„Karabach gehört uns“

Der Karabach-Konflikt: Ratlose Politik, stumme Zivilgesellschaft

von Bernhard Clasen
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Über 5000 Menschen, Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen hatten im Herbst 2020 im Krieg um Nagornij Karabach ihr Leben verloren. Über 30.000 Menschen waren Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre im Gebiet des Karabach-Konfliktes in einem mehrjährigen Krieg umgekommen.

44 Tage hatten aserbaidschanische Militärs, unterstützt von der Türkei, im September, Oktober und November 2020 gegen die von Armenien unterstützte und von keinem Staat der Welt anerkannte „Republik Nagornij Karabach“ Krieg geführt. Der 44-tägige Krieg ist eine Geschichte von Vertreibung, dem Exodus eines großen Teils der armenischen Zivilbevölkerung und mindestens 5.000 Toten auf beiden Seiten. Angefangen hat diesen Krieg, so scheint es auf den ersten Blick, Aserbaidschan.

Doch die Geschichte vom Herbst vergangenen Jahres hat eine Vorgeschichte und diese Vorgeschichte hat wieder Vorgeschichten. Der Karabach-Konflikt ist eine never-ending-story von Gewalt und Gegengewalt. Zigtausende wurden in den letzten Jahren getötet, weil Armenier*innen und Aserbaidschan beide das Gebiet Nagornij Karabach für sich beanspruchen.

Für mich war dieser Krieg im Herbst 2020 wie ein Dejà-vue. 1994 hatte ich, gemeinsam mit Dagmar und Rainer Ossig, in Mönchengladbach einen dreimonatigen Aufenthalt von hundert aserbaidschanischen Kindern, die von Armeniern vertrieben worden waren, organisiert. Damals hatte ich erschütternde Erzählungen von Gräueltaten gehört. Aserbaidschanische Kinder haben berichtet, wie sie gesehen haben, wie ihre eigenen Eltern ermordet worden sind. Und im Herbst 2020 wiederholten sich die Ereignisse, nur dass dieses Mal Armenier*innen vertrieben wurden. Und dieses Mal jubelten Aserbaidschaner*innen, die teilweise selbst vor 26 Jahren vertrieben worden sind, über die gelungene Revanche. Viele können nun wieder in die Häuser zurückkehren, aus denen sie 1994 vertrieben worden sind.

Aserbaidschan mag völkerrechtlich gesehen im Recht sein. Die neuerliche Vertreibung von Armenier*innen, der Beschuss von zivilen Objekten in Städten in Karabach durch aserbaidschanische Artillerie und türkische Drohnen indes ist eine schwere Menschenrechtsverletzung.

Beide Seiten haben in diesem Krieg Kriegsverbrechen begangen. Die Armenier beschossen Wohngebiete in Berda und Gandschja, die Aserbaidschaner Wohngebiete von Stepanakert / Chankendi.
 
„Karabach gehört uns“
„Karabach gehört den Armeniern, in Karabach leben nur Armenier*innen und diese sollen selbst bestimmen, wem sie sich zugehörig fühlen. Die umliegenden sieben Rayone brauchen wir als ´Sicherheitsgürtel´. Wir können nicht mit den Aserbaidschanern zusammenleben.“ So ungefähr denkt die überwiegende Mehrheit der Armenier*innen.

Ich habe viel Verständnis für diese Sicht. Man braucht sich nur die armenische Kirche im Zentrum von Baku anzusehen. Gerne betont die aserbaidschanische Regierung, dass nach wie vor unbehindert Armenier*innen in Aserbaidschan leben. Doch die armenische Kirche in Baku ist schon lange geschlossen. Dies zeigt, dass die Befürchtung der Karabach-Armenier*innen, in Aserbaidschan nur Bürger*innen zweiter Klasse sein zu können, berechtigt ist.

„Wir sind in die UNO aufgenommen worden in den Grenzen, die das Gebiet von Nagornij Karabach beinhalten. Wir sehen nicht ein, warum wir dieses Gebiet den Armeniern schenken sollen. Und überhaupt: dieser angebliche ´Sicherheitsgürtel´, das ist aserbaidschanisches Gebiet, das die Armenier besetzt haben. Auch der UNO-Sicherheitsrat hat den Rückzug der armenischen Besatzungstruppen gefordert“, so die aserbaidschanische Sichtweise. Das Völkerrecht, für das die Unverletzlichkeit der Grenzen eines der höchsten Güter ist, steht auf der aserbaidschanischen Seite. 

Der Krieg von 2020 hat das Kräfteverhältnis vor Ort völlig verändert. Den sog. „Sicherheitsgürtel“ gibt es nicht mehr. Und wenn nicht auf Druck von Russland am 9. November 2020 ein Waffenstillstand unterzeichnet worden wäre, hätten die aserbaidschanischen Truppen auch Stepanakert / Chankendi eingenommen.

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte und der Vierte.
In der Folge des Krieges und der Waffenstillstandsvereinbarungen sind nun russische Truppen in Nagornij Karabach stationiert. Nicht auszuschließen, dass Karabach eines Tages mehr mit Russland als mit Armenien zu tun haben wird. In Karabach läuft nun nichts mehr ohne das Einverständnis der russischen Truppen. Auch für die Türkei war der Krieg geopolitisch ein Gewinn.

Möglicherweise sind auch türkische Truppen in Aserbaidschan stationiert. Derzeit, so berichtete das russische Internetportal ianed.ru im Dezember, werde eine türkische Militärbasis in der Nähe der aserbaidschanischen Stadt Gjandsche gebaut. Andere Medien berichteten von drei in Aserbaidschan geplanten türkischen Militärbasen. Am 8. Januar 2021 dementierte das aserbaidschanische Verteidigungsministerium auf seiner Facebook-Seite unter Hinweis auf seine Zugehörigkeit zur Bewegung der blockfreien Staaten jedoch derartige Meldungen.

Aserbaidschan war immer stolz darauf, dass seit seiner Unabhängigkeit nie fremde Truppen auf seinem Territorium stationiert waren. Nun ist unwahrscheinlich, dass die russischen Truppen nach fünf Jahren, wie in der Waffenstillstandsvereinbarung vorgesehen, die Region wieder verlassen werden.

Dass der Waffenstillstand des 9. November bisher hält, liegt einzig und allein daran, dass sich weder die Armenier*innen noch die Aserbaidschaner*innen mit den dort stationierten russischen Truppen anlegen möchten. Doch eigentlich gibt es inhaltlich für diese Waffenstillstandsvereinbarung keinen Konsens. Armenien möchte wieder einen Status Quo, wie man ihn bis zum 27. September 2020 hatte, und in der aserbaidschanischen Gesellschaft gibt es starke Stimmen für eine Eroberung von ganz Nagornij-Karabach.

Ein neuer Krieg ist somit vorprogrammiert. Sollten sich die Machtverhältnisse erneut verschieben, z.B. durch eine innenpolitisch bedingte Schwäche Russlands, ist nicht auszuschließen, dass Aserbaidschan weitergehen wird und ganz Karabach unter seine militärische Kontrolle bringen will. Dies würde ein weiteres Blutvergießen mit sich bringen. Um dies zu verhindern, muss jetzt schon gehandelt werden.
 
Wie weiter?
Es kann nicht sein, dass allein die Türkei und Russland über die Geschicke der Region entscheiden. Die internationale Gemeinschaft muss wieder mehr in die Konfliktregelung einbezogen werden. Die russischen Truppen müssen durch UNO-Blauhelme ersetzt werden, die OSZE muss vor Ort präsent werden.
 
Mit den leichten Aufgaben beginnen

Wenn ich mein Zimmer aufräumen und einen schwierigen Artikel schreiben muss, beginne ich in der Regel mit der einfachen Aufgabe, dem Zimmer. Und wenn ich dann ein Erfolgserlebnis habe, mache ich mich an die schwierigere Aufgabe. Genauso, denke ich, sollte man auch in diesem Konflikt vorgehen. Man sollte nicht mit der schwierigsten Frage, der Statusfrage von Karabach beginnen, sondern im Gegenteil mit einfachen Aufgaben beginnen. Im Kalten Krieg hatte es jede Menge von Verträgen mit der Sowjetunion gegeben. Und viele dieser Verträge hatten eine „Berlin-Klausel“, die besagte, dass der Status von Berlin von dieser Vereinbarung nicht berührt wird. Das Ausklammern der wichtigsten Frage hatte pragmatisch gesehen Erfolg gebracht. Eine ähnlich lautende Karabach-Klausel sollte auch im Südkaukasus ins Spiel gebracht werden. Neben der Statusfrage gibt es noch genug weitere Fragen, die geregelt werden müssen: humanitäre Fragen, ökologische Probleme, medizinische und soziale Themen. Warum also gerade mit der Statusfrage anfangen? Der Misserfolg ist vorprogrammiert.

Die Politik kann nur Rahmenbedingungen schaffen. Der abgrundtiefe Hass auf beiden Seiten lässt sich mit Politik allein nicht bekämpfen. Und genau an dieser Stelle muss Zivilgesellschaft ansetzen. Es ist die Aufgabe von gesellschaftlichen Aktivisten, eine Atmosphäre zu schaffen, in der für Hass und damit einen weiteren Kriegsgrund kein Platz ist.
 
Hier sehe ich vier Bereiche, in denen Zivilgesellschaft aktiv werden muss.

  • Gerade im kulturellen Bereich gibt es Anknüpfungspunkte, die beide Seiten interessieren könnten. So ist beispielsweise der verstorbene georgisch-armenische Chanson-Sänger Bulat Okudschawa bei Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen gleichermaßen beliebt. Schwerpunkt der Lieder von Okudschawa ist das Leid, das Kriege mit sich bringen. Warum nicht in Georgien ein Okudschawa-Festival organisieren?
    2012 veröffentlichte der aserbaidschanische Schriftsteller Akram Aylisli den Roman „Steinträume“, in dem er die anti-armenischen Pogrome von 1989 und 1990 in Baku beschreibt. Er sollte populär gemacht werden, z.B. mit einem Literaturpreis.
    Konstruktiv wären auch gemeinsame Projekte von Filmemachern und KünstlerInnen.
  • Dialog: Es muss ein Dialog von zivilgesellschaftlichen Strukturen beider Seiten ermöglicht werden. Anbieten würde sich hier, dass derartige Dialog-Projekte im Nachbarland Georgien stattfinden. Doch Vorsicht ist geboten. Dialog-Projekte sind gut vorzubereiten, ansonsten kann mit diesen das Gegenteil dessen, was man beabsichtigt, erreicht werden. Wer ein armenisch-aserbaidschanisches Treffen in Georgien organisiert, muss im Vorfeld überlegen, wie man verhindert, dass die Teilnehmer*innen bei einer Rückkehr in ihre Heimat nicht von Nationalist*innen und staatlichen Behörden angegriffen werden. Verhindert werden kann derartiges z.B. durch eine Schirmherrschaft einer angesehenen Organisation wie der OSZE.
    Auch eine gewisse Vertraulichkeit beim Dialog ist hilfreich. Wer einen Dialog von armenischen und aserbaidschanischen Historiker*innen zur Frage des Status von Nagorny-Karabach organisiert, medienwirksam Fernsehen etc. einlädt, wird wahrscheinlich Schiffbruch erleiden. Da wird es nicht zu einem nachdenklichen Dialog, sondern zu einem Schlagabtausch kommen.
  • Eine wichtige Rolle spielen auch die armenischen und aserbaidschanischen Communities im Ausland. Diese haben durchaus Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die Geschehnisse in ihren Heimatländern. Es hätte Vorbildwirkung, wenn sich beispielsweise in Deutschland lebende Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen in einem Dialog-Projekt austauschen würden.
    Wie gut ein Dialog zwischen Armenien und Aserbaidschan funktionieren kann, hat der Dörfertausch zwischen dem aserbaidschanischen Dorf Kyzyl-Shafag in Nordarmenien und dem armenischen Dorf Kerkenj in Zentralaserbaidschan gezeigt. Deren Bewohner*innen hatten in den 1980er Jahren ihre Dörfer auf eigene Initiative getauscht. (https://www.boell.de/de/2020/11/12/beyond-karabakh-conflict).
  • Seit Jahren organisiert der armenische Friedensaktivist Georgi Vanyan zusammen mit aserbaidschanischen und georgischen Kolleg*innen armenisch-aserbaidschanisch-georgisch-abchasisch-ossetische Begegnungen in dem georgischen Dorf Tekali. Er hatte es gewagt, nach Ausbruch des Krieges einer aserbaidschanischen Nachrichtenagentur ein Interview zu geben. Er fordert die Rücknahme des Beschlusses des Obersten Sowjets von Armenien und des Nationalrates von Nagornij Karabach vom 1. Dezember 1989 über einen Zusammenschluss. Außerdem will er Hate Speech in Armenien und Aserbaidschan unter Strafe stellen, die Verkehrsverbindungen zwischen beiden Ländern wieder herstellen, Georgiens Vermittlerrolle stärken, die Länder des Südkaukasus in einer freien Handelszone miteinander verbinden. In einer Art Nürnberger Prozess, so Vanyan, müssen all die Armenier und Aserbaidschaner vor Gericht gestellt werden, die ethnische Säuberungen und Kriegsverbrechen zu verantworten haben. Inzwischen wird er von den armenischen Behörden drangsaliert, Nationalisten drohen ihm mit einer Ermordung. Ihn zu unterstützen und in Dialog-Projekte einzubeziehen, wäre effektive Friedensarbeit.

 
Bernhard Clasen ist Kiew-Korrespondent von taz und eurotopics.net.

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