Nur mit dir und deiner Unterstützung kann das Netzwerk Friedenskooperative 2025 friedenspolitisch wirken. Unterstütze uns zu Weihnachten mit einer Spende!
Begegnungsreise nach Israel/Palästina vom 8. November bis 20. Dezember 2022
„Die Besatzung nimmt uns die Luft zum Atmen - sie muss endlich aufhören“
vonZum Entsetzen für das säkulare Israel bescherte die israelische Parlamentswahl vom 1. November 2022 dem Land eine rechtsextreme, ultraorthodoxe Regierung – so weit rechts stehend und ultranationalistisch wie nie zuvor. Demgemäß zeichnet Moshe Zuckermann, Soziologe und Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv, ein düsteres Zukunftsszenario. „Das Übelste ist die mittlerweile extreme Klerikalisierung des Landes. Das links-liberale politische Spektrum existiert praktisch nicht mehr“.
Ähnlich negativ ist auch die Einschätzung von Gideon Levy, bekannter Journalist der linksliberalen israelischen Tageszeitung Haaretz und seit vielen Jahren einer der schärfsten Kritiker der israelischen Besatzungspolitik. „Die Annexionspläne der neuen Regierung werden zu noch mehr Gewalt und Eskalation führen. Die Zweistaatenlösung ist zudem nun noch unrealistischer. Faktisch sind wir bereits in der Einstaatenrealität angekommen, wobei Israel in den Palästinensergebieten eine Apartheitspolitik betreibt. Ich weiß, dass viele Deutsche mit dieser Bezeichnung ein Problem haben, aber es ist eine Tatsache“.
Auch wichtige israelische Menschenrechtsorganisationen sehen mit Sorge in die Zukunft. B`Tselem ist die international wohl bekannteste von ihnen. Seit 1989 dokumentiert die Organisation akribisch Menschenrechtsverletzungen Israels in den besetzten Gebieten, sowohl von Seiten des Militärs als auch der Siedler, deren gewaltsame Übergriffe gegen die Palästinenser*innen immer mehr zunehmen. Roy Yellin, Leiter der PR-Abteilung, erläutert im Gespräch, dass aber auch Menschenrechtsverletzungen auf palästinensischer Seite festgehalten werden. 2020 wurde das Büro von B´Tselem durch einen Brandanschlag zerstört. „Rechte Hetze gegen uns sind wir gewohnt“, sagt Yellin.
Nahezu gleiche Anfeindungen und Beleidigungen kennt auch Ori Givati von „Breaking the Silence“ („Das Schweigen brechen“). Der Nichtregierungsorganisation gehören ehemalige und aktive Soldat*innen der israelischen Armee an. Seit 2004 sammeln sie Aussagen und Dokumente von Soldat*innen über deren Militärdienst in den besetzten Gebieten. „Angefangen hat es mit der Zweiten Intifada in Hebron, als die Angehörigen der Soldat*innen nichts über die miltärischen Übergriffe der Armee hören wollten“, sagt Givati. Mit der Fotoausstellung „Wir bringen Hebron nach Tel Aviv“ gingen die Soldat*innen dann an die Öffentlichkeit. Schulen, Medien und Diplomat*innen berichten sie seither von ihrer Arbeit.
Einen anderen friedenspolitischen Schwerpunkt hat die in Jaffa ansässige Organisation Zochrot („Wir erinnern uns“). „Sie wurde 2002 von jüdisch-israelischen Aktivist*innen gegründet, um in Israel die Anerkennung der Vertreibung der Palästinenser*innen 1948 (Nakba) und des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge zu fördern“, so Yaara Benger Alaluf, Koordinatorin der Organisation für politische Bildung. „Einer unserer Schwerpunkte liegt auf den etwa 500 palästinensischen Dörfern und Orten, die 1948/49 im Krieg zerstört wurden“. Zu jedem der zerstörten Dörfer gibt es auf der App „iReturn“ – einer digitalen Landkarte - ausführliche Informationen.
Situation in Palästina
Die aktuelle Situation der Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten ist extrem schwierig. Sumaya Farhat-Naser, Biologin und Aktivistin, die zu Vorträgen schon oft in Deutschland war, sieht in der Besatzung das Hauptübel des Konflikts. „Sie nimmt uns unser Land, unser Wasser, unsere Würde, die Luft zum Atmen – sie muss endlich aufhören. Wir wollen endlich Gerechtigkeit und ein Leben ohne Ausgangssperren, Razzien, Ausweisungen, permanenten Menschenrechtsverletzungen und die nahezu täglichen Erschießungen“, schildert sie eindringlich. Allein 2022 wurden vom israelischen Militär über 150 Palästinenser erschossen - die höchste Zahl seit 2005, als die UNO mit der jährlichen Zählung begonnen hat.
Auch die circa 10 Meter hohe Sperrmauer, die die Palästinensergebiete immer mehr in kleine territoriale Enklaven zerstückelt, schränkt den Lebensraum der Palästinenser*innen mehr und mehr ein. Insgesamt hat die von vielen als Apartheitsmauer bezeichnete und vom Internationalen Gerichtshof als völkerrechtswidrig deklarierte Sperranlage eine Länge von fast 800 Kilometern.
Täglich konfrontiert mit der Besatzung ist seit vielen Jahren auch Daoud Nassar. Er betreibt zusammen mit seiner Familie einen Weinberg und ein internationales Friedens- und Begegnungszentrum („Tent of Nations“) etwa 10 Kilometer südlich von Bethlehem. Schon lange führt die Familie einen juristischen Kampf um dieses Land, obwohl ihr das Gelände seit über einhundert Jahren gehört und sie dies mit Besitzpapieren auch belegen kann. Durch die rasche Ausdehnung der angrenzenden israelischen Siedlung und häufig gewalttätige Übergriffe der Siedler fühlt sich Daoud hier aber mehr und mehr bedroht.
Widerstand und Leben im Gazastreifen
Enttäuscht sind viele Palästinenser*innen schon länger von der eigenen politischen Führung, die als abgewirtschaftet gilt. Viele sehen in ihr nur noch den verlängerten Arm der Besatzungsmacht. Weit verbreitet ist daher in Palästina der Wunsch nach Wahlen und einer neuen politischen Führung. Die ist momentan jedoch nicht in Sicht. Ergebnis ist eine weitreichende Radikalisierung der jüngeren Generation, die sich verstärkt dem militanten Widerstand zuwendet. Als Zentren dieses Protests gelten heute vor allem Jenin und Nablus. Für viele Beobachter*innen hat bereits eine Art dritte Intifada begonnen.
Brennpunkt des palästinensischen Widerstands gegen die israelische Besatzungsmacht ist bis heute vor allem auch der Gazastreifen, der 1967 im Junikrieg von Israel besetzt wurde. Das israelische Militär zog sich zwar 2005 aus Gaza zurück, durch die Verhängung einer totalen Land- und Seeblockade 2007 gilt der Gazastreifen jedoch de facto immer noch als besetztes Gebiet – mit verheerenden Konsequenzen für die etwa 2,3 Millionen dort lebenden Palästinenser*innen. Umgeben ist der Küstenstreifen von einer 65 Kilometer langen und sechs Meter hohen Mauer.
In Gaza-Stadt lebt Abed Schokry mit seiner Frau und fünf Kindern. Er unterrichtet an einer Uni in Gaza und begleitet gelegentlich deutsche Besucher*innen durch „das größte Freiluftgefängnis der Welt“, wie er sagt. „Da Israel die absolute Kontrolle über nahezu alle Lebensbereiche von uns hat, fühlen wir uns wie in einem Würgegriff.“ Und in der Tat: Das Leben der Menschen im Gazastreifen, von denen etwa die Hälfte in acht großen Flüchtlingslagern lebt, kann nur als absolut desolat und ausweglos bezeichnet werden. Es herrscht ein Mangel an nahezu allem. Regelmäßigen Strom, sauberes Trinkwasser und geklärte Abwässer gibt es nur sehr unzureichend.
„Durch die Wirtschaftsblockade liegt die Arbeitslosigkeit je nach Altersgruppe bei 40 bis 60%, was zu einer weitreichenden Verarmung der Bevölkerung führt – 70% der Menschen leben unter der Armutsgrenze, womit Gaza zu den ärmsten Regionen der Welt gehört“, erläutert Schokry. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei etwa 250 Euro, und 80% der Familien sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Schon 2015 kam ein UN-Bericht zu der Schlussfolgerung, dass der Gazastreifen in Zukunft unbewohnbar werden könnte, falls sich die wirtschaftliche Situation nicht verbessert.
Dramatisch verschlimmert hat sich die Situation im Gazastreifen zudem durch die fünf israelischen Militäroperationen gegen Gaza zwischen 2008 und 2021. Neben der Zerstörung ganzer Stadtviertel fielen ihnen etwa 4000 Palästinenser*innen zum Opfer – auf israelischer Seite starben circa 40 Personen. 90% der Kinder im Gazastreifen leiden seither unter Kriegstraumata. All das erklärt den recht großen politischen Rückhalt für die radikalislamische Hamas, die 2006 demokratisch gewählt an die Macht kam und den Gazastreifen seit 2007 regiert.
Leider sind die Aussichten für eine gerechte und friedliche Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern momentan eher düster. Umso hoffnungsvoller ist es, dass es noch Versöhnungsprojekte gibt wie „Combatants for Peace“ („Kämpfer*innen für den Frieden“). Der Organisation gehören Palästinenser*innen und Israelis an, die in dem blutigen Konflikt auf brutale Weise Angehörige verloren haben. „Durch persönliche Begegnungen und gemeinsames Gedenken wollen wir den gegenseitigen Hass überwinden und den Kreislauf der Gewalt durchbrechen“, sagt Rana Salman, die palästinensische Vorsitzende der Vereinigung.