Psychologie

Dialogische Traumatherapie und der Umgang mit Vergangenheit

von Willi Butollo

Traumatische Ereignisse können Menschen in vielfältiger Weise beeinflussen und verändern. Ein besonders hervorstechender Aspekt ist jedoch die Macht, mit der vergangene Geschehnisse wieder in den Bewusstseinsablauf der Betroffenen eingreifen und damit das Erleben bzw. Konstruieren der Gegenwart zu kontrollieren. Da dies oft extrem unangenehm ist, vor allem wenn eigene Schuld im Spiel ist, wehren sich die Menschen dagegen und versuchen die Erinnerung zu eliminieren. Ein verständliches Bedürfnis, das jedoch die angemessene Verarbeitung des Erlebten behindert und auch die Gestaltung der jeweiligen Gegenwart erschwert.

Ein Angehöriger der Polizei hatte sich wegen diverser Beschwerden krankgemeldet, nachdem er von einem Schulungseinsatz in Afghanistan wegen Berufsunfähigkeit abgezogen werden musste. Die Aufgaben seiner Spezialtruppe bestanden stets darin, Einheiten der lokalen regulären Polizei zu unterweisen. Ursprünglich Polizist in einer deutschen Kleinstadt, hatte er sich früh für Spezialeinsätze im Ausland gemeldet. So hatte er in den Jahren zuvor, mit längeren Pausen des Heimateinsatzes dazwischen, an verschiedenen Einsätzen in Ländern der sogenannten Dritten Welt teilgenommen. Dabei gab es in den früheren Einsätzen häufig extrem belastende Situationen, wie Geiselnahmen oder Überfälle auf sein Lager. Und immer wieder tote Zivilisten in überfallenen Dörfern. Auf diese Vorfälle hatte er jedoch „abgebrüht“ reagiert, wie er es selbst ausdrückte.

Erst nach dem letzten Einsatz in Afghanistan ist er psychisch und körperlich völlig zusammengebrochen, obwohl er selbst dort vergleichsweise harmlose Ereignisse zu verkraften hatte. Er entwickelte im Lager plötzlich Panikattacken, begleitet von starker Angst davor, wieder aus dem Lager ausrücken zu müssen. Er kündigte an, sich selbst zu töten, falls er noch länger im Land bleiben müsse.

Im Wachzustand denkt er jetzt ständig an die Gefährdungen und schreckt nachts aus Albträumen hoch. Er ist ständig aufgeregt, fahrig, hat erhebliche Konzentrationsstörungen, will Konflikten im Beruf und in der Freizeit ausweichen.

Ist dieser Mann traumatisiert? Hat er eine Posttraumatische Belastungsstörung, also eine klinische Diagnose für eine psychische Erkrankung? Wenn ja, was war der Auslöser? Hat er die früheren Extrembelastungen nicht verarbeitet, so dass er später bei vergleichsweise geringem Anlass überreagierte? Wie hätte er diese alten Einsätze verarbeiten sollen, wenn er selbst damals keinen Leidensdruck hatte?

Posttraumatic Stress Disorder
Die Aufnahme der Diagnose „Posttraumatic Stress Disorder“ (PTSD) durch die WHO kann in mehrerer Hinsicht als politisch betrachtet werden: Sie erkennt das Leiden Traumatisierter an. Die psychischen Folgen staatlicher Gewalt (Krieg und Diktatur), der Gewalt in den Familien und auf den Straßen konnten nicht länger in dem Maße tabuisiert werden, wie das bisher der Fall gewesen war und ebenso wenig die negativen Folgen des Fortschritts (ökologische und technische Katastrophen, z. B. Staudammbrüche, Reaktorunfälle, Verkehrsunfälle oder Industrieschäden).

So spielte, wie bei kaum einer anderen psychischen Störung, das gesellschaftliche Klima eine entscheidende Rolle, wie dies bei der PTSD der Fall ist, und auch die heutige Diskussion ist geprägt von den immer gleichen Fragen:

1) Werden die Symptome in der Hauptsache durch die vorausgehenden Stressoren verursacht oder spielen alte, unverarbeitete Traumata eine wesentliche Rolle?

2) Handelt es sich bei posttraumatischen Stresserkrankungen „nur“ um den Ausdruck individueller Vulnerabilität, so dass der traumatische Stressor eher als auslösender Faktor für eine bereits angelegte Pathologie verstanden werden kann?

3) Damit unmittelbar verbunden ist die Frage, wer im Falle des zugefügten Leides die Kosten für die daraus resultierende psychische Störung übernimmt. Gemäß dem Verursacherprinzip können Versicherer, Arbeitgeber, aber auch Privatpersonen in solchen Fällen belangt werden, wo ein Verursacher zu finden ist. Und Patienten befinden sich in der sonderbaren Situation, in der sie die Herkunft ihres Leidens belegen müssen (siehe auch Butollo & Hagl 2003).

Von Traumatisierung spricht man im weitesten Sinne, wenn ein extremes Ereignis den Menschen immer wieder „einholt“, alarmiert, er sich dagegen zu wehren versucht und dabei sekundäre Symptome entwickelt – Vermeidung, Verleugnung, Verdrängung, Somatisierung.

Die Bedingungen, unter denen eine PTBS nach DSM-IV [ein medizinisches Klassifikationssystem, d. Red.] als Diagnose vergeben werden kann, sind recht genau festgelegt.

Damit wird Prävalenz der PTBS schätzbar, also die Wahrscheinlichkeit, eine derartige psychische Störung zu entwickeln. Sie hängt zunächst naturgemäß von der Häufigkeit und dem Schweregrad potentiell traumatisierender Ereignisse ab. Diese ist je nach Ort, Zeit und Bevölkerungsgruppe unterschiedlich. Will man sie bestimmen, stößt man zuerst einmal auf Tabus, denn die Scham über die in der PTBS anscheinend zum Ausdruck kommende „Schwäche“ schafft eine Dunkelziffer, da viele Betroffene sich gar nicht melden oder ihre Erkrankung als vage somatische Erkrankung kaschieren. Und manche schämen sich nicht nur für ihre Schwäche, sondern auch dafür, was ihnen der Täter angetan hat. So als wären sie schuld daran. Das gilt natürlich für den Bereich der sexuellen Traumatisierung, aber auch für andere Formen. So wurde von vielen Überlebenden der Konzentrationslager berichtet, dass sie so rasch wie möglich eine unauffällige Identität in einem fernen Land annahmen und es erst Jahrzehnte nach dem Krieg über ihre Erlebnisse sprechen konnten.

Dieser wichtige Aspekt der „Ereignis-Scham“ wird in den gängigen Diagnosesystemen leider völlig übersehen!

Mehrere Typen der Traumatisierung
Wenn eine Traumatisierung relativ unerwartet und kurzfristig eintritt, wird sie als Typ I Traumatisierung bezeichnet. Sie wird aus rein praktischen Gründen in der Forschung bevorzugt, da der Auslöser zeitlich gut geortet werden kann.

Nach einem extremen Typ I Ereignis herrscht aber häufig vielfältige Not, so dass auch in Katastrophengebieten nach der Typ I Traumatisierung in der Regel weitere Traumatisierungen als Folge der vorausgegangenen auftreten. Man denke z. B. an ein starkes Erdbeben, das Chaos in den auf das Beben folgenden Tagen und die einschneidende familiäre und ökonomische Destabilisierung in den Monaten danach. Dann wird aus der kurzfristigen Traumatisierung durch das Beben eine längerfristige: Engpässe in der primären Versorgung, Plünderungen, Gewalt, Missbrauch und Erniedrigung, Vertreibung. Man nennt sie dann Typ II Traumatisierung. Sie sind hinsichtlich Schweregrad und Therapieresistenz viel gravierender als Typ I Traumatisierungen, ihre Symptome aber nicht so leicht fassbar. Also werden sie aus pragmatischen Gründen deutlich weniger erforscht. Und das, obwohl sie letztlich viel häufiger sind!

Ebenso anhaltend und damit in gewisser Weise für das Opfer vorhersehbar sind in der Regel viele Formen der zwischenmenschlichen Gewalt, im Krieg, bei Terror, Folter, in der Gewalt auf den Straßen, in den Schulen und in den Familien.

PTBS ist somit keine seltene psychische Störung und sie hat erhebliche Bedeutung für die Gesundheit der Bevölkerung. Außerdem ist mit  einer hohen Dunkelziffer zu rechnen.

Zudem scheint PTBS grundsätzlich häufig mit einer Reihe anderer Störungen einherzugehen, denn sämtliche epidemiologische Studien finden eine verhältnismäßig hohe Komorbidität [gleichzeitige Auftreten von zwei oder mehreren psychiatrischen Störungen], insbesondere mit affektive Störungen, Angststörung und Substanzmittelmissbrauch/-abhängigkeit.

Traumatische Ereignisse können also nicht nur zu einer PTBS führen, sondern auch zu anderen psychischen Störungen, bzw. bilden langfristig eine unspezifische Vulnerabilität für körperliche und somatoforme („psychosomatische“) Erkrankungen (Übersicht bei Butollo & Hagl, 2003).

Vielfalt an Therapieangeboten
Hinsichtlich der Therapie von Traumafolgestörungen ist die Situation durch eine enorme Vielfalt an Therapieangeboten gekennzeichnet. Will man hier eine Unterteilung vornehmen, so bietet sich an, die Behandlung der akuten Typ I Traumatisierung von der Behandlung der chronifizierten Auswirkungen nach lang andauernder Traumatisierung (Typ II) abzugrenzen.

Typ I Symptome sind in der Regel unmittelbar belastend und die betroffenen Personen wollen sie rasch verlieren. Weder die Symptome noch das Ereignis sind zu diesem Zeitpunkt unterdrückbar, d. h. sie können nicht verleugnet oder verdrängt werden. Demnach sind die Behandlungsverfahren in dieser Phase der posttraumatischen Entwicklung im weitesten Sinne der unmittelbaren Symptomreduktion verpflichtet. Es soll den Menschen geholfen werden, weniger oft an das schreckliche Erlebnis denken zu müssen, sich dabei wenig aufzuregen und seltener ähnliche Situationen oder Gedanken vermeiden zu müssen. Die Bedeutung von kognitiv-behavioralen Therapien in der Behandlung der PTB wird für diese Ziele weitgehend anerkannt.

Tatsächlich aber kommen in der klinischen Praxis neben den genannten Verfahren eine ganze Reihe von Methoden aus den unterschiedlichsten Schulrichtungen zur Anwendung, die weniger empirisch untersucht wurden, aber auf viel klinischer Erfahrung basieren, wie psychodynamische humanistische Verfahren oder Hypnotherapie.

Bei der Behandlung chronifizierter Symptomatik (Typ II) sind die Therapieziele entgegengesetzt. Wenn die traumatischen Erlebnisse aus der bewussten Erinnerung über Jahrzehnte ausgeblendet waren, geht es nicht darum, Symptome und Erinnerungen weiter zu reduzieren, sondern es wird traditionell dem Wiedererinnern eine große Bedeutung beigemessen. Die bewusste Aufarbeitung solcher in der Psyche gleichsam vergrabener Inhalte wird von den Betroffenen in der Regel langfristig als Entlastung erlebt, kann kurzfristig aber auch heftige psychische Destabilisierung zur Folge haben. Aufdecken um jeden Preis ist daher längst nicht mehr die unumstrittene Methode der Wahl, denn die Aufarbeitung setzt eine stabile psychische Verfassung voraus. Ebenso wichtig ist die einen sicheren zwischenmenschlichen Rahmen gewährleistende soziale Unterstützung und die Wiedererlangung der Fähigkeit, sich im sozialen Feld sicher zu bewegen.

Neuere Therapien betonen daher die Stärkung der Selbstprozesse eines Menschen, die er in kleinen Schritten durch die Erfahrung seiner Dialogfähigkeit aufbaut (s. u. a. Butollo & Karl 2012). Um zu überleben, mussten chronisch traumatisierte Menschen oft ihr Selbst gewissermaßen reflektorisch auflösen. Nur so konnten sie durch eine Art der psychischen (und oft auch körperlichen) Unterwerfung gegenüber dem Aggressor der Vernichtung entgehen. Diese Notlösung verselbständigt sich dann und wird bei jeder Art von Konflikt als eine Art Unterwerfungsreaktion reaktiviert. Die Betroffenen verlieren dadurch die Fähigkeit zu einer reifen Gestaltung sozialer Kontakte und entwickeln in der Folge ein reduziertes soziales Leben, das wie eine abwärts gerichtete Spirale die soziale, ökonomische und kulturelle Existenz unterminiert. Das gereicht übrigens auch ihren Mitmenschen zum Nachteil; sie müssen auf ein Gegenüber auf Augenhöhe verzichten. Manchmal geschieht es aber auch, dass diese Defizite in der Kontaktgestaltung von Bezugspersonen missbräuchlich ausgenutzt werden, was zu Retraumatisierung und Reviktimisierung führen kann und die Gefangenschaft in destruktiven Beziehungen fixiert.

Gewalt in der Erziehung ist eines der Beispiele, wie habituelle Unterwerfung erzwungen und die Kontaktfähigkeit der Heranwachsenden sabotiert wird. Politisch motivierte Folter wäre ein anderes Beispiel  dafür.

Die Qualität der therapeutischen Arbeit an solchen Formen von posttraumatischen Störungen muss demzufolge weniger an einer möglichst schnellen Reduktion der üblichen Typ I Symptome gemessen werden, im Gegenteil, sondern viel mehr an dem Gelingen eines Aufbaues nachhaltiger Selbstsicherheit, wie er durch eine die Dialogfähigkeit fördernden  Traumatherapie angestrebt wird.

In diesem Sinne ist eine dialogische Traumatherapie Vergangenheitsbewältigung im besten Sinne. Sie stärkt das Selbst der Überlebenden eines Traumas und macht sie konflikt- und dialogfähig. Ein Anliegen, das man sich auch im Hinblick auf die Interaktion zwischen den Nachkommen der deutschen Tätergeneration und den Nachkommen der Überlebenden bzw. den Angehörigen der in den Konzentrationslagern Ermordeten wünschen möchte. Ob uns das bisher gelungen ist, darf bezweifelt werden. Vielleicht hilft dazu die Anerkennung der Schuldbelastung der Nachkommen der deutschen Tätergeneration als eine besonders schwer zu fassende Form der Traumatisierung. Sie würde dem Ziel der Auseinandersetzung und Begegnung auf Augenhöhe förderlich sein.

Literaturnachweis:
Butollo, W. & Hagl, M. (2003). Trauma, Selbst und Therapie. Konzepte und Kontroversen in der Psychotraumatologie. Bern: Huber.

Butollo, W. & Karl, R. (2012). Dialogische Traumatherapie. München: Klett-Cotta.

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Prof. Dr. Willi Butollo hält einen Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der LMU München.