Europäische Union

Die Europäische Union auf dem Weg zur Militärmacht?

von Martina Fischer
Schwerpunkt
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Die Europäische Union (EU) wurde vielfach international für ihre Verdienste in der Aussöhnung gewürdigt, unter anderem durch die Verleihung des Friedensnobelpreises. Die Römischen Verträge brachten die Staaten in eine enge wirtschaftliche und politische Kooperation, die sie bislang vor nationalistischen Alleingängen und erneuter militärischer Konfrontation bewahrten. Auch angesichts umfangreicher Erweiterungsprozesse und trotz einiger Erosionserscheinungen kann die EU für sich in Anspruch nehmen, nach innen als Friedensprojekt gewirkt zu haben. Wie aber sieht es mit den auswärtigen Beziehungen und dem Beitrag der EU zu einer europäischen und globalen Friedensordnung aus? Wird die EU dem selbstgesetzten Anspruch einer „Wertegemeinschaft“, die sich für Liberalität, Frieden und Menschenrechte einsetzt, gerecht?

Bisher bildete die EU auch für viele, die sich im globalen Süden für Frieden, Menschenrechte und Entwicklung engagieren, einen wichtigen Referenzrahmen. Die aktuelle Politik der EU ist allerdings von neuen Schwerpunktsetzungen geprägt, die Zweifel an ihrer friedenspolitischen Eignung aufkommen lassen. In rasantem Tempo werden Kooperationen im militärischen Bereich vorangetrieben: Im nächsten EU-Haushalt 2021-27 sollen ein milliardenschwerer „Europäischer Verteidigungsfonds“ und umfangreiche Investitionen in „Militärische Mobilität“ festgeschrieben werden, zusätzlich zu den nationalen Verteidigungsbudgets und den Ausgaben der Mitgliedstaaten für eine ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO). Unterstützung für militärische Eingreiftruppen und „Ertüchtigung“ von Polizei und Armeen in Drittstaaten bilden weitere Elemente dieser Entwicklung.

„PESCO“ und „Militärische Mobilität“: EU-Mittel für die NATO?
Im November 2017 unterzeichneten die MinisterInnen von 23 EU-Mitgliedstaaten eine „gemeinsame Mitteilung“ über die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (PESCO) in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Mittlerweile sind 25 Länder beteiligt. Sie verpflichten sich zur jährlichen Prüfung ihrer Streitkräfteplanung durch die Europäische Verteidigungsagentur und zur Steigerung ihrer Verteidigungsausgaben, militärische Einheiten für gemeinsame Missionen bereitzuhalten und eine schnellere Verlegung von Truppen und Rüstungsgütern grenzüberschreitend ermöglichen. Zu den im Rahmen der PESCO geplanten Projekten gehören die Entwicklung gemeinsamer Waffen- und Trägersysteme, Kooperationen im Bereich der Überwachungstechnologien und Cyber-Security, Schaffung von EU-Kampftruppen (Battlegroups) zur Krisenreaktion, sowie Ausbildungs- und Ausrüstungsunterstützung für Armeen in Drittstaaten. Letzteres zielt vor allem auf Einsätze in Afrika. Zudem beschloss der Rat der EU im November 2018, die Kompetenzen der EU-Operationszentrale (OPSCEN) zu erweitern. Bislang konnte diese nur sogenannte „nicht-exekutive-Einsätze“ planen und leiten. Vorrangige Einsatzgebiete waren die Sahelregion und das Horn von Afrika, z.B. EU-Militärmissionen in Somalia, Mali und der Zentralafrikanischen Republik. Ab 2020 soll diese Einsatzzentrale auch "exekutive militärische Operationen in der Größenordnung von bis zu einer EU Battlegroup" leiten.

Die o.g. Kooperationen werden von den EU-Institutionen nicht als Konkurrenz zur NATO verstanden, sondern sollen „Synergien“ erzeugen, so wird in einschlägigen „Fact-Sheets“ und Berichten betont. Gemäß der strategischen Erklärung mit dem NATO-Generalsekretär vom Juli 2016 geht es darum, die „strategische Partnerschaft zwischen EU und NATO“ zu verstärken. Darin wurde eine intensivere operative Zusammenarbeit „auf See und im Bereich der Migration“ vereinbart, in der „Cybersicherheit“, Abwehr „hybrider Bedrohungen“, in der Rüstungsforschung und -entwicklung, und im „Kapazitätsaufbau“ für Partner in der „östlichen und südlichen Nachbarschaft“. Laut einer gemeinsamen Erklärung der EU-Kommission, des Rats und des NATO-Generalsekretärs vom 10. Juli 2018 sollen 74 gemeinsame Projekte umgesetzt werden.

Gleichzeitig schlägt die EU-Kommission vor, dass im nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen im Zeitraum 2021-27 6,5 Mrd Euro in „Militärische Mobilität“ investiert werden, das betrifft vor allem den Ausbau des Schienen- und Straßennetzes für eine schnellere Verlegung von Truppen, Waffen und Material in mögliche Einsatzgebiete, bis an die Grenzen Russlands. Dieser Vorschlag muss noch vom EP und den Mitgliedstaaten abgesegnet werden. Staaten wie Irland und Österreich, die einer Militärunion EU skeptisch gegenüberstehen, meinen, dass die Finanzierung derartiger Infrastrukturmaßnahmen Aufgabe der NATO sei.

„European Defence Fund“: Subventionierung der Rüstungsindustrie aus dem Gemeinschaftshaushalt
13 Mrd. Euro sollen laut Kommission und EP im nächsten Finanzrahmen 2021-2027 für einen „Europäischen Verteidigungsfonds“ eingeplant werden.  Zusammen mit den o.g. 6,5 Mrd. für „Militärische Mobilität“ würden dann insgesamt 19,5 Mrd Euro aus dem EU-Gemeinschaftshaushalt für militärische Zwecke ausgegeben. Gleichzeitig sollen nach einem parallelen Gesetzentwurf ("NDICI") Aufgaben im Bereich der zivilen Krisenprävention und Friedensförderung um etwa 2/3 zum laufenden Finanzrahmen auf knapp 1 Mrd Euro gekürzt werden. Der Verteidigungsfonds wurde von einer industrienahen ExpertInnengruppe  konzipiert. Es handelt sich um ein ambitioniertes Programm zur Subventionierung der europäischen Rüstungswirtschaft, deren Wettbewerbsfähigkeit erhöht werden soll, so heißt es im Verordnungstext. Da durch solch üppige öffentliche Förderung zusätzliche industrielle Kapazitäten aufgebaut werden, ist zu befürchten, dass das Projekt auch zur erhöhten Exportfreudigkeit der Branche beitragen wird. Davor hat das "European Network against Arms Trade"  mit Recht gewarnt. Noch ist umstritten, ob die Einrichtung eines EU-Verteidigungsfonds überhaupt mit geltendem EU-Recht vereinbar ist. Die Fraktion der Linken im EP hat dazu ein Gutachten  in Auftrag gegeben, das die Rechtmäßigkeit bezweifelt.

Bereits in der letzten Dekade hat die EU begonnen, Sicherheitsforschung zu subventionieren. Eine 2017 beschlossene „vorbereitende Maßnahme“ bildete den Türöffner für einen gemeinsamen Rüstungsforschungshaushalt, für den zunächst 90 Millionen Euro veranschlagt wurden, weitere 500 Millionen Euro sollen künftig jährlich die Mitgliedstaaten dazu beisteuern. Im selben Zusammenhang steht die Verordnung zum European Defence Industry Development Programme (EDIDP), die im Juni 2017 von der Kommission als Bestandteil des Verteidigungsfonds vorgelegt wurde. Ungeachtet aller Proteste (z.B. der Fraktionen der Grünen und der europäischen Linken) soll es für die Jahre 2019 und 2020 mit jeweils 500 Millionen Euro ausgestattet werden, und eine von der Kommission geplante Nachfolgeverordnung (ab 2021) strebt Ausgaben von einer Milliarde Euro jährlich an.

Militärkooperationen mit Diktaturen
Im Juni 2018 forderte der Europäische Rat die Kommission auf, Vorschläge zur Ausgestaltung von Kooperationen im Rahmen der "European Peace Facility" (EPF) zu erarbeiten. Dieses Instrument wurde im Entwurf für den Finanzrahmen 2021-27 mit vorgestellt, ist aber nicht Teil des Gemeinschaftshaushalts. Damit sollen Einsätze, die vormals im Rahmen der "African Peace Facility“ über den sogenannten ATHENA-Mechanismus durchgeführt wurden, von den Mitgliedstaaten zusätzlich finanziert werden. Auch Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe („Ertüchtigung“) für Armeen in Drittstaaten soll damit gefördert werden und kann so – anders als bei der Finanzierung aus dem Gemeinschaftshaushalt – auch mit Transfer von Waffen und Munition verknüpft werden. Dabei sind sowohl die GSVP-Missionen für Training und Ausrüstung von Sicherheitspersonal – z.B. EUCAP Sahel Mali, EUTM Mali und EUCAP Sahel Niger - oder die „Ertüchtigung“ der libyschen Küstenwache als auch die finanzielle Unterstützung für die "G5 Sahel Joint Force", einer Eingreiftruppe, die von Mali, Tschad, Niger, Mauretanien und Burkina Faso bereitgestellt wird, sehr kritisch zu bewerten, weil teilweise Staaten gestärkt werden, die Menschenrechte missachten.

Schlussfolgerung und Ausblick
Bis heute konnten sich die EU-Mitgliedstaaten nicht auf eine gemeinsame Migrationspolitik einigen, die mehr Möglichkeiten für legale Einwanderung eröffnet und Schutzbedürftigen aus Bürgerkriegsregionen eine sichere Einreise und faire Asylverfahren gewährt. Stattdessen richten sie ihre Politik auf Migrationsverhinderung mit polizeilichen und militärischen Maßnahmen, die in den Herkunfts- und Transitländern wirken sollen, aber lediglich Symptome und keine Ursachen bekämpfen. Ähnlich wie die Türkei erhalten Staaten in Nordafrika inzwischen finanzielle Vorteile sowie Handels- oder Visaerleichterungen, wenn sie dafür Grenzen sichern und sich zur Rücknahme von Migranten und Migrantinnen verpflichten. Außerdem werden sie mit EU-Geldern für die Ausrüstung ihrer Polizei und Armeen belohnt. Von West- bis Ostafrika erkauft sich die EU die Zusammenarbeit mit den Staatschefs in der Migrationsabwehr. Seit 2016 wurden nicht nur Abkommen mit nordafrikanischen Küstenstaaten, sondern auch mit den Sahel-Staaten sowie für Äthiopien, Eritrea, Sudan, Somalia, Gambia, Senegal, Ghana und Nigeria erarbeitet. Mit Ihrer Politik der Vorverlagerung von Grenzen und militärischer Abschottung droht die EU jegliche Glaubwürdigkeit als „Wertegemeinschaft für Liberalität, Menschenrechte und Demokratie“ zu verlieren. Um ein Referenzrahmen für Aktivist/innen im globalen Süden zu bleiben, müsste sie ihre Afrikapolitik kohärenter gestalten und auf die Beseitigung der Ursachen für Gewaltkonflikte ausrichten.

Aber auch im Hinblick auf die östlichen Nachbarn sollte sich die EU auf ihre bisherigen Stärken – Diplomatie und Dialog, wirtschaftliche und kulturelle Kooperation - besinnen, statt auf militärische Kapazitäten zu setzen. Hierfür sollten die EU-Mitgliedstaaten die zivile Dimension der GSVP zügig ausbauen, in der es weiterhin an Personal für den Aufbau von Institutionen und Rechtsstaatlichkeit fehlt. Friedenspolitik in Europa und an die EU angrenzenden Regionen kann allerdings nur gesamteuropäisch gestaltet werden. Das zeigt sich an dem Konflikt, der sich im Zuge der NATO-Osterweiterung und der (völkerrechtswidrigen) Besetzung von Gebieten in der Ukraine durch Russland entwickelte. Sanktionen haben offenkundig wenig bewirkt. Die für eine Lösung des Konflikts erforderlichen diplomatischen und rüstungskontrollpolitischen Instrumente können nicht durch die EU allein bereitgestellt oder geschaffen werden. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass sich die EU und ihre Mitgliedstaaten dringend für die umfassende Stärkung der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) einsetzen müssen. Sie bildet ein bewährtes gesamteuropäisches System kollektiver Sicherheit, das auf Diplomatie und Vertrauensbildung setzt, Schiedsgerichts¬verfahren und Einrichtungen zur Krisenverhütung, Konfliktbearbeitung und Rüstungskontrolle vorhält. Das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte bildet Regierungs- und Strafverfolgungsbeamte sowie NGOs zur Förderung und Überwachung der Menschenrechte aus, ein Hochkommissariat überwacht die Rechte von Minderheiten. Diese Strukturen sollte die EU materiell und finanziell stärken, anstatt Sicherheit in erster Linie militärisch zu definieren und in die Unterstützung (oder gar Doppelung) von NATO-Strukturen zu investieren.  

Anmerkungen
1 https://www.eda.europa.eu/info-hub/press-centre/latest-news/2015/06/18/h...
2 Vgl. http://enaat.org/eu-defence-fund.
3 Vgl. https://www.sabine-loesing.de/de/article/754.rechtsgutachten-best%C3%A4t...

Weitere Informationen zum Thema finden sich in den Blogbeiträgen der Autorin unter https://info.brot-fuer-die-welt.de/blog/dr-martina-fischer

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