Krisenphänomene

Deutschland im Sog autoritärer Politik

von Dirk Vogelskamp
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Wir erleben gegenwärtig einen tiefgreifenden politischen und kulturellen Umbruch, der vertraute demokratische Orientierungen durcheinanderwirbelt. Begleitet werden diese Umbrüche von einer krisenhaften wirtschaftlichen Weltentwicklung, die zumindest das Ende des „Traums immerwährender Prosperität“ erahnen lässt. Unterschiedliche soziale Protestbewegungen, die sich je besonders für eine offene und gerechte Gesellschaft stark machen, sehen sich in ihrem politischen Engagement einem nahezu allüberwachenden, Freiheitsrechte einschränkenden Sicherheitsstaat und einer autoritär nationalistischen Gesellschaftsformierung gegenüber, an deren Rändern sich verstärkt neonazistische, gewaltbereite Formationen offen bewegen.

Die Erosion liberal-demokratischer Gesellschaftsordnungen wird bundesrepublikanisch wohl zuerst am Legitimationsverlust der Volksparteien des alten industriellen Regimes und dem Aufstieg der rechtspopulistischen AfD augenscheinlich. Diese verschiebt mit ihrer nationalistischen, fremdenfeindlichen Politik die moralischen Grenzen öffentlicher Debatten und die innerparteilichen Diskurse ihrer parlamentarischen Konkurrenten. Offen menschenfeindliche Einstellungen triumphieren in der asylpolitischen Auseinandersetzung. Zugleich sucht die AfD sukzessive den Schulterschluss mit den wutbürgerlichen Straßenprotesten und neonazistischen Schlägertrupps. Sie alle mobilisieren und organisieren Ressentiments, trachten zusammen die liberalen Grundlagen der Gesellschaft „konservativ revolutionär“ umzuwälzen. Es ist zu fragen, welchen inneren Zusammenhang die beiden gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen eines repressiven Sicherheits- und Überwachungsstaats auf der einen und einer autoritär nationalistischen Gesellschaftsformierung auf der anderen Seite aufweisen.

Einen ersten Hinweis bietet vielleicht der Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, einst Berater von Hartz-IV-Kanzler Schröder, der in einem öffentlich intensiv diskutierten Buch (Die gekaufte Zeit) das Auseinanderfallen von Demokratie und Kapitalismus beklagt und das Gesellschaftsmodell einer vor demokratischer Korrektur geschützten kapitalistischen Marktwirtschaft als neoliberale Diktatur beschwört, in der sich „das Staatsvolk“ vorwiegend konformistisch als „Marktvolk“ begreift und die übrigen Bürgerinnen und Bürger zum außerparlamentarischen Protest greifen lässt. Der historische Kompromiss zwischen Kapitalismus und Demokratie scheint aufgekündigt.

Die europäischen Gesellschaften werden gegenwärtig von verschiedenen Krisen tief geprägt. Da ist zum einen die Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus (2008), die die Gleichheitsversprechen der industriellen Moderne endgültig begraben hat. Sie hat nicht allein den von Austeritätspolitiken gebeutelten, abhängigen Massen die Instabilität und Fragilität des „neoliberalen“ Weltsystems und die Grenzen des kapitalistisch betriebenen Wachstums mit seinen allgemeinen Wohlstandsversprechen vor Augen geführt. Entsprechend sinkt das Vertrauen in „Staat und Politik“, die Folgen expansiv kapitalistischer „Globalisierung“ beherrschen zu können. Die Akzeptanz parlamentarischer Demokratie nimmt nicht nur in den deklassierten Bevölkerungsteilen ab. Rechtsnationalistische Parteien und autoritäre Bewegungen sind global im Aufwind.

Selbst in den militärmächtigen Industriestaaten des globalen Nordens sind zweitens die Auswirkungen des Klimawandels inzwischen unmittelbar spürbar. Die weltweiten sozialen Verwerfungen, die vermehrt damit einhergehen, sind unübersehbar. Der Klimawandel wirkt wie ein Brandbeschleuniger auf die bestehende Instabilität der Welt. Dazu gehört die Zunahme internationaler Konflikte im Zuge neoliberaler und postkolonialer Durchkapitalisierung der Welt in Form von Ressourcenkriegen, ethnisch aufgeladenen Gewaltkonflikten und religiös eingekleideter militanter Bewegungen ebenso, wie die weltweite Zunahme bitterer Armut bis hinein in die Zitadellen des Kapitalismus.
Der „global war on terrorism“ als Ausnahmezustand (heute: als Normalzustand fortgeführt) wird drittens als Reaktion auf die neuen strategischen Unsicherheiten ausgerufen (2001), und innerstaatlich wird „Sicherheit“ zur allumfassenden, gesetzgeberischen Staatsaufgabe erklärt, die nun etwa in den Polizeigesetzen der Länder neue Gestalt annimmt. Sicherheit meint in diesem Zusammenhang immer auch Legitimation und Sicherung bestehender Herrschaftsverhältnisse in einem konkurrenzgetriebenen Spätkapitalismus. Das Scheitern der Migrationskontrolle (2015) angesichts millionenfacher Migration und Flucht sowie die absehbaren, tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen im Gefolge der Digitalisierung der Wirtschaft in der Erwartung, neue Wachstumsraten zu generieren, bilden weitere Facetten tiefgreifender bürgerlicher Ängste und Verunsicherungen. Dieses nur kursorisch aufgeführte Krisenbündel bestimmt die gesellschaftlichen Verhältnisse und damit die Lebenswirklichkeit aller Bürgerinnen und Bürger, die sich damit auseinanderzusetzen haben.

In einer „autoritären Revolte“ (Volker Weiß) suchen verbitterte BürgerInnen, rückwärtsgewandt und „die Fremden“ rassistisch abwertend, Schutz vor den Unbilden der Globalisierung und vor den damit einhergehenden tatsächlichen Entwertungen des eigenen Lebens in einem nationalistisch autoritären Staat. Sie stimmen freiwillig in die autoritäre gesellschaftliche Dynamik mit ein, der sie sich einerseits unterwerfen, sie andererseits in autoritärer Aggressivität mitbestimmen. (Decker/Brähler, Flucht ins Autoritäre, Gießen 2018). Teile der liberal bürgerlichen und gutbetuchten Mitte, von dieser autoritären Dynamik nicht minder erfasst, setzen hingegen vehement auf einen technisch hochgerüsteten Sicherheitsstaat, dem die Aufgabe zufällt, das eigene exklusive und Privilegien sichernde Wohlstandsmodell, das wesentlich auf Exklusion, Ressourcenausbeutung und tödlicher Ungleichheit beruht, nach innen gegen den hauseigenen „Pöbel“ und nach außen gegen die migrierenden „Weltüberflüssigen“ in einem autoritären Überwachungskapitalismus zu verteidigen. Demokratieeinbußen werden für ein Sicherheitsversprechen hingenommen. Beide Reaktionsweisen, sich vor den Auswirkungen eines in die Krise geratenen, weltweit nicht zu verallgemeinernden, kapitalistischen Gesellschaftsmodells gewaltförmig zu schützen, legitimieren und sichern nicht nur immer erneut staatliche Herrschaft und den Ausbau repressiver Staatsapparate, sie produzieren gemeinsam mit an einer autoritär nationalistischen Gesellschaftsformierung, die europawärts schon als „illiberale Demokratie“ Form angenommen hat. Globale Instabilitäten und strategische Unsicherheiten lassen der Kriegsrhetorik der militärischen Großmächte beängstigend freien Lauf. Aufrüstung und Kriege erscheinen als letzte Möglichkeit des kriselnden Kapitalismus, Wachstum in der vorbereiteten Zerstörung zu erzeugen.

Die globale Krise des kapitalistischen Weltsystems erweist sich somit als Motor fortschreitender Entdemokratisierung, eines fortschreitenden Legitimationsverlusts des liberal-demokratischen Gesellschaftsmodells sowie als revoltenfrischer Springquell der völkisch nationalistischen Rechten. Doch das Versprechen, die krassen sozialen Klassengegensätze durch neue wirtschaftliche Wachstumsschübe vor allem im staatlich nationalen Rahmen mildern zu können, täuscht. Als könnten die drängenden politischen Herausforderungen wie Klimawandel, Migration sowie Armut, Hunger und globale Ungerechtigkeit langfristig noch nationalstaatlich gelöst werden. Eine emanzipatorische gesellschaftliche Linke ist in diesen Fragen eher zerstritten als handlungsfähig. Um die konsequente Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten, weltweit, muss hinzugefügt werden, ist es in diesen Zeiten mehr als schlecht bestellt. Fiebrige, nervös unruhige Zeiten.

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Dirk Vogelskamp ist Referent des Komitee für Grundrechte und Demokratie.