Einsatzgebiet Gesundheitsamt

Die Bundeswehr als vermeintliches Anti-Corona-Multitalent

von Martin Kirsch
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Der größte Einsatz der Bundeswehr findet aktuell nicht in Afghanistan (1.124 Soldat*innen) oder in Mali (1.038 Soldat*innen) statt, sondern in Deutschland. In gewohnt reißerischem Tonfall berichtet die Bildzeitung bereits von der „Corona-Front“ der Bundeswehr.

Bereits seit April 2020 hält die Bundeswehr 15.000 Soldat*innen in Bereitschaft, um sie im Rahmen des Einsatzkontingents „Hilfeleistung Corona” einsetzen zu können. Mit den steigenden Infektionszahlen steigt aktuell auch die Zahl der tatsächlich eingesetzten Soldat*innen kontinuierlich an. Waren es zwischen April und September selten mehr als 1.000, wurde in der zweiten Novemberwoche die Zahl von 6.000 eingesetzten Soldat*innen überschritten – Tendenz weiter steigend. (1)
Arbeitsschwerpunkt der Streitkräfte ist momentan der Einsatz zur Unterstützung in den zivilen Gesundheitsämtern. Zudem sind Soldat*innen in Teststationen für Reiserückkehrer*innen und vereinzelt in Altenheimen aktiv. Darüber hinaus stellt die Bundeswehr weiterhin Militärgelände zur Lagerung von Masken, Schutzkleidung, Desinfektionsmitteln und weiteren medizinischen Produkten zur Verfügung und übernimmt, z.B. in Sachsen-Anhalt, auch die Logistik und Verteilung im Land. Während in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Berlin besonders viele Soldat*innen eingesetzt werden, sind kleinere Kontingente auch in den 13 weiteren Bundesländern aktiv.

Rechtliche Grauzone – Soldat*innen in Gesundheitsämtern
Im April wurden Soldat*innen in überarbeitete Gesundheitsämter in Brandenburg entsendet. (2) Die Bundeswehr nicht nur punktuell, sondern als flächendeckende Aushilfe in die Gesundheitsämter zu schicken, wurde von Kanzlerin Merkel sowohl bei ihrem Gipfeltreffen mit den Oberbürgermeister*innen der elf größten Städte am 09. Oktober, als auch bei der Zusammenkunft der Ministerpräsident*innen der Länder am 14. Oktober zu einem zentralen Baustein der Eindämmungsstrategie erklärt. Gesagt getan. Mittlerweile sind über 4.000 Soldat*innen, z.T. im Schichtsystem, in fast 300 der insgesamt 375 Gesundheitsämter eingesetzt. (3) Die meisten von ihnen beteiligen sich direkt an der Kontaktnachverfolgung.
Dieser Einsatz ist allerdings problematischer, als es die breite Debatte und der Aufschrei um die Verweigerung des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg vermuten lässt.
Die 375 kommunalen Gesundheitsämter in Deutschland sind die unterste ausführende Ebene des staatlichen Gesundheitswesens und damit auch für die Umsetzung des Infektionsschutzgesetzes vor Ort zuständig. Auf der Grundlage dieses Gesetzes können repressive Eingriffe in die Grundrechte von Bürger*innen angeordnet werden. Ein Amtsarzt kann bei hoch ansteckenden Krankheiten z.B. infizierte Menschen und deren direkte Kontaktpersonen in verpflichtende Quarantäne schicken. Dabei handelt es sich um hoheitliche, quasi gesundheitspolizeiliche, Maßnahmen.
Im Rahmen von Hilfseinsätzen der Bundeswehr im Inland ist die Übernahme eben dieser hoheitlichen Aufgaben – mit Ausnahme von wenigen Sonderfällen – allerdings verboten.
Mit Verweis auf dieses Verbot hatte die Bundeswehr bereits Anfragen aus Baden-Württemberg und Thüringen zurückgewiesen, Soldat*innen zur Unterstützung der Polizei oder als Sicherheitskräfte in Geflüchtetenunterkünften abzustellen. Daher wurde zu Beginn der Bundeswehreinsätze in Gesundheitsämtern im April stark darauf geachtet, eine klare Trennung – Soldat*innen verfolgen Kontakte und befugte Mitarbeiter*innen des Gesundheitsamtes ordnen Quarantäne an – einzuhalten, oder zumindest nach außen dies so zu kommunizieren.
Mittlerweile wurde  diese rechtlich bindende, im Arbeitsablauf aber lästige Trennung mit Hilfe einer „pragmatischen Lösung“ quasi ausgehebelt. Der für die Organisation von Inlandseinsätzen zuständige General des Kommandos Territoriale Aufgaben, Carsten Breuer, verkündete dazu: „Ein wesentlicher Schritt war es, mit Mitteilung bzw. Verweis auf Einzel- und Allgemeinverfügungen im Auftrag des Gesundheitsamtes bei der Anordnung von Quarantänen unterstützen zu können. Immer unter Aufsicht des Gesundheitsamtes.“ (4) Die Soldat*innen an den Telefonen im Gesundheitsamt teilen den infizierten Bürger*innen oder deren Kontaktpersonen also nicht mit, dass sie in Quarantäne gehen müssen, was sie nicht dürften, sondern weisen sie lediglich darauf hin, wie die Regelungen zur Quarantäne in ihrer Region aktuell lauten. Ein geschickter Winkelzug in einem juristischen Graubereich, der es der Bundeswehr ermöglicht, Aufgaben zu übernehmen, für die sie eigentlich nie vorgesehen war.
Dieses Vorgehen, bei Einsätzen der Bundeswehr im Inland im rechtlichen Graubereich zu agieren und die Einsatzspielräume damit faktisch auszuweiten, ist keine Neuheit. Ähnliche Verhaltensweisen sind sowohl in der politischen Debatte, in Planspielen und Übungen, als auch bei konkreten Inlandseinsätzen der Bundeswehr in den letzten 15 Jahren gängige Praxis.

Attraktivität der Helfer*innen in Flecktarn
Politisch opportun scheint der Rückgriff auf Soldat*innen allerdings aus mehreren Gründen. Die Bundespolitik kann Soldat*innen unkompliziert als Hilfe für Länder und Kommunen anbieten.
Im Gegensatz zur Entsendung von Verwaltungsangestellten, Lehrkräften, Polizei-, Finanz- oder Zollbeamt*innen, können Soldat*innen unkompliziert und schnell, per Befehl, einsatzverpflichtet werden. Zudem reißt die Abwesenheit dieser Soldat*innen von ihrem eigentlichen Job nicht unmittelbar Löcher in die Umsetzung anderer staatlicher Aufgaben.
Für die Länder ist der Einsatz von Soldat*innen zudem attraktiv, weil sie, im Gegensatz zu eigenem Personal oder Angehörigen des Katastrophenschutzes, bisher keine Lohnkosten zahlen müssen. Die kommen, bis sich das Verteidigungsministerium entscheidet, Rechnungen zu stellen, wovon nicht auszugehen ist, aus dem Bundeshaushalt für Verteidigung.
Zudem können Bürgermeister*innen, Landrät*innen und Ministerpräsident*innen mit dem Einsatz von Uniformierten suggerieren, dass die Situation einerseits ernst ist, sie aber mit der Aktivierung der Bundeswehr alles in ihrer Machtstehende tun, um Abhilfe zu schaffen. Sobald die Pandemie abflaut und die Soldat*innen abziehen, kann dann wieder zum Normalbetrieb übergegangen werden. An grundlegenden Problemen, z.B. einer langfristigen Ausfinanzierung des Gesundheitssystems oder des Katastrophenschutzes, kann dann wieder gespart werden. Sollte die Bundeswehr nicht in einen Krieg mit Russland ziehen, stehen ja auch in der nächsten Krisensituation wieder Soldat*innen zur Hilfe bereit.

Ein Bonus für die Imagewerbung
Während der aktuelle Einsatz auch unter den Soldat*innen nicht völlig unumstritten ist, freut sich die Bundeswehrführung über die nahezu kostenlose Imagewerbung. Jeder Tag, an dem die Bundeswehr nicht mit Krieg, Geldverschwendung und rechten Netzwerken in der medialen Aufmerksamkeit steht, sondern von vielen Menschen als Helferin in der Not wahrgenommen wird, ist für sie ein gewonnener Tag. Mit der so geschaffenen Akzeptanz ist es zudem leichter, auch im Zuge der absehbaren Sparpolitik der nächsten Jahre die Rüstungsausgaben für „unsere Bundeswehr“ hoch zu halten, oder wie geplant sogar weiter zu erhöhen.
Während sich die zivilen Verwaltungen seit dem Frühjahr im Dauerkrisenmodus befinden, bleibt der Blick der Generäle strategisch vorausschauend in die Zukunft gerichtet. Laut Veröffentlichungen vom 09. November steht der erste Corona-Impfstoff kurz vor der Zulassung. Bereits am Folgetag wurde bekannt, dass Gesundheitsminister Spahn die Bundeswehr gebeten hat, die zentrale Lagerung der Impfstoffdosen auf geschützten Kasernengeländen zu übernehmen. (5) Bereits am 14. Oktober hatte der oberste der Soldat*innen der Bundeswehr, Generalinspekteur Eberhart Zorn, über Diskussionen getwittert, „wie u.a. die #Bundeswehr unterstützen kann, wenn es einen Impfstoff gegen #COVID19 gibt”. (6) Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer gab am 15.11. in der ARD bekannt, dass die Bundeswehr 26 eigene Impfzentren aufbauen wird, die neben der Impfung von Soldat*innen auch zur Unterstützung der Bundesländer zur Verfügung stehen sollen.
Die Aktivitäten der Bundeswehr im Inland und die sie umgebende Propaganda werden uns damit auch in den folgenden Monaten, vielleicht auch Jahren, der Pandemie erhalten bleiben. Deswegen wurde das Einsatzkontingent der Bundeswehr mittlerweile kurzfristig um 1.000 Soldat*innen auf jetzt 16.000 5.000 Soldat*innen auf 20.000 aufgestockt. (7) Eine weitere Erhöhung zum Jahresbeginn 2021 wird aktuell geprüft.

Anmerkungen
1 Thomas Wiegold: Coronavirus-Pandemie & Bundeswehr: Jetzt über 6.500 Soldaten aktiv, augengeradeaus.net, 06.11.2020.
2 Bundesministerium der Verteidigung, Barbara Gantenbein: Corona-Krise: AKK besucht Unterstützungspersonal der Bundeswehr, bmvg.de, 23.04.2020.
3 bundeswehr-journal: Bundeswehr klärt Corona-Infektionsketten auf, bundeswehr-journal.de, 10.11.2020.
4 Streitkräftebasis, Sebastian Grünberg: Amtshilfe Corona: Wochenrückblick des KdoTerrAufgBw, bundeswehr.de, 06.11.2020.
5 Reuters: Bundeswehr soll bei Zwischenlagerung von Impfstoff helfen, reuters.com, 10.11.2020
6 bundeswehr-journal: Corona-Hilfe: Weitere 5000 Bundeswehrsoldaten zugesichert, bundeswehr-journal.de, 15.11.2020.
General Eberhart Zorn: via:twitter.com, 14.10.2020
7 Thomas Wiegold: Bundeswehr stockt Kontingent für Amtshilfe in der Coronavirus-Pandemie auf, augengeradeaus.net, 05.11.2020

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Martin Kirsch ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung (IMI).