Symposium und BAG-Treff in Marburg vom 25.-27.10.91:

Deserteure und Militärstrafjustiz

von Roland MüllerMani Stenner

Die historische Forschung zu Wehrmacht und Kriegsverbrechen, zur NS-Militärjustiz und der Stand der -immer noch fehlenden- Entschä­digungsmöglichkeiten für Wehrmachtsdeserteure und andere verges­sene Opfer von Militärjustiz und -psychiatrie stehen im Mittelpunkt des Symposiums in Marburg.

Damit soll das Symposium zum bun­desweiten Kristallisationspunkt der De­batte um die Opfer der NS-Militärjustiz und deren Entschädigung werden, die mit der Aufstellung verschiedener De­serteur-Denk-Male und der Gründung des Verbandes der Opfer in Gang ge­kommen ist. Deshalb befaßt sich das Treffen mit den Fragen, wie Wehrmacht und Nationalsozialismus verzahnt waren und welchen Anteil die Wehrmacht an Kriegsverbrechen hatte, wem der deut­sche Soldat diente.

Im zweiten Teil soll zum einen die Le­gende von der Rechtsstaatlichkeit der Militärstrafjustiz angegangen werden. Dazu sind Ideologie und Politik der Mi­litärrichter, Praxis und gesetzliche Grundlagen der Militärstrafjustiz und - im Vergleich - die Militärstrafjustiz an­derer am Krieg beteiligter Staaten zu thematisieren. Zum anderen soll der Militärpsychiatrie der Nimbus genom­men werden, eine ganz normale klini­sche Einrichtung gewesen zu sein. Im dritten Teil soll durch Zeitzeugen eine breite Palette von Motiven und Flucht­verläufen dargestellt werden. Dabei soll die Problematik der Abweichung und der Verweigerung angesichts der nach­haltigen Wirkung von Volksgemein­schafts- und Kameradschaftsideologie zur Sprache kommen, sowie die fortge­setzte Ächtung der Opfer der NS-Mili­tärjustiz und -psychiatrie nach 1945. Die Forderungen von Gerichten in Entschä­digungsverfahren und von einigen Teil­nehmern an der aktuellen Debatte, wo­nach die Verweigerung gegenüber dem NS-Militärapparat eine „gewisse Er­folgsaussicht“ auf den Sturz des Regi­mes gehabt haben müsse, um als Oppo­sitionshandlung gewertet zu werden, oder nach der Reinheit der Motive, er­scheinen dabei als das, was sie sind: Diskriminierung der Opfer auch im Nachhinein.

Im vierten Teil des Symposiums geht es um Entschädigungsrecht und -praxis, insbesondere auch um die Veränderun­gen für die Verfolgten, die in der DDR lebten. Der fünfte Teil soll die Thematik in die Diskussion des Umgangs mit (vergessenen) Opfern einbetten und zu­gleich einer Perspektivendiskussion die­nen.

Kirchentag und Deserteure
Beim Kirchentag im Ruhrgebiet wurde eine Resolution zur Rehabili­tierung der Wehrmachtsdeserteure und Opfer der Militärjustiz der EAK-Bremen, die bei einer Diskussionsveranstaltung verabschiedet wurde, vom Kirchentagspräsidium aus formalen Gründen nicht aner­kannt.

Am 27.10. sind speziell die Gruppen und Interessierten zu einer Bundesar­beitsgemeinschaft eingeladen, die sich mit Diskussionen und Denk-Malen um die Deserteure oder um Wehrpflicht und Totalverweigerung beschäftigt haben. Dabei wird auch geprüft, wie und in­wieweit dieser Strang antimilitaristi­scher Arbeit noch verfolgt wird, ob und wie gemeinsame Vorhaben oder Ver­netzung nötig, möglich und nützlich ist. Es geht also 1. um Austausch, Berichte und Probleme (nach Möglichkeit auch insbesondere aus der Ex-DDR), 2. Dis­kussion über die relativen Mißerfolge bei früher verabredeten gemeinsamen Aktionen (Wanderausstellung, Kampa­gne Wehrkraftzersetzung, Kirchentags-Aktivitäten) und der Notwendigkeit von Vernetzung und Aktivitäten, 3. Mög­lichkeiten zur Unterstützung der Ent­schädigungsforderungen der vergesse­nen NS-Opfer, 4. Bewertung des Medi­ums „Deserteur-Denkmal“ für das Thema. Gibt es andere, jetzt besser geeignete Medien zur Öffentlichkeitsar­beit oder ist gar die Verknüpfung anti­militaristischer Arbeit mit den histori­schen Bezügen der falsche Hebel? Liegt es daran, daß die BAG im Golfkrieg keine eigenstündige Arbeit gemacht hat? Ist deshalb eine Internationalisierung des Themas Verweigerung und Deser­tion relativ schwierig?

Symposium und BAG-Treffen finden statt in der Philosophischen Fakultät, Wilhelm-Rüpke-Straße in Marburg. VA: Geschichtswerkstatt Marburg, Bundes­vereinigung der Opfer der Militärjustiz, Bundesarbeitsgemeinschaft der Deser­teur-Initiativen, AStA - Referat Frieden und Antimilitarismus Uni Marburg. Weitere Infos und Anmeldung: Ge­schichtswerkstatt Marburg e.V., Lie­bigstraße 46, 3550 Marburg, Tel. 06421/13107.

Ausgabe

Rubrik

Initiativen
Roland Müller arbeitet in der Geschichtswerkstatt Marburg