Die europäische Konstitution des Neoliberalismus(1)

von Heiner Busch

Noch im Dezember 2003 schien der Verfassungsentwurf des EU-Konvents gescheitert. Die Medien, allen voran die bundesdeutschen, kochten vor Wut über die schlechten Europäer aus Spanien und Polen, die einseitig an nationalen Interessen festhielten, wo doch alle andern, nur das Ganze, das ganz neue Europa im Auge hatten.

Inzwischen sind die spanische Regierung unter Aznar und die polnische unter Miller gegangen worden. Nach einigem Gefeilsche hat sich der EU-Gipfel am 17. und 18. Juni über die noch ausstehende Frage des Abstimmungsmodus im Ministerrat geeinigt. Die qualifizierte Mehrheit soll mindestens fünfzehn der 25 Mitgliedstaaten und 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Jetzt werden die Artikel neudurchnummeriert und ein paar redaktionelle Änderungen vorgenommen. Danach geht das undurchsichtige Vertragswerk in die nationalen Parlamente. In der BRD soll nach der parlamentarischen Ratifzierung das Ende der demokratischen Fahnenstange erreicht sein. In einigen anderen EU-Staaten darf die Bevölkerung über den Verfassungsvertrag abstimmen. Erfahrungsgemäss muss sie das so lange tun, bis das von der Regierung gewünschte Ergebnis herauskommt.

Wir müssen uns auf die Hinterbeine stellen, um unsere Opposition zu dem schlecht verfassten Europa zur Geltung zu bringen.

Verfassung ohne Demokratie
Seitdem die damalige Europäische Gemeinschaft sich Mitte der 80er Jahre das Ziel gab, den "Binnenmarkt zu vollenden", ist das Feld dessen, was heute EU-europäische Politik darstellt, massiv gewachsen. In gerade einmal 15 Jahren erfolgten drei wesentliche Änderungen des grundlegenden EG- bzw. EU-Vertrages: 1987 die Einheitliche Europäische Akte, 1992 der Vertrag von Maastricht und 1997 der von Amsterdam. Die institutionellen Verfahren insbesondere der Gesetzgebung sind kaum mehr überschaubar. Auch angesichts der Erweiterung auf 25 Mitgliedstaaten schien eine Erneuerung unumgänglich.

Die Einsetzung des "Konvents über die Zukunft Europas" im Dezember 2001 schien daher die Chance zu bieten, das viel beschworene "Demokratiedefizit" auszugleichen. Schon das Wort "Verfassung" enthält ein Versprechen: Es ist historisch verbunden mit Gewaltentrennung, mit Rechtsstaatlichkeit, mit Öffentlichkeit und politischer Teilnahme, mit Demokratie und mit Menschenrechten.

Die Zusammensetzung des Konvents aus nicht gewählten RepräsentantInnen hätte die Erwartungen jedoch begrenzen müssen. Das Gremium hatte eine Überdosis an etablierter Politik: 16 VertreterInnen des Europäischen Parlaments, zwei aus der Kommission. Dazu je drei Personen - eine von der Regierung und zwei vom Parlament entsandt - aus den Mitgliedstaatenund den Beitrittsländern (sowie der Türkei - letztere nur als BeobachterInnen). Selbst bei den ParlamentarierInnen war damit kaum zu erwarten, dass sie etwas anderes repräsentieren würden als die Mischung aus konservativer und sozialdemokratischer "Mitte", ergänzt vielleicht durch ein paar verstreute Liberale. Die Exekutive musste bei dieser staatstragenden Mischung dominieren.

Die Verpackung ...
Beginnen wir mit dem Formalen: Der Entwurf umfasste 466 zum Teil sehr ausführliche Artikel mit unzähligen Verweisen untereinander. In der von den Staats- und Regierungschefs beschlossenen Fassung kommen noch ein paar hinzu. "Einfach so" kann man diesen Text nicht lesen. Um so weniger, als sich darin unmöglich aufgeblasene, nirgendwo konkretisierte "Grundsätze" mit einem genauen, fast technisch-präzisen Handlungsprogramm mischen, das kaum eine Chance auf eine abweichende Gestaltung des politischen Inhalts der EU eröffnet. Nicht in den "Grundsätzen" und der zahmen und bedeutungslosen Grundrechte-Charta, sondern in diesem Handlungsprogramm und im exekutivlastigen Arrangement der Institutionen ist der eigentliche Inhalt der Verfassung auszumachen.

Die wirklich habhaften Grundrechte sind die "vier Freiheiten" des Binnenmarktes, deren Formulierung seit 1987, seit der Einheitlichen Europäischen Akte, dem Binnenmarktstatut, die gleiche ist. Es geht um die Bewegungsfreiheit des Kapitals, der Waren, der Dienstleistungen und - in eingeschränkter Form - der Personen, sprich: der Arbeit, in einem Raum ohne Binnengrenzen. Frei zirkulieren und sich niederlassen können in diesem Raum nur die EU-BürgerInnen. Selbst die neuen aus dem Osten und dem Süden Europas dürfen dieses Recht erst in ein paar Jahren voll in Anspruch nehmen. Wer von außen über die Festungswälle der Union kommen will, zum Arbeiten oder um Schutz vor Verfolgung zu suchen, wird diese Lizenz zur freien Zirkulation nur sehr schwer erlangen können.

... der Inhalt ...
Dass die Binnenmarktpolitik nicht nur nach innen gerichtet ist, auf den Abbau einzelstaatlicher (Handels-)Hemmnisse, die konsequenterweise auch eine fortschreitende Privatisierung noch verbliebener öffentlicher Dienste bedeutet, haben bereits die vergangenen Jahre gezeigt. Der Sinn des Binnenmarktes ist die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Vereinheitlichung im Innern und Expansion nach außen haben aber auch Konsequenzen für jene Teile der EU und der Verfassung, die sich als der Anfang einer Staatsgewalt bezeichnen ließen.

Das gilt zunächst für den "Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts", eine Floskel, die seit dem Amsterdamer Vertrag die Zusammenarbeit auf (vor allem) asyl- und migrationspolitischem Gebiet sowie bei der Grenzsicherung einerseits und der polizeilich-strafrechtlichen und mittlerweile auch geheimdienstlichen Tätigkeit bezeichnet. Einheitliche Standards für Asylverfahren und die diversen Formen minderen und temporären Schutzes vor Verfolgung hatte schon der Amsterdamer Vertrag gefordert. Gleiches gilt für die Bedingungen, sonst legal in die EU hineinzukommen. Diese Regeln sind seit einigen Jahren in der Mache. Neuer ist die Forderung nach einem "integrierten Grenzschutzsystem an den Außengrenzen". Anfang dessen ist die "grenzpolizeiliche Agentur", für die die Kommission im Jahr 2003 einen Vorschlag präsentiert hat.

Auf der polizeilichen Seite im Innern finden wir hier insbesondere Europol. Nach der Europol-Konvention war dieses Haager Amt zunächst als keineswegs unproblematische Informationssammelstelle geplant - ein riesiger Datenapparat. Mit dem Amsterdamer Vertrag begannen die Schritte in Richtung einer operativen Zusammenarbeit. Europol soll an Ermittlungen in den Mitgliedstaaten beteiligt werden, hieß es in diversen Entwürfen der letzten Jahre. Die "Verfassung" geht darüber hinaus: Europol soll Ermittlungen und operative Maßnahmen durchführen. Ein kleiner, aber sehr wichtiger Unterschied. Eurojust ist erst vor zwei Jahren errichtet worden, jetzt "kann" gemäß der Verfassung daraus eine Europäische Staatsanwaltschaft gebastelt werden. Im Straf- und Strafprozessrecht "kann" es Angleichungen geben, Mindestnormen, zentraler Grundsatz aber ist die gegenseitige Anerkennung aller richterlichen Entscheidungen. Wenn ein Richter in Spanien "festnehmen" sagt, heißt das auch in Deutschland "festnehmen". So entsteht zwar nicht ein Raum der Freiheit, aber einer der vermeintlichen Sicherheit und des Sicherheitsrechts.

Die Zielvorgaben in der militarisierten Außenpolitik waren schon im Amsterdamer Vertrag weitgehend enthalten. Sie reichen von "humanitären" und Katastrophenhilfeeinsätzen bis hin zu "Kampfeinsätzen ... einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen". Das alles natürlich auch zur Terrorismusbekämpfung. Aus einer engeren Zusammenarbeit von einigen Mitgliedstaaten - auch hier - "kann", d.h. soll, eine gemeinsame Militärpolitik werden. Dafür müssen auch die rüstungswirtschaftlichen Voraussetzungen geschaffen werden, weshalb die Verfassung diesmal dazu verpflichtet, ein "Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" einzurichten und mit der Industrie zusammenzuarbeiten.

und die institutionellen Verstrebungen der Verfassungskiste
Schon im Normalfall ist das Institutionengerüst der EU exekutiv dominiert. Der Europäische Rat gibt die Linie vor. Die Kommission macht Gesetzgebungsvorschläge, die dann vom Ministerrat und vom Parlament verabschiedet werden müssen. Ein eigenes Vorschlagsrecht hat das Parlament nicht. Es darf nur mitbestimmen. Angesichts der fehlenden EU-Öffentlichkeit, dem Umstand, dass die ParlamentarierInnen in erster Linie VertreterInnen ihrer nationalen Parteien sind und auch von den BürgerInnen einzelstaatlich getrennt gewählt werden (eine Deutsche kann nicht für eine französische Partei stimmen, ein Spanier nicht für eine deutsche), ist dieses Parlament repräsentativ schwach auf der Brust. Kein Vergleich zum Ministerrat oder zur Kommission, die ihren gemeinsamen bürokratischen Interessen folgen können.

Wenn es um die polizeiliche oder militärische Sicherheit geht, ist dieser Normalfall außer Kraft gesetzt. Hier beginnen lange Stunden der Exekutive:

In der polizeilichen Inneren Sicherheit unterscheidet die Verfassung zwischen gesetzgeberischen undoperativen Aufgaben. Letztere werden schlauerweise einem "Ausschuss" des Ministerrates anvertraut, in dem alle "zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten" und die einschlägigen "Ämter, Einrichtungen und Agenturen" Platz nehmen sollen. Eine Art Schatten-Innenministerium. Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente werden "auf dem Laufenden gehalten". Sie erhalten informatorische Brosamen vom Tische der Herren, zu sagen haben sie nichts. Gleiches gilt übrigens für Gesetze, die das Operative betreffen.

In der militärischen Äußeren Sicherheit ist das Europäische Parlament ganz weg vom Fenster. Hier fasst der Ministerrat bzw. der Europäische Rat all seine "Beschlüsse" definitiv alleine. Er stützt sich dabei auf ein "Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee" und einen "Militärausschuss", beide existieren schon jetzt. Die EU-Exekutive ist hier auch nicht die Kommission, sondern der Außenminister, der wiederum vom Europäischen Rat gewählt wird.

Von all den schönen Kriterien, die eine Verfassung so wünschenswert machen würden, bleibt nichts außer heiße Luft. Der Konvent sah es laut Vorwort als Aufgabe seines Verfassungsentwurfs an, "den Bürgern das europäische Projekt und die europäischen Organe näher zu bringen." Wir Bürgerinnen und Bürger sollten uns tatsächlich den Verfassungsentwurf mindestens einmal näher zur Brust und dann schnell wieder davon Abstand nehmen.

Broschüre

komitee.eps

Die europäischeKonstitution des Neoliberalismus - Für eine demokratische europäische Verfassungsbewegung

Herausgeber:

  • Komitee für Grundrechte und Demokratie
  • Republikanischer Anwältinnen und Anwälteverein

Autoren: Heiner Busch, Wolf Dieter Narr, Elke Steven (Komitee für Grundrechte und Demokratie)

ISBN 3-88906-108-7 - 140 Seiten - Preis: 10 Euro

Die Autoren halten eine Verfassung der EU für unbedingt erforderlich. Den vom Europäischen Konvent vorgelegten Entwurf einer EU Verfassung kritisieren sie jedoch fundamental. Er entspreche in keiner Weise den Ansprüchen an eine demokratisch menschenrechtliche Gestaltung dieses Zusammenschlusses. Dieser Entwurf stelle im Gegenteil einen bürokratisch eingepflockten Binnenmarktund die Stärkung seiner Konkurrenzfähigkeit im Weltmarkt ins Zentrum. Als unionseuropäi-sche Hauptziele werden darin die Freiheiten des Kapitals, der Ware, der Dienstleis-tung und der Arbeit sichtbar. Sowohl die gemeinsame Militärpolitik als auch die Zusammenarbeit der Polizeien sollen folglich dem Schutz dieser zentralen ökonomi-schen Interessen dienen. Die Menschenrechte werden nur proklamiert. Verschleiert werden die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen, vor allem all derjenigen, die Schutz und Zuflucht suchen. Mit Demokratie hat dieser Entwurf nichts zu tun.

Die Broschüre leistet eine grundlegende Kritik an dem vorliegenden Verfassungs-entwurf und hilft bei dessen Lektüre. Vor allem will sie zu einer demokratischen europäischen Verfassungsbewegung von unten ermutigen. Verfassungen müssen ausgerichtet bleiben an den sozialen Bedingungen der einzelnen und je besonderen Menschen. Die Vielfalt muss gestärkt und erhalten bleiben. Eine europäische Demokratie, zusammengesetzt aus vielen Demokratien, muss folglich von unten wachsen.

Zu bestellen gegen Vorauszahlung bei:

Komitee für Grundrechte und Demokratie,
Aquinostr. 7 11
50670 Köln
Telefon: 0221 - 97269 -30; Fax: -31
info [at] grundrechtekomitee [dot] de

Konto: Volksbank Odenwald, Konto: 802 46 18, BLZ 508 635 13

(Siehe auch: Die europäische Konstitution des Neoliberalismus - Für eine demokratische europäische Verfassungsbewegung; Herausgeber: Komitee für Grundrechte und Demokratie und Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, ISBN 3-88906-108-7, 140 Seiten, Preis: 10 Euro, zu bestellen bei: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Aquinostr. 7-11, 50670 Köln, Tel.: 0221-9726930, info [at] grundrechtekomitee [dot] de)

Konto: Volksbank Odenwald, Konto: 802 46 18, BLZ 508 635 13

(Siehe auch: Die europäische Konstitution des Neoliberalismus - Für eine demokratische europäische Verfassungsbewegung; Herausgeber: Komitee für Grundrechte und Demokratie und Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, ISBN 3-88906-108-7, 140 Seiten, Preis: 10 Euro, zu bestellen bei: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Aquinostr. 7-11, 50670 Köln, Tel.: 0221-9726930, info [at] grundrechtekomitee [dot] de)

Anmerkung:

  1. Der Artikel erschien unter dem Titel "Safety first - Europäische Verfassung im Sicherheitswahn" zunächst in QuerBlick, Rundbrief der IKVU, Nr. 12, 1/2004, Bonn und ist etwas überarbeitet worden.

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