Direkte Demokratie als Chance

von Thomas Mayer
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Die Resignation überwinden
Die Probleme unserer Zeit sind allen bekannt: Sterbende Wälder, verschmutzte Luft und vergiftetes Wasser, Kriege, Hunger, Diskriminierung von Menschen etc. Das allergrößte Problem ist jedoch die Resignation. Denn wir Menschen, d.h. wir alle gemeinsam, müßten es ja nicht so machen, wie wir es machen, wenn nur die Kraft vorhanden wäre, es anders zu machen. Doch, die meisten Menschen erleben sich als ohnmächtig den Ereignissen ausgeliefert. Und das unheimliche daran ist: es sind Ereignisse, für die man, wenn man es genau nimmt, einzelne Schuldige gar nicht identifizieren kann. Diesem Ohnmachtsgefühl liegt zugrunde, daß wir Bürgerinnen und Bürger auf unseren Staat als Einzelne allenfalls sehr beschränkte Einflußmöglichkeiten haben. Rechtliche Instrumente, um uns selber unüberhörbar zu Wort zu melden und uns in die Entscheidungsfindung einzumischen, fehlen. Das bindet viele Kräfte und verhindert nötige Initiativen.

Als Dreh- und Angelpunkt begreife ich deshalb das demokratische Recht, als eigentlicher Souverän die Grundentscheidungen unseres Staates selbst treffen zu können: das Recht auf Volksbegehren und Volksentscheid. So könnte jede/r erleben, daß sie/er gar nicht so machtlos ist. Gefesselte Initiativkräfte werden frei. Die Motivation, sich mit gesellschaftlichen Fragen zu beschäftigen nimmt zu, die Resignation nimmt ab. Und das ist heute das Wichtigste. (Die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden in den Gemeinden Schleswig-Holsteins 1990 hat das z. B. gezeigt: In seither über 40 Bürgerbegehren zu den verschiedensten kommunalpolitischen Fragen faßten viele wieder Mut und wurden initiativ.)

Direkte Demokratie: Wenn auch nicht ausreichend, so doch notwendig
Ich meine nicht, daß die Volksgesetzgebung eine friedlichere, ökologischere und solidarischere Politik schon garantiert. Doch die Direkte Demokratie ist, wenn auch nicht ausreichend, so doch notwendig. Sie zwingt dazu, Politik als Lernprozeß und argumentative Auseinandersetzung zu verstehen, in dem Einsichten vermittelt, Menschen ernstgenommen und überzeugt werden müssen - alles Elemente eines emanzipatorischen Politikverständnisses. Und es sollte jedem klar sein: Politische Veränderungen können nur mit den Menschen und nicht (von einer Elite) für die Menschen erreicht werden. Wenn wir also politische Veränderungen herbeiführen wollen, so brauchen wir wirksame Wege, um öffentliche Diskussionen, die in verbindlichen Entscheidungen münden, herbeiführen zu können.

Bisher können nur die politischen Parteien (bzw. deren VertreterInnen) Gesetze beschließen. Alle anderen Gruppen und die einzelnen BürgerInnen müssen sich als Bittsteller an die Parteien wenden. Diese Übermacht der Parteien steht in kraßem Gegensatz zu deren korrumpierenden Machtsucht, Einfallslosigkeit und Kurzzeitdenken. Der Club of Rome folgert in seinen Jahresbericht 1991 aus diesem bedenklichen Zustand der Parteien: "In der gegenwärtig entstehenden Welt kann die Entscheidungsgewalt nicht länger das Monopol von Regierungen und Ministerien sein" - weite gesellschaftliche Kreise müssen miteinbezogen werden. Ein Wandlung der politischen Struktur der Bundesrepublik steht an. Die Stellvertreter- und Zuschauerdemokratie muß durch die Teilnehmerdemokratie abgelöst werden.

Weitere Gründe für Direkte Demokratie
1.    Gegen Staats- und Parteienverdrossenheit: Die CDU-Ministerin Angela Merkel stellte in ihrem Jugendbericht 1992 fest, daß 80% der Jugendlichen die Politiker für Lügner halten und nur noch 16% den Parteien Lösungskompetenz für Zukunftsfragen zuschreiben (taz 28. 4.92). Die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg brachten einen neuen Rekord der Wahlenthaltung - über 30% entschieden sich dafür, keine der Parteien zu wählen. Die Zeremonie der "Blankoscheck-Ausstellung" hat (endlich) an Reiz verloren. Aber, wo soll diese kontinuierliche Entfremdung zwischen Parteien und Bevölkerung letztlich hinführen? Sollen in zwanzig Jahren wie gehabt nur die Parteivertreter das Sagen haben, obwohl sie dann gar keiner mehr ernst nimmt? Eine Selbsterneuerung der Parteien wäre schön, aber wie soll diese zustandekommen, sind doch die Parteien selbst an ihrer Krise Schuld. Nur Münchhausen konnte sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Den einzigen wirklichen Lösungsweg aus der Parteienverdrossenheit sehe ich darin, daß die Parteien insgesamt wieder Macht an die Bevölkerung zurückgeben. Das wird letztlich auch positive Rückwirkungen auf die Parteien haben. Da sie ständig korrigiert werden können, werden sie sich wieder mehr an die Bevölkerung anbinden.

2.    Gegen politische Gewalt: Bei vielen Menschen führte die Staats- und Parteienverdrossenheit zu politischer Gewalt. Wenn die Konflikte (z.B. Atomenergie, die Ausländerfrage etc.) nicht unnötig eskalieren sollen, müssen sie demokratisch gelöst werden können. Eine Entscheidung der Bevölkerung besitzt mehr Akzeptanz als eine Entscheidung einer Regierung oder des Parlaments. Die gewaltsamen Proteste an der Startbahn-West oder an der WAA-Wackersdorf gingen erst los, als jeweils ein Volksbegehren auf Landesebene wegen Konflikt mit Bundeskompetenzen gerichtlich verworfen wurde.

3.     Für eine verantwortete Politik: Heute bestimmen viele Entscheidungen das Schicksal von uns allen und allen kommenden Generationen: Atomenergie, Müllpolitik, Luft- und Wasserschutz, Gentechnologie, Friedenspolitik, etc.. Diese häufig nicht rückgängig zu machenden Weichen-stellungen können unmöglich nur von einer kleinen Gruppe getroffen werden. Keine Regierung oder Partei kann hier die Verantwortung übernehmen, das können nur alle BürgerInnen gemeinsam.

4.     Für die Stärkung von Bürgerinitiativen und der außerparlamentarischen Kompetenz: In der Bundesrepublik gibt es ca. 70.000 Bürgerinitiativen. In diesen engagieren sich mehr Menschen als in den Parteien. Damit wir die anstehenden ökologischen und sozialen Aufgaben besser bewältigen können, brauchen auch Bürgerinitiativen politische Mitwirkungsrechte. Gute und neue Ideen könnten dann schneller umgesetzt werden. Das zeigen die vielen Erfahrungen z.B. in den USA, der Schweiz oder in Italien. Durch die Direkte Demokratie können Bürgergruppen Themen auf die politische Tagesordnung bringen. Da sie jederzeit mit einem Volksentscheid drohen können, werden sie von den Behörden und Regierungen auch zwischen den Volksabstimmungen ernster genommen. Gute Volksentscheidskampagnen können helfen bleibende Bürgerbewegungen aufzubauen. (siehe hierzu: Thomas Mayer, Was bewirkt Direkte Demokratie?, in: Volksbegehren und Volksentscheid, Bonn, 1991)

Intensivseminar im großen Stil: Volksentscheid "Das Bessere Müllkonzept" in Bayern
Damit diese Thesen vorstellbarer werden, sei auf ein Beispiel verwiesen: Vor fünf Jahren zog ich aus Kempten (Allgäu) weg. Ich hatte lange in einer Müll-Bürgerinitiative mitgearbeitet. Wenn ich heute nach Kempten fahre, bin ich immer wieder erstaunt, wie energisch die CSU alle unsere Müllvermeidungsvorschläge umsetzt, die damals von ihr rigoros abgelehnt wurden. Zu dieser positiven Wandlung, die in ganz Bayern mehr oder weniger festzustellen ist, kam es durch den Müllvolksentscheid. Dieser bewirkte, daß Bayern nun das wohl ökologischste Müllgesetz der Bundesrepublik besitzt, daß die CSU weitgehend begriff, was in Sachen Müllvermeidung zu tun ist und vor allem, daß es einen phantastischen Schub im Müllbewußtsein der Bevölkerung gab. Das Volksbegehren und der Volksentscheid war ein Intensivseminar im großen Stil. Die Müll-Bürgerinitiativen konnten nur durch die Möglichkeit eine verbindliche Entscheidung herbeizufüh-ren, diese hervorragende Wirkung erzielen. (siehe z.B. Diemut Schnetz, Neue soziale Bewegungen und direkte Demokratie, in: Volksbegehren und Volksentscheid, Bonn 1991)

Die Chance der Verfassungsreform:
In der aktuellen Verfassungsreform, die bis Ende 1993 abgeschlossen sein soll, wird sich entscheiden, ob die skizzierte nötige Wandlung unserer Demokratie gelingt oder nicht. Wenn sie nicht gelingt, wird unsere Demokratie weiter austrocknen und wahrscheinlich vom EG-Zentralismus widerstandslos überrannt werden. Die Fähigkeit unserer Gesellschaft mit den Zukunftsproblemen umzugehen, wird weiter sinken. Im Bundestag setzten sich bisher das Bündnis 90, die SPD und die PDS für die Direkte Demokratie ein. Die Regierungsparteien verhalten sich abweisend, wenngleich auf Länder- und Gemeindeebene sich die FDP und in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen auch die CDU für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden engagiert. Ein Erfolg in der Verfassungskommission ist nicht ausgeschlossen. Dazu ist aber nötig, daß viele Bürgervoten eintreffen.

Deshalb bitte ich Sie am Schluß dieses Plädoyers für eine Wandlung der Zuschauerdemokratie:

Ø Lesen und überdenken Sie den in diesem Heft dokumentierten Vorschlag zur Regelung der Direkten Demokratie und die anderen Beiträge.

Ø Schreiben Sie - kurz oder ausführlich - an die Gemeinsame Verfassungskommission (Bundestag, Bundeshaus, 5300 Bonn 1) und fordern Sie die Direkte Demokratie. Apropos, bis März 1992 sind in der Verfassungskommission schon über 3.000 Bürgervoten zu den verschiedensten Verfassungsfragen eingegangen.

Materialhinweise:
Bei der IDEE - Initiative DEmokratie Entwickeln können folgende Materialien bezogen werden (bitte Scheck, Bargeld oder Briefmarken beilegen):
-     Zeitschrift für Direkte Demokratie, erscheint monatlich, kostenloses Probeexemplar wird zugesandt.

-    Volksbegehren und Volksentscheid, einführende Broschüre in die Direkte Demokratie, DinA 4, 28 Seiten, DM 3,-

-    Direkte Demokratie in Deutschland, der Hofgeismarer Gesetzesentwurf für Volksbegehren und Volksentscheid, mit Erläuterung, DinA 5, 92 Seiten, DM 5,-

-    In Neuer Verfassung - auf dem Weg zur Teilnehmerdemokratie, einführende Aufsätze zu Volksbegehren und Volksentscheid, Akteneinsichtsrecht, Ombudsman, Bürgerbeteiligung, freie Schulen, DinA 5, 136 Seiten, DM 5,-

-    Demokratie vor Ort - Modelle und Instrumente der Bürgerbeteiligung, DinA 5, ca. 160 Seiten, DM 10,-

-    Eurotopia-Dokumentation Nr. 1/1991 - eine europäische Bürgerbewegung auf dem Weg zu einem direktdemokratischen Europa, DinA 4, 40 Seiten, DM 5,-

-    Eurotopia Newsletter und Dokumentation Nr. 1/1992, DinA 4, ca. 60 Seiten, DM 10,-
 

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