Die AKW-Bewegung

von Jochen Stay
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Die Anti-AKW-Bewegung gilt unter den sogenannten "Neuen Sozialen Bewegungen" in der Bundesrepublik als diejenige, die sich über den längsten Zeitraum hinweg - nämlich vom Anfang der 70er Jahre bis heute - die Fähigkeit zu massenhaften Aktionen und Demonstrationen erhalten hat. Besonders ausgeprägt ist dieser schon sprichwörtliche "lange Atem" in der Region um die Atomanlagen im niedersächsischen Gorleben - dem Wendland.

Nächsten Februar feiern sie in Gorleben 25 Jahre Widerstand gegen die dort geplanten Atommüllanlagen. Nun mag manche/r einwenden, dass es ja keinen Grund zum Feiern gibt, wenn die umstrittenen Projekte auch nach 25 Jahren noch nicht verhindert sind und schon in diesem Herbst der nächste Castor-Transport nach Gorleben rollen soll.

Trotzdem wird im Wendland gefeiert. Dort ist nämlich etwas gelungen, was in der Geschichte der sogenannten "Neuen Sozialen Bewegungen" in der Bundesrepublik meines Wissens einmalig ist. Es lässt sich ganz schlicht beschreiben: Die Menschen geben einfach niemals auf. Ein Vierteljahrhundert Streit um Gorleben: Lügen von PolitikerInnen, martialische Polizeieinsätze, Skandale, Kriminalisierung, Störfälle, juristische Tricksereien und Bestechungsversuche haben nicht dazu geführt, dass Ruhe im Wendland eingekehrt ist. Ganz im Gegenteil: Inzwischen sind längst die Kinder und Enkel der ersten WiderständlerInnen in die Fußstapfen der ersten Protest-Generation getreten.

Viele, die sich mit dem Widerstand im Wendland befasst haben, sind schon dieser Frage nachgegangen: Woran liegt es, dass in diesem Landstrich niemals Resignation und Ohnmachtsgefühle die Oberhand gewinnen, auch wenn in Gorleben mit den Jahren einige Atomprojekte aus dem Boden gestampft wurden und inzwischen schon viermal riesige Polizeiarmeen Castor-Transporte zum Zwischenlager durchgeprügelt haben?

Der spannendste Augenblick war sicher die Situation direkt nach der Einlagerung des ersten Castor-Behälters im April 1995. Vorher war es 12 Jahre lang gelungen, trotz fertiggestellter Zwischenlager-Halle, die Transporte zu verhindern. Nicht nur die damalige Bundesumweltministerin Angela Merkel, sondern auch viele AktivistInnen rechneten fest damit, dass Resignation und Ohnmachtsgefühle nach einem durchgesetzten Castor-Transport in Lüchow-Dannenberg dominieren würden. Doch der Zusammenbruch des Widerstandes, der bei zahlreichen anderen sozialen Protestbewegungen in der Geschichte der Bundesrepublik, ob gegen Notstandsgesetze oder Startbahn West, Pershing-Atomraketen oder AKWs wie Brokdorf nach der Durchsetzung des umstrittenen Projektes eintraf, bleibt im Wendland aus.
 

Vielleicht liegt es ja am Wetter. Bisher jeder Castor-Transport rollte im beginnenden Frühling nach Gorleben. Hat in der "heißen" Phase des Widerstandes kaum jemand ein Auge für die Vorgänge in der Natur, wird das zarte Grün an den Bäumen, der Löwenzahn auf den Weiden, die ersten Schwalben und Störche am Morgen "danach" um so plötzlicher wahrgenommen. Das Leben im Wendland erwacht trotz der tödlichen Bedrohung durch den angelieferten Atommüll.

Neben dieser eher unpolitischen Analyse steht eine andere. Waren in der Geschichte der Anti-Atom-Bewegung meist Standorte Kristallisationspunkte des Widerstandes, Wyhl, Brokdorf, Wackersdorf und auch schon Gorleben, so hat sich dies inzwischen geändert. Der Castor, ein Transport- und Lagerbehälter für hochradioaktive Abfälle, ist zum zentralen Symbol für die Auseinandersetzung um die Atomenergie geworden. Und im Gegensatz zum Anrennen gegen Baustellen, die wie mittelalterliche Festungen gesichert sind, ist das "Querstellen" gegen Castor-Transporte immer wieder aufs Neue erfolgversprechend. Lässt sich in den Betrieb eines laufenden Atomkraftwerkes wie z.B. Brokdorf nur sehr schwer direkt eingreifen, so ist dies bei einem Atommüll-Lager wie in Gorleben immer dann möglich, wenn neue strahlende Stoffe anrollen.

Ein Faktor ist sicher auch der Mythos von der "Modellregion Wendland". Gerade für die Jüngeren unter den aus der ganzen Republik anreisenden AktivistInnen ist "im Landkreis" alles ein bisschen besser als im richtigen Leben. Die Hoffnung darauf, dass die Menschen nicht nur für Konsum und Rente leben, bekommt hier, angesichts der vielen Alternativprojekte, der Biohöfe, der Kulturszene und der widerständigen Gesinnung der Einheimischen neuen Auftrieb.

Mit jedem Transport wächst auch die Erfahrung der AktivistInnen. Beim ersten Tag X sind viele noch ferngeblieben, weil sie nicht einschätzen konnten, was da auf sie zukommt. Wie würde sich der Polizeieinsatz entwickeln? Welche Formen des Widerstandes sind überhaupt möglich? Wer beteiligt sich am Protest? Inzwischen haben diejenigen, die dabei waren, intensive Erfahrungen und Lernprozesse mitgemacht und diejenigen, die den Mut noch nicht aufbrachten, können zumindest aus den Erzählungen der Dabeigewesenen ihre Schlüsse ziehen.

Erstaunlicherweise können Menschen, die den Tag X nur am Fernseher verfolgen, weitaus schlechter mit dem Geschehenen umgehen, als diejenigen, die sich mit ihrer ganzen Person dem Castor und der Polizeimaschinerie in den Weg stellen, auch wenn diese entschlossene Handlung mit nasser Kleidung oder einer unsanften Landung im Straßengraben endet. Sie machen erstaunliche Erfahrungen über ihre eigenen Kräfte, stellen fest, dass sie polizeilichen Aufforderungen und Versammlungsverboten widerstehen können. Als sich dieser Unterschied herumspricht, ist die Konsequenz nicht mehr schwer: Unzählige entschließen sich, beim nächsten Transport auch auf die Straße zu gehen.

Die polizeiliche Besetzung einer ganzen Region tut ein Übriges: Lärmende Hubschrauberflüge direkt über den Dächern bei Tag und Nacht, von der Außenwelt abgeriegelte Dörfer am Transporttag, Polizeifahrzeuge an jeder Straßenecke... Wie sich die Staatsgewalt direkt in die Privatsphäre der Menschen einmischt, das macht viele wütend und motiviert letztendlich zum Handeln. Einigen wird erst durch das Erleben der polizeilichen Maßnahmen bewusst, dass es nottut, sich gegen eine Energiepolitik querzustellen, die zu ihrer Durchsetzung ein solch großes Maß staatlicher Gewalt bedarf.

Wichtig für das Ausbleiben der Resignation ist auch eine Grundstimmung, die die Ereignisse des Tag X nicht als Niederlage begreift, sondern als großen Erfolg des wendländischen Widerstandes. Nur mit den jeweils größten Polizeieinsätzen in der Geschichte der Bundesrepublik ist es überhaupt möglich, den Castor nach Gorleben zu bringen. Auch die Debatte um das weiterhin ungelöste Atommüllproblem kommt durch den Castor-Widerstand immer wieder neu in Schwung. Erfolg hat immer große Anziehungskräfte, und so ist es kein Wunder, dass der erfolgreiche Widerstand gegen den Castor wächst und wächst.

Auch die öffentliche Reaktion auf die Ereignisse vor Ort ist für die Entwicklung des Protestes von Relevanz. Die Differenz zwischen selbst Erlebtem und der in den Medien und PolitikerInnen-Verlautbarungen dargestellten Sicht der Ereignisse ist so gewaltig, dass dies die Menschen tief erschüttert und verärgert. Doch sie bleiben mit diesem Unterschied nicht allein, haben doch im Landkreis Lüchow-Dannenberg Tausende ähnliche Erfahrungen gemacht und so ist es nicht schwer, die eigene Wahrnehmung gegenüber der Darstellungen in den Medien zu behaupten.

Und den WendländerInnen ist ein kleines Kunststück gelungen: Im Gegensatz zum eher studentisch geprägten Protestmilieu der Städte geht der Widerstand hier quer durch alle Bevölkerungsschichten und Generation. Es gibt also nicht die üblichen "wilden Jahre" in der Biographie, sondern der Protest ist zum Teil des eigenen Alltags, zum Teil des Lebens geworden und mensch bleibt nicht dabei stehen, gegen etwas zu sein, sondern setzt mit dem eigenen Leben positive Akzente gegen den atomaren Wahn.

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