffnen. 

CS: Kritiker*innen des Shutdowns nennen es eine Prüfung der Disziplin und des sozialen Gehorsams der Bevölkerung. Die Polizei kontrolliert das Sozialverhalten, Nachbar*innen spionieren sich gegenseitig aus, rechte Gruppen und Volksregierungen scheinen zu glauben, dass ihre Zeit gekommen sei. Würdest Du dem zustimmen? Oder ist das hohe Maß an Gehorsam auch ein Argument für die Durchführbarkeit der Sozialen Verteidigung - wenn die Menschen mit bestimmten Maßnahmen einverstanden sind, sind sie bereit, den Preis dafür zu zahlen?

JJ: Am wichtigsten könnten die neuen Instrumente sein, die von den Staaten und der Überwachungsindustrie entwickelt wurden. Worüber Giorgio Agamben ausführlich geschrieben und kürzlich in einem Interview in Le Monde (24.03.2020) wiederholt hat, sind die äußerst schwerwiegenden ethischen und politischen Konsequenzen, die sich aus den durch die Epidemie gerechtfertigten Handlungen ergeben. Wir sehen Politiker*innen auf der ganzen Welt, die eine Reihe von Vorschlägen für neue Gesetze unterstützen, die offene und demokratische Gesellschaften direkt bedrohen. Was sie in diesen Zeiten der politischen Panik gebilligt bekommen haben, wird in Zukunft sicherlich für ganz andere Zwecke verwendet werden.

Die Geschichte ist voll von Fällen, in denen außergewöhnliche Situationen die Türen für den Einsatz außergewöhnlicher Mittel geöffnet haben, und sie neigen dazu, noch lange in der Zukunft in unseren Gesellschaften festzusetzen. Neue Kontrollmittel normalisieren sich leicht und werden in anderen Situationen eingesetzt, als für die sie vorgesehen waren. Das Problem der Normalisierung des Außergewöhnlichen, wenn es um die politische Überwachung geht, stellt eine Bedrohung für alle Arten von sozialen Bewegungen, Widerstandskampagnen und gewaltlosen Aktionen dar.

Die Ermittlung von Kontaktpersonen könnte bei der Kartierung ansteckender Krankheiten hilfreich sein, aber wie sieht es aus, wenn sie zur Kartierung von Aktivist*innennetzwerken eingesetzt wird? Da rechtspopulistische Politiker*innen marschieren und in die meisten Parlamente der Welt einziehen, steht eine schwierige Aufgabe bevor, um zu verhindern, dass dieselben Instrumente zur Identifizierung von "Unruhestifter*innen" eingesetzt werden. Wenn die Parlamente voll von Politiker*innen des Typs "Alternative für Deutschland" sind, werden sie mit Sicherheit dasselbe Überwachungssystem nutzen, um das anzugehen, was sie als die Hauptbedrohungen für unsere Gesellschaften ansehen.

CS: In vielen Ländern scheint die Bereitschaft, die Corona-Regelungen zu akzeptieren, zu schwinden. Rechnest Du mit massivem Widerstand, wenn die Maßnahmen nicht bald gelockert werden?

JJ: In mehreren Ländern gab es relativ kleine Proteste im Zusammenhang mit der Covid-19-Gesetzgebung. Aber der Aufstand ist bisher nicht viral geworden. Wenn die Menschen gegen die verschiedenen Arten von Schließungen und Neuregelungen reagieren, dann kommt dies in vielen Fällen aus dem rechten Teil des politischen Spektrums; und zwar nicht nur mit friedlichen Mitteln. Zum Teil mag das beängstigend aussehen, aber ich sehe auch das Potenzial, dass neue Gruppen Erfahrungen mit der Beteiligung an sozialen Bewegungen und gewaltfreien Aktionen sammeln. Hoffen wir, dass einige der Rassist*innen und Extremist*innen diese Strategien und Instrumente in ihrem Kampf aufgreifen. Ich ziehe gewaltlose Faschist*innen gewaltsamen Faschist*innen vor. In einem Gespräch mit Gene Sharp vor einigen Jahren fragte ich ihn nach seiner Meinung zu gewaltfreien Methoden, die von populistischen Rechtsextremen benutzt wird. Seine Antwort lautete: ‚Was bleibt von dem Rassismus übrig, wenn man die Anwendung von Gewalt herausnimmt?‘

Simon Tisdall schrieb am 24. Mai im Guardian: “Die eigentliche Frage ist also nicht, ob, sondern welche Art von Revolution kommt. Wird sie von der unkontrollierbaren, ideologischen Vielfalt des 20. Jahrhunderts sein, wie sie mit Marx, Mao, Guevara und Castro in Verbindung gebracht wird? Oder wird sie die Form einer gewaltlosen, aber dennoch raschen und tiefgreifenden Veränderung in der Art und Weise annehmen, wie eine bewusster voneinander abhängige Welt funktioniert? Es hängt sehr viel davon ab, wie die Schockwellen und Nachwirkungen der Pandemie gelenkt und gestaltet werden.”

Ich bin mir nicht sicher, ob wir einen dieser beiden Wege vor uns sehen werden; es gibt so viele andere Möglichkeiten. Für aufgeschlossene und pazifistisch-anarchistische Menschen wie mich besteht die Hoffnung, dass wir eine Vielzahl von Kampagnen und Experimenten des konstruktiven Widerstands in der Tradition Gandhis und seines konstruktiven Programms erleben werden. Was die Bewegung der Landlosen in Brasilien, die Friedensgemeinschaften in Kolumbien und das, was kurdische Frauen in Rojava versucht haben, zeigt einige der Möglichkeiten für solche Bewegungen. Welch ein Traum, wenn wir auf das Jahr 2020 als einen Wendepunkt für eine Welt zurückblicken könnten, die sich in Richtung hin zu weniger Ausbeutung von Mensch und Natur und mehr Experimenten mit nachhaltigen demokratischen Formen der Organisation unserer Gesellschaften bewegt.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.
Jörgen Johansen ist freiberuflicher Akademiker und Herausgeber des Resistance Studies Magazine.