Der Raum des humanitären Engagements

von Helmut Dietrich
Schwerpunkt
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Zu Beginn möchte ich auf eine Erfahrung eingehen, die ich 1998 an der östlichen Schengener Außengrenze machte. Ende Juli 1998 wollte ich verunglückte kosovarische Flüchtlinge in Sachsen, in der Nähe der tschechischen Grenze, aufsuchen. In einer Gruppe von zwei Dutzend Personen waren sie kurz zuvor über die Schengener Außengrenze gekommen. Sie hatten dann versucht, in einem Lieferwagen aus der stark kontrollierten Grenzzone herauszukommen. Der Lastwagen war auf einer Verfolgungsjagd durch den Bundesgrenzschutz (BGS) bei hoher Geschwindigkeit in einer Kurve verunglückt. Sieben Menschen waren noch am Unfallort gestorben. Über 20 Personen wurden in Krankenhäuser der Region eingeliefert.

1. Die Schengener Außengrenze
In ihrem Herkunftsort bei Pristina war es im Juli zu achttägigen Kämpfen zwischen der UCK und serbischen Einheiten gekommen. Sie endeten mit der Niederlage der lokalen UKC und der Flucht der albanischen Bevölkerung. Ganz in der Nähe fand in jenen Tagen das Grenzcamp der Kampagne "Kein Mensch ist illegal" statt, es gab eine Demonstration in Freiberg - dort in der Nähe war der tragische Unfall passiert - und verschiedene Versuche, Unterstützung für die Verletzten zu organisieren.

Der Chefarzt des Krankenhauses Freiberg hatte mir telefonisch eine Besuchserlaubnis erteilt. Doch als ich in dem Ort ankam, bewachte der BGS das Krankenhaus wie ein Gefängnis. Er hatte sich mit dem Chefarzt, dem städtischen Ordnungsamt und anderen lokalen Hoheitsträgern über eine Isolation der Verletzten verständigt, völlig ohne gesetzliche Grundlage. Nur mithilfe von Tricks gelang es, den Verletzten Vollmachten zukommen zu lassen, mit denen ihre künftigen AnwältInnen Anträge auf Asyl stellten. Ein Teil der Verletzten wurde einige Tage später in die Tschechische Republik - in den so genannten Sicheren Drittstaat - abgeschoben, ein anderer Teil hingegen freigelassen. Ein Kriterium für diese unterschiedliche Behandlung war, ob sich die Krankenhäuser, auf die sie verteilt worden waren, in der Grenzzone oder bereits weiter im Landesinneren befanden.
Ich berichte von dieser Begebenheit, um zu verdeutlichen, in welcher Weise das Recht, Rechte zu haben, territorial abgeschwächt oder gar außer Kraft gesetzt wird. In der Grenzzone, gesetzlich auf eine Breite von 30 Kilometern festgelegt, haben Flüchtlinge, wenn sie gefasst werden, kaum Chancen auf eine Asylantragstellung und sind von sofortiger Rückschiebung in das Nachbarland bedroht. In den ostdeutschen Grenzregionen wird die Erzeugung von Rechtlosigkeit eingeübt. Staatliche Behörden und Teile der Gesellschaft praktizieren aktiv den Entzug von Rechten gegenüber einer bestimmten Personengruppe.

Ein Klima von Verdacht entsteht in diesem System nicht aufgrund von Hinweisen auf ein Delikt, sondern wegen vermuteter Migration, mithin nach phänotypischen Kriterien. Jeder Anwohner kann sich beteiligen und bei einem eigens zu diesem Zweck installierten "Bürgertelefon" den BGS anrufen. Die staatlichen Bürokratien mutieren an der Grenze zu erfinderischen, eifrigen Behörden.

So entwickelte sich die Praxis der beschleunigten Verfahren, in denen Verhaftete sofort dem Gericht zugeführt werden und auf Verteidiger und gegebenenfalls Dolmetscher verzichten müssen, zuerst und im größten Ausmaß in den Grenzregionen. So wurden in verschiedenen Regionen systematisch Taxifahrer strafrechtlich verfolgt, wenn sie - bei Inlandfahrten! - Personen befördern, die möglicherweise heimlich über die Grenze gekommen sind, und diese nicht per Funk der Polizei angezeigt haben. In der Grenzstadt Zittau wurden über ein Drittel der Taxifahrer bereits mit Strafverfahren überzogen.

Der große Umbruch in der Flüchtlingspolitik erfolgte nicht aufgrund einer europaweiten Diskussion, einer institutionellen Vereinheitlichung und einer dann folgenden gemeinschaftlichen, gleichmäßigen Umsetzung im gesamten Westeuropa, sondern anhand der Kreierung von Brennpunkten, von gefährlichen Orten. Die Oder-Neiße und die ostbayrische Grenze erhielten durch diese Praxis eine zunächst territorial begrenzte Vorreiterfunktion. Keine andere Grenze Europas wurde in so kurzer Zeit derart aufgerüstet, funktional neu bewertet und sozial neu gezogen. 1992-94 hatte die Schengener Außengrenzenpolitik an Oder und Neiße sowie in Ostbayern Modellcharakter erreicht. Die Inventarien, die die deutsche Bundesregierung an dieser Grenze entwickelt hat, haben heute Exportcharakter: Bilaterale Rückübernahmeabkommen, die Definition des Sicheren Drittlandes und die "Schleierfahndung" - die Kontrollen auf den Transitrouten anhand phänotypischer Kriterien - sind heute in Europa im standardisierten Modell-Know-How zu haben.

2. Die neue europäische Raumordnung
Meine Ausgangsthese ist, wie bereits benannt, dass die Flüchtlingspolitik eng mit der Formierung der europäischen Gesellschaft und Staatlichkeit verknüpft ist.
Zu Beginn der 90er Jahre hat sich diese Verschränkung von Flüchtlingspolitik und Europapolitik durch die Schaffung von Brennpunkten wie die der Außengrenze fürs erste nur lokal artikuliert. Aber seit 1997 - der Intervention in Albanien - und erst recht seit 1999 - der Intervention in Kosov@ und in der Bundesrepublik Jugoslawien - hat sie sich zusätzlich in die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den von ihr abhängigen neuen Staatsverwaltungen in Südosteuropa verwandelt, die ich provisorisch "Protektorate" nennen möchte (in verwaltungshistorischer Hinsicht ist die Anwendbarkeit dieses Begriffs noch zu überprüfen).

Entsteht in Gesamteuropa eine Art Doppelstaat: Souveränität und Normalität der neuen EU auf der einen Seite, Ausnahmezustand und Protektion auf dem Balkan auf der anderen Seite? Privilegien für die EU-BürgerInnen einerseits und underdogs auf der anderen Seite, denen aufgrund ihrer Balkan-Herkunft und ihrer heimlichen Ankunft in der EU die Persönlichkeit und das individuelle Gesicht, die soziale Eingebundenheit und der juristische Status abgesprochen werden?

Nicht nur die Erklärung des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, dass sich die Neugründung der EU entsprechend dem Amsterdamer Vertrag gewissermaßen im Akt der Bombardierung der Bundesrepublik Jugoslawiens vollziehe, deutet auf ein besonderes Verhältnis zwischen der EU und Südosteuropa hin. Es sind die migrations- und flüchtlingspolitischen Analysen und Maßnahmen der letzten Jahre, die aus dem Balkan das bedrohliche Hinterland der EU gefertigt haben. Auf den Begriff gebracht, heißt der neue Alarmfokus "Südroute" oder "türkisch-albanische Route", auf der sich die Flüchtlinge mit Schmugglern, Schleusern und dem Organisierten Verbrechen verbinden würden, auf dem Weg nach Westeuropa.

Es ist hier nicht der Ort, auf die Sezessionskriege im zerfallenden Jugoslawien einzugehen. Wichtig erscheint mir, wie die EU-Institutionen diese furchtbaren Entwicklungen lesen und in Politik übersetzen. Ähnlich wie bei der ostdeutschen Grenze Anfang der 90er Jahre regiert die flüchtlingspolitische oder gar kriminalpolitische Panikmache.

Anfang der 90er Jahre sind die angekündigten Millionen Flüchtlinge nicht an Oder und Neiße angekommen. Aber die Grenzaufrüstung mit allen sozialen Implikationen ist erfolgt. Die Zahlen festgenommener und rückgeschobener Flüchtlinge liegen heute wesentlich höher als damals. Während die dortige Grenzaufrüstung 1992-94 beispielsweise im Strategiepapier der Migrations- und Asylpolitik, das 1998 die österreichische EU-Präsidentschaft vorgelegt hat, inzwischen mit dem Mantel der Normalität belegt wird, ist nun der Balkan der allesbedrohende Unruheherd. Es seien neue Instrumentarien zu entwickeln, um die Gefahren des Emigrations- und Kriminalitätsexports, die von dort ausgingen, zu bannen. Die Fahndung entlang der Fluchtwege, die Installierung eines Frühwarnsystems und die Schaffung von Sicheren Häfen oder inländischen Fluchtalternativen seien die flüchtlingspolitischen Aufgaben, die sich die EU für die unmittelbare Zukunft vornehmen sollte. Die Flüchtlings- und Kriminalitätspolitik wird hier zum Schrittmacher einer neuen europäischen Raumordnung. Die EU legt sich einen Hinterhof zu.
 

Die westeuropäischen Regierungen hatten ihre neue Flüchtlingspolitik an den Schengener Außengrenzen in eine hauptsächlich polizeiliche Praxis übersetzt. Gegenüber Südosteuropa haben sie in den letzten Jahren zu einer Politik auch des militärischen Containments gegriffen. Erinnert sei an den Einsatz der italienischen Marine in der Adria gegen Flüchtlingsschiffe seit März 1997, an die Errichtung der makedonischen und albanischen Flüchtlingslager während der NATO-Bombardierung durch die kriegführende Partei NATO, ihre Lokalisierung in unmittelbarer Nähe der Grenzen, also des Kriegsgebiets, und an den zeitweiligen Zusammenbruch der Fluchtmöglichkeiten über die Adria während dieser Lagerpolitik.

Zurzeit beteiligen sich die beiden Anrainerstaaten des im Aufbau befindlichen EU-Protektorats - Österreich und Italien - maßgeblich an der Ausarbeitung eines Zusatzprotokolls "Gegen die Schleusung von Migranten zu Lande, in der Luft und zu Wasser" im Rahmen einer UN-Konvention. Die Signatarstaaten verpflichten sich, heimliche GrenzgängerInnen strafrechtlich zu verfolgen, und Kriegsschiffe sollen Flüchtlingsschiffe auf offener See aufbringen dürfen - ein Akt, der bisher völkerrechtlich verboten ist, auch in der Adria.

Für die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien hat sich die Situation in jeder Hinsicht dramatisch verschlechtert. In Deutschland sind es die kosovarischen Flüchtlinge, die, obwohl bekanntermaßen durch den jugoslawischen Staat bis zum Einmarsch der KFOR verfolgt, in asylrechtlicher Hinsicht am schäbigsten behandelt wurden. Es ist die Gruppe, an der seit letztem Jahr der Entzug jeglicher sozialer Unterstützung geprobt wurde. Die Fluchtwege aus dem Süden des ehemaligen Jugoslawiens sind durch den Militäreinsatz zu Wasser und durch die polizeiliche Fahndung längs der Fluchtwege auf dem Landweg gefährlich geworden. Und diejenigen, die wie in Bosnien-Herzegowina zu Hunderttausenden nicht in ihre Herkunftsorte zurück können, sondern in Baracken und Notunterkünften hausen, haben als "internal displaced persons" den minimalen internationalen Flüchtlingsschutz verloren.

3. Die Bevölkerungen und die Hilfsorganisationen
Nach 1945 waren die völkerrechtlichen Verhandlungen und Konventionen dahin ausgerichtet, die Bevölkerungen aus den Kriegen nach Möglichkeit auszuklammern, sie zu Nichtbeteiligten zu machen. Dort, wo es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam, galt für Hilfsorganisationen die Maxime, dass die Hilfe für die Bevölkerung keiner Kriegspartei zuzuordnen sein dürfte. Das Zauberwort jener Zeit hieß Entwicklung, mit der die entsprechenden Staaten - und nur indirekt die Bevölkerungen - zum Objekt wirtschaftlicher Zyklen gemacht wurden. Nach 1989/90 werden Konflikte und Katastrophen dagegen als Unruheherde interpretiert, die, wenn sie nicht territorial eingegrenzt werden, den Westen tangieren oder gar destabilisieren könnten.
 

1980 initiierte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland in der Generalversammlung der Vereinten Nationen unter dem Titel "Internationale Zusammenarbeit zur Vermeidung von neuen Flüchtlingsströmen" eine Entwicklung, die über viele Umwege zu den geschilderten Politiken der Schengener Außengrenzen und der flüchtlingspolitisch forcierten neuen europäischen Raumordnung führen sollte. Das Aufhalten der Flüchtlinge in ihren Herkunftsregionen, die Regionalisierung der Flüchtlingspolitik stand im Zentrum der Vermeidungs- oder Vorbeugungsstrategie. Die Flüchtlingshilfsorganisationen sollten sich von ihrer kritischen Tätigkeit in Westeuropa abwenden - damals begannen die Einschränkungen des Flüchtlingsstatus in Deutschland - und sich den Herkunftsländern der Flüchtlinge zuwenden, um sie dort zu binden. Diese Umorientierung, die dann tatsächlich, aber sehr langsam erfolgte, degradierte die unabhängige Flüchtlingshilfe zum "humänitären Arm" politischer und militärischer Interventionen der USA und Westeuropas in anderen Regionen.

1985 schlossen sich die Regierungen der reichsten Länder zu einer informellen Struktur außerhalb der Vereinten Nationen zusammen, um eine Regionalisierung der Flüchtlingspolitik und eine Umorientierung der Flüchtlingshilfswerke in die Wege zu leiten. Ich spreche von den "Intergovernmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North America and Australia", den IGC (meist "Informal Consultations" genannt) mit Sitz in Genf.

Wenn man ihre Veröffentlichungen betrachtet, kommt man nicht umhin, den IGC einen Initiativcharakter bei der Koordinierung der internationalen Flüchtlingsabwehr zuzusprechen. Sie inventarisieren nicht nur die Rückübernahmeverträge und die verschiedenen Praktiken der Behandlung von AsylantragstellerInnen und Illegalisierten, sondern haben sich in den letzten Jahren als Datenverarbeitungszentrale profiliert. Ihr Frühwarnsystem, das die Daten gefasster heimlicher GrenzgängerInnen aus einer Vielzahl von westlichen Staaten monatlich aufarbeitet, wird zurzeit an die EU-Institution CIREFI (Informations-, Reflexions- und Austauschzentrum für Fragen im Zusammenhang mit dem Überschreiten der Außengrenzen) angeschlossen.

Eine vergleichbare Aufgabe für Südost-, Zentral- und Osteuropa hat das 1993 gegründete ICMPD (International Centre for Migration Policy Development) in Wien übernommen. Dieser Think Tank hat überdies die Schnittstelle zwischen SFOR, KFOR, den Regierungen und NGOs in migrationspolitischer Hinsicht eingenommen. Als Sekretariat der europäischen Ministerkonferenzen, dem sogenannten Budapester Prozess, zeichnet es verantwortlich für die grenzpolizeiliche Aufrüstung der Protektorate.

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Helmut Dietrich ist Mitglied der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) und Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.