Das 5-Euro-Urteil

Landgericht Frankfurt am Main
Beschluss
In der Strafsache gegen fünf Personen wegen Verdachts der gemeinschaftlichen Nötigung hat das Amtsgericht Frankfurt am Main in der Sitzung vom 14. Juni 2004, an der teilgenommen haben:

Richter am Amtsgericht Rupp als Strafrichter
Staatsanwalt Rauchhaus als Beamter der Staatsanwaltschaft,
Rechtsanwalt NN als Verteidiger des Angeklagten NN
Justizangestelle NN als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

Gegen die Angeklagten (fünf NN) wird wegen vorsätzlicher Begehung einer Ordnungswidrigkeit gemäß § 29 Absatz 1 Nr. 2 Versammlungsgesetz jeweils eine Geldbuße in Höhe von 5,- Euro festgesetzt.

Die Angeklagten haben die Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen zu tragen.

Angewandte Vorschrift: § 29 Absatz 1 Nr. 2 Versammlungsgesetz.

(...)

II.

Die in der Hauptverhandlung durchgeführte Beweisaufnahme hat zu folgenden Feststellungen des Gerichts geführt:

Die Angeklagten nahmen am Samstag, dem 29.03.2003 an einer im Bereich der US-Airbase des Rhein-Main Flughafens Frankfurt am Main durchgeführten Protestveranstaltung gegen die Intervention alliierter Streitkräfte im Irak teil. Nachdem die angemeldete und genehmigte Protestkundgebung vom Versammlungsleiter aufgelöst und beendet worden war, beschlossen die Angeklagten, die mit anderen Teilnehmern der Veranstaltung zunächst vorhatten, sich zum Südtor der US-Airbase zu begeben, jedoch von eingesetzten Polizeikräften abgedrängt worden waren, gemeinsam mit 28 weiteren Personen spontan, die gesamte Fahrbahnbreite des Airportrings im Bereich zwischen der Tunneleinfahrt der Okrifteler Straße und Flughafen-Tor zu blockieren. Dies erreichten sie tatsächlich auch dadurch, dass sie sich etwa um 15,11 Uhr auf die Fahrbahn setzten, wodurch sodann die auf dem Airportring verkehrenden Kraftfahrzeuge an der Weiterfahrt gehindert waren. Das war von den Teilnehmern der jetzt versammlungsrechtlich nicht mehr genehmigten Aktion auch beabsichtigt, weil sie hierdurch insbesondere darauf aufmerksam machen wollten, dass der bevorstehende Angriff alliierter Streitkräfte auf den Irak als völkerrechtswidriger Angriffskrieg einzustufen sei. Es kam ihnen bei ihrer aufgrund einer Gewissensentscheidung getroffenen Aktion darauf an, "ein Zeichen zu setzen". Sie wollten sich so symbolhaft der "Kriegsmaschinerie widersetzen". Den Angeklagten war klar, dass sie bald durch die in großer Anzahl vor Ort befindlichen Polizeikräfte weggetragen werden würden. Sie wollten dort aber so lange wie möglich sitzen bleiben.

Die eigentliche Blockadeaktion der Angeklagten und der mit ihnen auf der Fahrbahn sitzenden Personen dauerte von 15.11 Uhr bis 15.37 Uhr. Danach wurden die Aktionsteilnehmer, nachdem sie polizeilichen Aufforderungen sich zu entfernen bewusst nicht Folge geleistet hatten, jeweils einzeln und nacheinander von jeweils zwei Polizeibeamten weggetragen. Diese Wegtrageaktionen, bei denen sich die Blockadeteilnehmer friedlich verhielten, nahmen einige Zeit in Anspruch.

Danach wurden die Angeklagten und weitere Personen zwecks polizeilicher Personalienfeststellung festgehalten und in einen mit Zellen versehenen Bus gebracht, der sodann längere Zeit auf der zuvor von den Veranstaltungsteilnehmern blockierten Straße stand. Später wurden die Angeklagten zum Polizeipräsidium in Frankfurt am Main gebracht. Sie wurden in der Zeit von 22.30 Uhr bis 23.45 Uhr schließlich entlassen. Eine Vorführung vor einen Richter zwecks Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer bis zum Entlassungszeitpunkt erfolgten polizeilichen Ingewahrsamnahme fand nicht statt.

(...)

IV.

Eine Straftat der gemeinschaftlichen Nötigung gemäß §§ 240, 25 Abs. 2 StGB haben die Angeklagten jeweils nicht begangen, weshalb eine Verurteilung insoweit nicht erfolgt ist.

Die Angeklagten haben keine Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 und 2 StGB ausgeübt.

Sie haben durch das gemeinsame Sitzen auf der Fahrbahn mit anderen Personen kein physisches, sondern lediglich ein psychisches Hindernis für die Kraftfahrer, welche wegen der Sitzblockade ihre Fahrt nicht fortsetzen konnten, errichtet.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit der sogenannten "Sitzblockadeentscheidung" durch Beschluss vom 10.01.1995 (NJW 1995, 1141, NStZ 1995,275) die von Teilen der Rechtsprechung vorgenommene Ausweitung des Gewaltbegriffs auf psychische Gewalt im Rahmen der Nötigung als Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz gewertet. Dieser Grundsatz bezweckt eine umfassende Rechtssicherheit. Jeder Bürger soll erkennen können, welche Rechtsfolgen sich aus einem von ihm gezeigten Verhalten ergeben werden.

Mit der sogenannten "Zweitereiheentscheidung" vom 20.07.1995 (BGHSt 41, 182 ff) hat der Bundesgerichtshof die Auffassung vertreten, dass nur auf die Kraftfahrer in der ersten Reihe lediglich psychische Gewalt, die sie an der Weiterfahrt hindere, ausgeübt werde. Auf Fahrer der nachfolgenden Fahrzeuge wirke aber physischer Zwang, weil diesen durch die in der ersten Reihe stehenden Fahrzeuge - was den Sitzblockadeteilnehmern klar sei - die Weiterfahrt unmöglich gemacht werde.

Diese Argumentation des Bundesgerichtshofs überzeugt nicht. Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.1.1995 lässt sich die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Differenzierung nicht ableiten. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass das Nötigungsmittel Gewalt nur dann seiner tatbestandsbegrenzenden Funktion genüge, wenn die Gewalt nicht bereits mit dem der Nötigung immanenten Zwang zusammenfalle, sondern über diesen hinaus gehe. Bei der Abgrenzung zwischen dem Begriff Gewalt und dem allgemeinen Begriff des Zwangs müsse das mit dem Begriff der Gewalt verbundene Element der körperlichen Kraftentfaltung stärker in den Vordergrund treten. Bei einem Verzicht auf dieses Element genüge sonst die bloße körperliche Anwesenheit an einer Stelle, die eine andere Person passieren wolle, zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals "Gewalt", soweit diese Person hierdurch psychisch gehemmt werde. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet also die starke Zurückdrängung des Moments der Kraftentfaltung auf der Täterseite und stellt nicht auf das psychische oder physische Zwangsempfinden auf der Opferseite ab.

Die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Unterscheidung zwischen der ersten und der zweiten Reihe zur Differenzierung zwischen einem straflosen bzw. einem strafbaren Verhalten überzeugt aber auch deshalb nicht, weil ein in hinterer Reihe stehender Kraftfahrer mit seinem Fahrzeug ausscheren und an den vor ihm haltenden Vorderleuten vorbeifahren könnte und so bis zu den auf der Fahrbahn sitzenden Personen gelangen könnte. Auf dieses Fahrmanöver verzichten diese Fahrer jedoch schon deshalb, weil sie spätestens dann ebenfalls psychisch an der Weiterfahrt gehindert werden würden.

Ferner könnten Blockadeteilnehmer eine Aufgabenteilung dergestalt vornehmen, dass sie mehrere Blockadereihen von jeweils einer Reihe von Kraftfahrzeugen bilden könnten, um so jeweils nur psychische Zwangswirkung für jede einzelne dann folgende Reihe zu entfalten.

Darüber hinaus haben die Angeklagten - unterstellt, sie hätten entgegen der vorstehend aufgezeigten Auffassung Gewalt angewendet - nicht rechtswidrig gehandelt.

Die Anwendbarkeit des § 240 StGB setzt neben der Erfüllung der Tatbestandsmerkmale des Abs. 1 die Feststellung der Verwerflichkeit des Handelns nach Abs. 2 dieser Vorschrift voraus. Eine solche wird durch die bloße Tatbestandserfüllung nicht indiziert. Ob eine Handlung als verwerfliche Nötigung zu bewerten ist, kann ohne Blick auf die mit ihr verfolgten Zwecke nicht festgestellt werden. Die Angeklagten und die Personen, die sich auf der Fahrbahn niederließen, wollten - wie aufgezeigt - mit ihrer Blockade Aufmerksamkeit für den von ihnen vertretenen politischen Standpunkt erregen. Sie wollten deutlich machen, dass der bevorstehende Angriff alliierter Streitkräfte auf den Irak als völkerrechtswidriger Angriffskrieg einzustufen ist. Es kam ihnen bei ihrer auf einer Gewissensentscheidung ruhenden Aktion darauf an, "ein Zeichen zu setzen". Sie wollten sich so symbolhaft der "Kriegsmaschinerie" widersetzen, "Sand ins Getriebe" streuen. Für die Blockadeteilnehmer war klar und beabsichtigt, dass sie bei Durchführung ihrer Aktion zur Erreichung des angestrebten Ziels in Rechtspositionen Dritter, nämlich in die der behinderten Verkehrsteilnehmer, eingriffen.

Bei Betrachtung der näheren Umstände der Blockadedemonstration, für die Verwerflichkeitsprüfung von Bedeutung ist, wobei auch Art und Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu bewerten sind, sind insbesondere auch nachfolgende, oben bei den Tatsachenfeststellungen bereits aufgezeigten Umstände zu berücksichtigen. Die Blockadeteilnehmer setzten sich in einer Zeitspanne von 26 Minuten auf die Fahrbahn und befolgten die polizeiliche Aufforderung sich zu entfernen nicht. Sie wurden sodann von den anwesenden Polizeibeamten weggetragen, wobei jeweils 2 Polizeibeamte einen Demonstranten wegtransportierten. Diese Wegtrageaktion nahm ebenfalls einige Zeit in Anspruch, weil die Teilnehmer der Blockadeaktion einzeln und nacheinander von der Fahrbahn entfernt wurden. Hierbei ist einmal zu berücksichtigen, dass sich die Demonstranten friedlich verhielten und wegtragen ließen; Zum Teil wurden die Blockadeteilnehmer unmittelbar auf den neben der Fahrbahn befindlichen Grünstreifen verbracht und kehrten von dort nicht wieder auf die Fahrbahn zurück. Von Bedeutung ist auch, dass Polizeibeamte in einer Anzahl vor Ort eingesetzt waren, die es ohne weiteres ermöglicht hätte, die 33 Blockadeteilnehmer in wenigen Minuten von der Fahrbahn zu entfernen. Damit wären auch die Behinderungen für die Verkehrsteilnehmer geringfügiger ausgefallen. Die Aktion der Demonstranten war vorher angekündigt, so dass sich Polizei und Verkehrsteilnehmer auf zu erwartende Behinderungen einrichten konnten. Der Ort der Blockade und die davon betroffenen Verkehrsteilnehmer, die behindert wurden, hatten zumindest zum Teil einen Bezug zu dem Versammlungsthema. Die Teilnehmer haben den Kommunikations- und Informationszweck in den Vordergrund ihrer Aktion gestellt und waren bei ihrem örtlich begrenzten Vorgehen darauf bedacht, Konfrontation mit den Polizeibeamten und Gewalttätigkeiten und weitere Eskalationen zu vermeiden.

Bei Abwägung der zu verzeichnenden Gesamtumstände meint das Gericht, dass die von den Angeklagten bewirkten relativ folgenarmen Behinderungen als nicht sozialwidrig einzustufen und mithin nicht als verwerflich zu bewerten sind.

Die Angeklagten sind nicht freigesprochen worden, weil sie wegen einer tateinheitlich zur angeklagten Straftat begangenen Ordnungswidrigkeit verurteilt worden sind.

Die Angeklagten haben sich wegen einer vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit gemäß § 29 Abs.1 Nr.2 Versammlungsgesetz schuldig gemacht.

(...)

V.

Bei Bemessung der gegen die Angeklagten wegen Begehung der Ordnungswidrigkeit nach dem Versammlungsgesetz festzusetzenden Geldbußen hat sich das Gericht insbesondere von nachstehend aufgezeigten Erwägungen leiten lassen.

Die Angeklagten haben gestützt auf eine von ihnen getroffene Gewissensentscheidung gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg protestiert. Nach ihrer Einschätzung sollten die unmittelbar kriegführenden Länder durch die Bundesrepublik Deutschland mittelbar logistisch, unter anderem durch Gestattung von Überflugrechten, in grundgesetzwidriger Weise Unterstützung erfahren. Sie handelten nicht etwa aus einer rechtsfeindlichen und nicht nachvollziehbaren Gesinnung heraus, sondern wollten vielmehr durch ihre Aktion erreichen, dass die durch Völkerrecht und Grundgesetz aufgestellten Forderungen befolgt werden.

Ihr auf moralische Grundsätze gestütztes Handeln war an den Prinzipien des sogenannten Zivilen Ungehorsams orientiert. Sie wollten durch eine behutsame Regelverletzung, die sie für gerechtfertigt hielten, übergeordnete Ziele erreichen. Ihr Vorgehen war von anerkennenswerten Motiven getragen. Ihre auch noch in der Hauptverhandlung spürbare Entrüstung und Enttäuschung über das Verhalten der Verantwortungsträger, die den Krieg gegen den Irak mit zumindest fragwürdigen Begründungen, die sich später zum Teil als unhaltbar erwiesen, zu rechtfertigen versuchten, wurde vielerorts von zahlreichen Menschen geteilt und waren Auslöser für die nicht allzu schwer wiegenden ordnungswidrigen Verstöße der Angeklagten.

Sie haben die mit den Personalienfeststellungen verbundenen polizeilichen Maßnahmen und eine Ingewahrsamnahme über mehrere Stunden hinweg und dadurch sie beeinträchtigende Eingriffe und Nachteile erfahren, die sie als unverhältnismäßig eingestuft haben.

Dem Gericht erscheint deshalb bei Abwägung der für und gegen die Angeklagten zu bewertenden Umstände die Festsetzung einer Geldbuße in Höhe von 5,- Euro für jeden der Angeklagten als tat- und schuldangemessen.

Bei gegebener Sachlage hätte das Gericht auch die Einstellung des Verfahrens gemäß § 47 Abs. 2 OWiG für vertretbar gehalten. Die hierfür erforderliche Zustimmung wurde von der Staatsanwaltschaft jedoch nicht erteilt.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus § 465 StPO in Verbindung mit § 46 OWiG.

Rupp
Richter am Amtsgericht

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