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Pax Christi zum Jahrestag von Kunduz
Einspruch: Keine Rechtssicherheit für Massaker oder gezieltes Töten von Aufständischen
vonAnfang September 2010 jährt sich zum ersten Mal der Bombenangriff in der Nacht zum 4. September 2009 auf zwei von den Taliban gekaperte Tanklastzüge im Kunduz-Fluss in Afghanistan. Bei diesem Angriff auf Befehl des deutschen Kommandeurs Oberst Klein kamen rund 140 Personen ums Leben, darunter zahlreiche Zivilisten, auch Kinder und Jugendliche. Das „Feuer im Fluss“ (Süddeutsche Zeitung) gilt zu Recht als erstes Massaker der „transformierten“ Bundeswehr.
Von der politischen und militärischen Führung der Bundeswehr wurden zivile Opfer zunächst bestritten; dann erklärte man den Angriff gleichwohl für militärisch „angemessen“ und gar „notwendig“ (Minister zu Guttenberg). Die staatsanwaltlichen (Vor-)Ermittlungen gegen Oberst Klein und seinen Fliegerleitoffizier hat die Generalbundesanwaltschaft am 19. April d.J. eingestellt. Dazu wurde das Engagement der Bundeswehr, das bisher gemäß UN- und Bundestags-Mandat als „Stabilisierungsmission“ galt, als Beteiligung an einem „nichtinternationalen bewaffneten Konflikt“ (gemeinhin: Bürgerkrieg) eingestuft. Diese Neueinstufung beinhaltet vor allem eine Änderung des relevanten normativen Bezugsrahmens.
Die Befugnisse der Bundeswehr richten sich bei einem „Stabilisierungseinsatz“ nach dem Friedensvölkerrecht; sie entsprechen letztlich polizeilichen Befugnissen; d.h. im Besonderen, man darf Gegner nicht gezielt töten, darf die Waffe nur in unmittelbaren Gefährdungssituationen einsetzen, also nur in Notwehr oder bei Nothilfe für andere in Gefahr für Leib oder Leben; für die strafrechtliche Bewertung von Tötungshandlungen gilt das (nationale) Strafgesetzbuch. Dagegen kann bei einem (nicht-internationalen) „bewaffneten Konflikt“ die Waffe gemäß dem Kriegsvölkerrecht gezielt zur Tötung von Gegnern eingesetzt werden, auch wenn man sich nicht in einer konkreten Gefahrensituation befindet; auch ist den Kommandeuren ein größerer Einschätzungsspielraum eingeräumt; für die Beurteilung von Tötungshandlungen gilt das Völkerstrafgesetzbuch – mit wesentlich erweiterten Grenzen für die „Lizenz zum Töten“.
Das ist von besonderer Bedeutung für die sog. Kollateralschäden. Sie sind nur strafbar, wenn bei einem militärischen Angriff „als sicher erwartet“ wird, „dass der Angriff die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen oder die Beschädigung ziviler Objekte in einem Ausmaß verursachen wird, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB). Im konkreten Fall bescheinigte die Bundesanwaltschaft Oberst Klein und seinem Fliegerleitoffizier umstandslos, der Bombenangriff sei völkerrechtlich zulässig gewesen; sie hätten davon ausgehen dürfen, dass keine Zivilisten am Ort des Geschehens waren.
Verteidigungsminister, Bundeswehrführung und Bundeswehrverband brachten umgehend Genugtuung über die damit angeblich erreichte „Handlungs- und Rechtssicherheit“ zum Ausdruck. Bei der Bundestags-Debatte über die Regierungserklärung zu Afghanistan am 22.04.2010 wurde versucht, den gesamten Bundestag für eine alternativlose Kriegspolitik zu vereinnahmen. So behauptete etwa die FDP-Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger, der Bundestag begrüße ausdrücklich, dass die Ermittlungen eingestellt wurden; jetzt herrsche „Rechtssicherheit für unsere Soldatinnen und Soldaten“.
Die Kommission Friedenspolitik der deutschen Sektion von pax christi verfolgt diese Entwicklung mit größten Bedenken:
1. Wie die Generalbundesanwaltschaft bei ihrer Einstellungsentscheidung nach dem Völkerstrafgesetzbuch gemäß Pressemitteilung vom 19.04.2010 zu der Auffassung gelangen konnte, dass Oberst Klein „sich der Verpflichtung bewusst war, zivile Opfer soweit irgend möglich zu vermeiden“ und davon „ausgehen durfte, dass keine Zivilisten vor Ort waren“, und dass gar die Tötung der am Tatort anwesenden afghanischen Zivilpersonen nicht „außer Verhältnis zu dem insgesamt [mit dem Luftangriff] erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil“ stand und deshalb gerechtfertigt war, ist nicht nachvollziehbar. Zahlreiche aus unabhängigen Quellen bekannte Umstände des Geschehens vom 3. auf den 4. September 2009 am Kunduz-Fluss stehen dieser Auffassung entgegen. Die fragliche Einschätzung und Bewertung lässt die von der Exekutive weisungsabhängige Instanz Generalbundesanwaltschaft strukturell ungeeignet erscheinen für eine unabhängige und unparteiische Untersuchung strafrechtlich relevanter Vorgänge im Bereich der politisch zu kontrollierenden Exekutive. Der Umstand, dass „das der Entscheidung zugrunde liegende militärische Tatsachenmaterial ... zum überwiegenden Teil als geheime Verschlusssache eingestuft“ ist und somit der Öffentlichkeit nicht für einen kritischen Nachvollzug der Einstellungsentscheidung zur Verfügung steht, ist ein weiterer gewichtiger Grund, die Eignung der Generalbundesanwaltschaft für eine unabhängige und unparteiische Beurteilung zu bezweifeln.
2. Im Lichte der Abhängigkeit der Bundesanwaltschaft von der Exekutive erscheint aber vor allem die rechtliche Neubewertung des Afghanistan-Einsatzes hoch problematisch. Dazu, wie man zu der neuen „Erkenntnis“ gelangte, findet sich in der dürftigen Pressemitteilung vom 19.04.2010 kein einziger Satz; vielleicht unterliegt ja auch das dem militärischen Geheimschutz. Wenige Monate zuvor (am 19. Nov. 2009 bzw. am 10. Febr. 2010) sprachen allerdings der Verteidigungs- und der Außenminister übereinstimmend – in Abkehr von der bisherigen regierungsamtlichen Auffassung und Sprachregelung – im Deutschen Bundestag mit Bezug auf die militärischen Auseinandersetzungen in Afghanistan von einem „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts“; und diese Neubewertung, so wurde verlautbart, müsse Konsequenzen haben für die Handlungsbefugnisse der Soldat/innen, für die Befehlsgebung und für die strafrechtliche Beurteilung kritischen Verhaltens – soll heißen: sie müsse der Kriegsführungsfähigkeit der Bundeswehr dienlich sein. Im gleichen Tenor wurde das Thema auch in einigen Leitmedien diskutiert. Zumindest im Ergebnis „erkannte“ demnach die Generalbundesanwaltschaft entsprechend den politischen Vorgaben für Recht, was augenscheinlich dem Militär nützt bzw. den militärischen Ansatz der Konfliktbearbeitung befördert. Man kann sich kaum des Eindrucks von „Strafvereitelung im Amt“ erwehren. Dass die Neubewertung nebenbei den „kriegsähnlichen Zuständen“ am Hindukusch (zu Guttenberg) eher gerecht wird als die bisherige Interpretation, steht auf einem anderen Blatt. Dieser Sachverhalt wirft ein grelles Licht auf die Versuche der Verantwortlichen, über Monate und Jahre die Öffentlichkeit über die wahren Verhältnisse am Hindukusch zu täuschen und sich die Zustimmung der Bevölkerung zu erschleichen; er erfordert aber eine explizite Änderung des Mandats oder den Abbruch des militärischen Engagements.
3. Die rechtliche Neubewertung des Afghanistan-Konflikts resultierte einerseits aus der verschärften Aufstandsbekämpfung, die u.a. mit Änderung der sog. Taschenkarte (Rules of Engagement) vom Juni 2009 eingeleitet wurde. Andererseits sind friedenspolitisch noch fatalere Auswirkungen zu erwarten: Die Unterstellung eines „bewaffneten Konflikts im Sinne des humanitären Völkerrechts“ hat den „Vorteil“, dass nun militärisch in einer Weise gehandelt werden darf, wie es im Frieden untersagt ist, und zwar in zeitlicher Hinsicht wie im Hinblick auf zivile Begleitschäden. In Umrissen zeichnet sich eine solche Entwicklung über den Präzedenzfall Kunduz hinaus bereits ab. So erklärte Außenminister Westerwelle unlängst, unter Bezug auf die Veröffentlichung im Internet von bislang geheimen Dokumenten u.a. über die gezielte Tötung von Taliban-Führern und anderen Terrorverdächtigen durch eine amerikanische Spezialeinheit, solche Tötungen von Aufständischen seien legal, mit dem Völkerrecht vereinbar. Angesichts dieser Denkweise drängt sich die Frage auf, ob nicht die Bundeswehr am Hindukusch in Teilen bereits zu einem Taliban-Abschussdienst der US-Armee verkommen oder zumindest indirekt in diese Kriegstreiberei verwickelt ist, etwa indem sie Namen von Aufständischen auf Suchlisten setzt oder eigene Aufklärungsergebnisse an Nato-Partner weitergibt. Kaum weniger gravierend ist die damit beförderte Erosion unseres eigenen Rechtsstaates, im Besonderen die offenkundige Aushöhlung des Prinzips „Jeder Beschuldigte hat das Recht auf einen fairen Prozess“.
4. Im Blick auf die damit angesprochenen grundrechtlichen und ethischen Fundamente unserer Gesellschaft ist die sich abzeichnende Entwicklung tief verstörend. Vieles mag in dem Spannungsfeld von (nationalem) einfachem Recht, Verfassungsrecht und Völkerrecht, in dem die Auslandseinsätze der Bundeswehr stehen, ungeklärt und strittig sein. Unstrittig ist jedoch, dass das Grundgesetz und die Grundrechte – da der Staat hier hoheitlich handelt – auch hier gelten (Art. 1 Abs. 3 GG), dass zumindest Grundnormen wie Menschenwürde, Recht auf Leben und Folterverbot auch beim Auslandseinsatz deutscher Soldat/innen unabdingbar gültig sind. Die Ignoranz und Leichtfertigkeit, mit der die politische und militärische Führung unseres Landes inzwischen den Kern der fraglichen Grundnormen – die unbedingte Selbstzwecklichkeit jedes Menschen – von Soldatenstiefeln zertrampeln lässt, ist ebenso erschreckend, wie es seinerzeit die juristischen Tricks des Bundesverfassungsgerichts waren, als es 1994 aus Artikel 24 des Grundgesetzes – der „zur Wahrung des Friedens“ den Beitritt zu einem „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ erlaubt – eine Ermächtigung zu nahezu jedem beliebigen Auslandseinsatz der Bundeswehr herauslas und das Militärbündnis Nato zu einem solchen System beförderte. Bundestagsabgeordneten, welche die neue „Rechtssicherheit“ begrüßen, halten wir vor, sich ihrer Verantwortung für die Vernichtung von Menschenleben – unter der afghanischen Zivilbevölkerung, den afghanischen Sicherheitskräften, den deutschen Soldat/innen, aber auch unter den Aufständischen – nicht wirklich zu stellen. Doch selbst wenn man demnächst den verfassungsrechtlichen Verteidigungsbegriff in Luft auflösen sollte, nach Art. 25 GG bleiben die allgemeinen Regeln des Völkerrechts „Bestandteil des Bundesrechts, ... gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ Wir fordern dazu auf, sich der damit verfügbaren Rechtsmacht gegenüber den Regierenden wie gegenüber den Bundestagabgeordneten bewusst zu werden und diese Rechtsmacht wo immer möglich zur Wahrung unserer Demokratischen Grundordnung zu nutzen.
Erklärung vom 02.09.2010, von der Redaktion gekürzt.