Die Europäische Union sieht sich bedroht

Der „strategische Kompass“ der EU

von Otmar Steinbicker

„A Strategic Compass for Security and Defence“ – Ein strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung, so lautet der Titel eines 28-seitigen Strategiepapiers, das der Rat der Europäischen Union im November 2021 zur Diskussion gestellt hat. 
Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass angesichts größerer geopolitischer Verschiebungen Europa fähig sein soll, seine Interessen zu verteidigen. Als Probleme benannt werden Konflikte und Instabilität von Nachbarregionen, der Klimawandel und „hybride Bedrohungen“. Auch Impfstoffe, Daten- und Technologiestandards seien Instrumente des politischen Wettbewerbs. Obendrein seien der Zugang zu den Weltmeeren, zum Weltraum und zur „digitalen Sphäre“ zunehmend umstritten. Dieses „feindseligere Sicherheitsumfeld“ verlange eine Erhöhung der Handlungsfähigkeit und -bereitschaft. „Europa kann es sich nicht leisten, in einer Weltordnung, die vor allem von anderen geprägt wird, ein Zuschauer zu sein“, lautet die Devise.
Der „Strategische Kompass“ sieht die EU von Instabilität und Konflikten umgeben. Dabei handle es sich um eine gefährliche Mischung aus bewaffneter Aggression, illegaler Annexion, fragilen Staaten, revisionistischen Mächten und autoritären Regimes. Dieses Umfeld sei ein Nährboden für vielfältige Bedrohungen der europäischen Sicherheit, von Terrorismus, gewaltbereitem Extremismus und organisierter Kriminalität bis hin zu hybriden Konflikten, der Verbreitung von Waffen und – explizit benannt – auch „irregulärer Migration“, der Flucht von Menschen aus Asien und Afrika in die EU.
Ließe sich über die Analyse und Konsequenzen daraus auf verschiedensten Ebenen wie Wirtschaft, Forschung und Entwicklung sowie Diplomatie, Entwicklungs- und humanitärer Hilfe diskutieren, so sieht der Ministerrat den entscheidenden Ausweg aus der von ihm analysierten problematischen Lage in der Verstärkung der zivilen, vor allem aber der militärischen Missionen und Operationen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Gefordert wird die Bereitstellung robusterer (ein Euphemismus für Kriegseinsätze) und flexiblerer Mandate, sowie eine raschere und flexiblere Beschlussfassung. 
Konkret sollen auf die Schnelle bis zu 5.000 Soldat*innen für verschiedene Krisenarten einsetzbar sein und rasch an Einsatzorte verlegt werden können. Darüber hinaus sollen gemeinsame Lösungen für die Entwicklung unbemannter Marine-Plattformen, zukünftiger Kampfflugsysteme und Kampfpanzer sowie Fähigkeiten zur weltraumgestützten Erdbeobachtung gefunden werden.
Um eine flexiblere Beschlussfassung des Einsatzes dieser Truppe zu ermöglichen, soll es dafür auch explizit die Möglichkeit einer Koalition der Willigen geben. Als mögliche Einsatzorte für Truppen und „robustere“ Kampfeinsätze werden die Sahel-Zone, das Horn von Afrika und die Straße von Hormus genannt, die nur 55 Kilometer breite Meerenge, die den Persischen Golf mit dem Golf von Oman, dem Arabischen Meer und dem Indischen Ozean im Osten verbindet und durch die 40 Prozent des Weltölverbrauchs transportiert wird. Auch an eine koordinierte Marinepräsenz in anderen Gebieten von EU-Interesse, wie dem Indopazifik ist gedacht.
Obendrein soll der „Strategische Kompass“ sowohl die strategische Autonomie der EU stärken als auch die NATO.
Das Konzept erinnert an das Konzept der EU-Battlegroup von 2004, die mit einer Gesamtstärke von 1.500 Militärs in einem 6000-km-Radius um Brüssel operieren sollte, was auf mögliche Einsätze in Krisengebieten in Afrika und im Nahen Osten schließen ließ. Die NATO hatte bereits 2002 auf die Bereithaltung von „Schnellen Eingreiftruppen“ mit einer Stärke von 25.000 Soldaten orientiert. Beide Truppenkontingente kamen bisher nicht bei Konflikten zum Einsatz. Teile des NATO-Kontingents beteiligten sich 2005 an Einsätzen zur Katastrophenhilfe, insbesondere zum Transport von Hilfsgütern, in den USA nach dem Hurrikan Katrina und in Pakistan nach einem Erdbeben.
Auffällig an dem „Strategic Compass for Security and Defence“ des Rates der Europäischen Union ist, dass hier vor allem ein deutliches Signal in Richtung auf eine militärische Ausrichtung der EU gegeben wird. Das Konzept ist – wie die Vorgängerkonzepte – weder zur akuten Krisenbewältigung und schon gar nicht zur Bewältigung von Problemen „angesichts größerer geopolitischer Verschiebungen“ geeignet.
Sowohl der Afghanistankrieg als auch der Militäreinsatz in Mali haben eindrucksvoll gezeigt, dass mit Militär keine politischen Konflikte gelöst, sondern allenfalls verschärft werden können. Auch der Frontex-Einsatz der EU löst nicht die Probleme, die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat treiben, sondern erhöht nur die Risiken, denen diese ausgesetzt sind.
Zu den größeren geopolitischen Verschiebungen der letzten 20 Jahre gehört die massiv gestärkte ökonomische Rolle Chinas auf Kosten der USA. Zu den Gründen für diese Entwicklung gehört nicht zuletzt, dass China in diesem Zeitraum etwas die gleiche Summe Geld, die die USA in den Kriegen im Irak und Afghanistan verloren hat, gewinnbringend zum eigenen Nutzen in Infrastrukturprojekte der „Neuen Seidenstraße“ investiert hat.
 

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund
Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de