Mainzer Friedenserklärung zum 25. Jahrestag des Elysee- Vertrages am 22. Januar 1988

Deutsch-französische Friedensbewegungs - Zusammenarbeit kommt in Gang

von Martin Gräbener - Reimann

Nach dem INF-Abkommen scheint für die westeuropäischen Regierungen, allen voran Frankreich und die BRD, die sicherheitspolitische Welt unterzugehen. Befürchtet wird die Abkopplung der USA von der westeuropäischen Sicherheitspolitik (Vgl. den Artikel zu "Discriminate Deterrence" in diesem Rundbrief). Neben Kompensationsplanung und Nachrüstungsplanung im Kurzstreckenbereich forcieren die westeuropäischen Regierungen jetzt ihre militärische Zusammenarbeit im politischen Rahmen der WEU. Im Gespräch ist bereits auch eine eigenständige europäische nukleare Planungsgruppe.

Militärachse Bonn-Paris

Eine besondere Bedeutung, ja fast schon Türöffner - Funktion spielt hierbei die deutsch-französische Militärkooperation, die Herausbildung einer Militärachse Bonn - Paris. Mit dem Großmanöver "Kecker Spatz" in Süddeutschland wurden die ersten praktischen Erfahrungen für den am 22. Januar von Kohl und Mitterand in Paris verkündeten Aufbau der 1. gemischten deutsch-französischen Brigade gewonnen. Die Brigade soll am 1.10. in Böblingen aufgestellt werden. Ihre Aufstellung hat einen hohen symbolischen Wert und wird die Tür für den NATO/US-unabhängigen Strang praktischer militärischer Kooperation mit altem Feindbild und mit altem europäischem Großmacht-Denken weit aufstoßen. Parallel dazu und mit dem Auftrag der Erarbeitung eines gemeinsamen deutsch-französischen Sicherheitskonzeptes wurde in Paris der deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungsrat gebildet und damit die im "Elysee-Vertrag" von 1963 vorgesehene politisch-militärische Koooperation aus ihrem bisherigen Dornröschen-Schlaf herausgeholt.

Welche Richtung diese ganze Entwicklung hat zeigen die v.a. in Frankreich nicht verstummen wollenden Diskussionen und Spekulationen über die "Vorne-Stationierung" französischer Gefechtsfeldwaffen wie der neuen nuklearen Kurzstreckenraketen "Hades" in der Bundesrepublik. Hier wird sogar über ein 2-Schlüssel System nachgedacht, was nichts anderes bedeuten würde als daß die Bundesrepublik auf diesem Wege durch Mitbestimmung und Mitverfügung zum Atomwaffenstaat würde.

Völkerfreundschaft und Widerstand

Vor dem geschilderten Hintergrund sind die ersten erfolgreichen Arbeitskontakte und Gespräche der bundesdeutschen und französischen Friedenbewegung nicht hoch genug einzuschätzen. Beginnend mit einer ersten Veranstaltung im September letzten Jahres in Paris, gefolgt von einer gut besuchten und produktiven Arbeitsgruppe bei der Aktionskonferenz der Friedensbewegung im November in Bonn hat v.a. das vom KA organisierte Mainzer Seminar der bundesdeutschen und französischen Friedensbewegung Mitte Januar diesen Jahres weitreichende Ergebnisse und den Willen zu verstärkter Zusammenarbeit sowie gemeinsamer Aktion und Kampagne gegen die Entstehung einer Militärachse Bonn-Paris erbracht.

Neu und v.a. für Frankreich von hoher politischer Bedeutung war die Anwesenheit von Vertretern aller wichtigen friedenspolitischen Organisationen aus Frankreich quasi an einem Tisch und: Daß es trotz französischem Präsidentschafts-Wahlkampf möglich war sich gemeinsam mit den in ebensolcher Breite vertretenen bundesdeutschen Friedensgruppen und Organisationen auf eine Politische Erklärung aus Anlaß des deutsch-französischen Regierungsgipfels am 22.1. in Paris zu einigen sowie über einen Arbeitsfahrplan für 1988. In zwei Seminaren, in Konsultationen, in gemeinsamen Veranstaltungen, gegenseitigen Einladungen, Materialaustausch und der angestrebten Herausgabe eines gemeinsamen Infoblattes soll die Diskussion vertieft werden und in Richtung auf gemeinsame Kampagnen und Aktionen in der breiten Öffentlichkeit entwickelt werden. Schon die Aufstellung der deutsch-französischen Brigade wird am 1.10. in Böblingen mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer größeren gemeinsamen 'Aktion und Manifestation der beiden Friedensbewegungen führen.

Wir rufen dazu auf, die "Mainzer Friedenserklärung" in der Friedensbewegung und der befreundeten Öffentlichkeit intensiv zu verbreiten und zu diskutieren, Veranstaltungen zur deutsch-französischen Militärpolitik zu organisieren und überhaupt alle Möglichkeiten wie z.B deutsch-französische Städtepartnerschaften, Jugendaustausch, Universitäts- und Schulkontakte etc. zur Problematisierung und Anprangerung der Militarisierung der deutsch-französischen Beziehungen zu nutzen.

 

Mainzer Friedenserklärung zum 25. Jahrestag des Elysee- Vertrages am 22. Januar 1988

Am 22. Januar wird der 25. Jahrestag des Elysee-Vertrages gefeiert. Dieser Geburtstag hat eine zweifache Bedeutung. Zum einen ist er ein Zeichen dafür, daß die Völker Frankreichs und der Bundesrepublik es nach dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland gelernt haben, Feindbilder abzubauen, einander zu verstehen und freundschaftliche Beziehungen zueinander aufzubauen. Zum anderen aber steht der Vertrag dafür, daß Frankreich und die BRD eine immer gefährlicher werdende Militärzusammenarbeit entwickeln.

Auf Einladung des Koordinierungsausschusses der Friedensbewegung der Bundesrepublik haben sich deshalb am 16. und 17. Januar Menschen aus den Gruppen und Organisationen der Friedensbewegungen der beiden Länder in Mainz getroffen, um dem Protest gegen die verstärkte Militärzusammenarbeit ihrer Länder Ausdruck zu verleihen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars erklären:

Das Abkommen über die Beseitigung der atomaren Mittelstreckenraketen zeigt: Es gibt eine Chance, mit dem Rüstungswettlauf Schluß zu machen. Abrüstung ist möglich. Dazu haben die Friedensbewegungen in Westeuropa durch ihren Druck auf die Regierenden einen wichtigen Beitrag geleistet. Weitere Abrüstungsschritte in Europa und weltweit können und müssen jetzt durchgesetzt werden.

Während jedoch die USA und die UdSSR an diesem Vertrag gearbeitet und ihn geschlossen haben, versuchen die Regierenden in Bonn und Paris, durch verstärkte militärische Kooperation die bevorstehende Abrüstung zu kompensieren.

Diese Entwicklung ist gefährlich. Wir beobachten heute einen deutlichen Ausbau der französischen Atomstreitkräfte, konventionelle Aufrüstung in beiden Ländern und das Bemühen um eine verstärkte militärische Integration in Westeuropa rund um die Achse Bonn-Paris. Aufrüstung aber widerspricht den Interessen der Menschen in Frankreich wie in der Bundesrepublik. Sie macht Europa nicht sicherer. Gerade die Völker in Europa wissen, vielleicht besser als andere, daß Krieg kein Mittel der Politik sein darf! Frieden kann nicht errüstet werden, weder konventionell, noch chemisch und auch nicht nuklear, weder national noch in deutsch-französischer Zusammenarbeit.

Wir wollen nicht, daß die Freundschaft zwischen den Völkern Frankreichs und der Bundesrepublik mißbraucht wird, um neue Kriege vorzubereiten. Frieden kann nur politisch geschaffen werden, durch Abrüstung ermöglicht werden. Gerade deshalb müssen die Friedensbewegungen in unseren Ländern gemeinsam protestieren

  • gegen den Ausbau der Force de Frappe, Pläne Frankreichs, die Neutronenbombe zu bauen und eventuell in der BRD zu stationieren, gegen eine bundesdeutsche Mitverfügung oder Mitsprache über französische Atomwaffen und eine französische atomare "Sicherheitsgarantie" für die Bundesrepublik
  • gegen die Atomtests in Muroroa und an anderen Orten in der Welt
  • gegen den Aufbau einer deutschfranzösischen Brigade, eines gemeinsamen Verteidigungsrates und die gemeinsame Produktion von Waffensystemen
  • gegen militärisch orientierte Weltraumprojekte (so z.B, Pläne für einen gemeinsamen Satelliten für Zielplanung und Aufklärung oder ein westeuropäisches Raketenabwehrsystem)
  • und gegen die Schaffung einer westeuropäischen Militärintegration, sei es im Rahmen der WEU, der europäischen politischen Zusammenarbeit, der EWG oder sei es über die Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO.

Zugleich aber wollen wir als Friedensbewegungen in unseren Ländern für weitere Abrüstungsschritte werben! Abrüstung muß für unsere Regierungen unumgänglich werden. Wir treten ein:

  • Für eine Beseitigung aller strategischen und taktischen Atomwaffen. Wir wollen eine Welt ohne Atomwaffen, ein atomwaffenfreies Europa. Gemeinsam lehnen wir alle Atomwaffen ab, auch die französischen.
  • Für eine deutliche Reduzierung der Truppenstärken, der konventionellen Bewaffnungen und der Rüstungsausgaben. Wir wollen eine Welt mit immer mehr Abrüstung; deshalb treten wir dafür ein, daß die BRD und Frankreich endlich beginnen, konventionell abzurüsten. Die freiwerdenden Gelder können viel besser für die Lösung sozialer Probleme, Aufgaben des Umweltschutzes und eine andere Politik gegenüber der 3.Welt benutzt werden.
  • Für ein weltweites Verbot der chemischen Waffen.
  • Und für gerechte und partnerschaftliche Beziehungen zu den Ländern der 3.Welt.

Wir wollen eine französisch-deutsche Freundschaft, die keine Vorherrschaftsansprüche erhebt. Und wir sagen Nein zur militärischen Zusammenarbeit.

Unser Seminar anläßlich des 25.Jahrestages des Elysee-Vertrages ist Zeichen für den Beginn unserer gemeinsamen Bemühungen, Abrüstung in Europa durchzusetzen und weitere Aufrüstung zu verhindern.

Wir werden unsere gemeinsame Arbeit fortsetzen, um das System der Abschreckung durch eine Ordnung politischer Friedenssicherung zu überwinden. Dabei ist es notwendig und hilfreich, wenn Menschen unterschiedlicher Weltanschauung und politischer Position gemeinsam handeln und diskutieren. In der Zukunft kommt es darauf an, daß wir die Diskussion über folgende Fragen fortsetzen, beispielsweise:

Wie kann ein Europa, in dem Frieden politisch und nicht nur militärisch gesichert wird, ein Europa, das keine Vormachtansprüche erhebt, aussehen?

Auf welchen Wegen kann ein Europa, wie die Friedensbewegungen es wünschen, politisch durchgesetzt werden?

    • Wie kann sichergestellt werden, daß die wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht für militärische Zwecke mißbraucht, sondern für die Lösung von Problemen des Umweltschutzes und sozialer Fragen eingesetzt wird?
    • Wo bestehen Gemeinsamkeiten oder Differenzen bei der Ablehnung atomindustrieller Zusammenarbeit in beiden Ländern (Malville, Kalkar, Hanau, La Hague etc.) und wie können die Gemeinsamkeiten ausgebaut und die Differenzen überwunden werden?

Diese gemeinsame "Mainzer Friedenserklärung" der Bundesdeutschen und der französischen Friedensbewegung soll am 21. Januar - ein Tag vor dem Pariser Gipfeltreffen - im Rahmen von Pressekonferenzen und eitler Kundgebung der französischen Friedensbewegung vor dem Elysee-Palast in Bonn und Paris der Öffentlichkeit vorgestellt werden .

Die etwa 100 Teilnehmer des Seminars - Delegierte fast aller größeren, bundesweit/national arbeitenden Friedensorganisationen aus der Bundesrepublik und Frankreich waren anwesend - einigten sich über diese Erklärung aus Anlass des Pariser Gipfels hinausgehend für 1988 auf 3 Punkte, um den Prozess der gegenseitigen Vernetzung und der Entwicklung eines tieferen Verständnisses der Friedensbewegungen füreinander sowie die Planung gemeinsamer Aktionen voranzutreiben.

Diese 3 Punkte beinhalten im Einzelnen:

  • Konsultationen: Ab jetzt soll 2 mal jährlich auf national/bundesweiter Ebene in Form von Konsultationen über den jeweiligen Stand der Friedensarbeit und zur Planung aktueller Aktions- und Arbeitsschritte zusammengetroffen werden.
  • In 1988 soll noch mindestens ein, wahrscheinlich aber zwei Seminare stattfinden - das nächste in Frankreich. Themenstellung soll sein: 
  1. Erfahrungen und Perspektiven der jeweiligen Friedensbewegungen, Gemeinsamkeiten, Differenzen, Differenzen auch in der jeweiligen Sicht voneinander
  2. Gesellschaftlicher Konsens und öffentliche Meinung in beiden Ländern in der Frage von Friedens- und Sicherheitspolitik, Entstehungsgeschichte und jeweilige Bruchpunkte, Vorurteile der öffentlichen Meinungen in der Sichtweise von Friedensbewegung, Friedens- und Sicherheitspolitik voneinander und übereinander
  3. Der militärisch-politische und rüstungsindustrielle Komplex, der sich um die entstehende Militärachse Bonn-Paris rankt
  4. Die jeweilige Diskussion über Alternativkonzepte wie Zivile Verteidigung, Defensive Verteidigung, Konzepte Gemeinsamer Sicherheit, Gemeinsamkeiten, Differenzen     
  • Vernetzungsaktivitäten: Ein gemeinsamer Adressverteiler soll aufgebaut werden, eine regelmässiger Infoaustausch über die jeweiligen Publikationen soll durchgeführt werden, im Laufe des Jahres soll die Herausgabe eines gemeinsamen Infoblattes für die Friedensbewegungen in beiden Ländern angegangen werden.

Weiterhin soll den jeweiligen Friedensorganisationen in der Bundesrepublik und in Frankreich die intensive friedenspolitische Nutzung der existierenden deutsch-französischen Städtepartnerschaften, des deutsch-französischen Jugendaustausches, die Nutzung und Herstellung von Universitäts-Kontakten sowie überhaupt der friedenspolitische Austausch im Bildungsbereich vorgeschlagen werden.

Gegenseitig sollen sich die Friedensorganisationen verstärkt zu ihren jeweiligen Aktionen, Seminaren und Veranstaltungen einladen.

Der erfolgreiche Verlauf des Mainzer Seminars zeigt auf, das auf beiden Seiten der Friedensbewegungen großes Interesse an Zusammenarbeit besteht. Wir sind deshalb zuversichtlich, daß die entstehende Militärachse Bonn - Paris mit all ihren möglichen, friedensgefährdenden Konsequenzen nicht widerspruchslos hingenommen werden wird und die Arbeit der Friedensbewegungen dazu beitragen wird, auch diesen Prozess von Militarisierung und Aufrüstung und der Entstehung neuer Großmacht-Konstellationen zu bremsen, zu stoppen und letztendlich umzukehren.

STATT MILITÄRKOALITION DER REGIERENDEN

FRIEDENSKOALITION DER VÖLKER!

 

Ausgabe

Rubrik

Im Blickpunkt
Die GRÜNEN, Arbeitsbereich Deutschland - Frankkreich im KA