Entmilitarisierung: Für ein ziviles Europa

Für eine durchgreifende Entmilitarisierung der beiden deutschen Staaten, die Schaffung einer neuen gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsstruktur und die Auflösung der Militärbündnisse haben sich die TeilnehmerInnen einer Konferenz von Friedensgruppen aus beiden deutschen Staaten in Hannover ausgesprochen. An der Zusammenkunft nahmen VertreterInnen von etwa 25 DDR- und 40 BRD:-Friedensgruppen, sowie mehrere Experten der Friedens- und Bürgerrechtsbewegungen aus den europäischen Nachbarländern teil. Initiiert und ausgerichtet hatte das Treffen der "Arbeitskreis deutsch-deutsche Zusammenarbeit von unten" im bundesdeutschen "Netzwerk Friedenskooperative".

In der "Lindener Erklärung", die mit großer Mehrheit beschlossen wurde, setzt sich die Konferenz für die Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen in Abstimmung mit den am KSZE-Prozeß beteiligten Ländern und innerhalb der dort zu schaffenden neuen Friedens- und Sicherheitsstrukturen ein. Die Menschen in der DDR hätten sich, so heißt es, im Oktober 1989 nicht das Selbstbestimmungsrecht erkämpft, um jetzt zur Kolonie der Bundesrepublik zu werden; daher wird ein Beitritt der DDR zur BRD gemäß Art. 23·GG abgelehnt.

 

Lindener Erklärung von Friedensgruppen aus BRD und DDR, beschlossen am. 11. März 1990 in Hannover-Linden

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Ausgelöst durch Glasnost und Perestroika zerbricht in dieser Zeit die Nachkriegsordnung, Europa steht nun vor der Aufgabe, eine Friedensordnung aufzubauen, die der durchgreifenden Entmilitarisierung. und der Kooperation zum gegenseitigen Nutzen auf ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellem Gebiet verpflichtet ist.

Wir plädieren dafür, die politische Neuordnung Europas demokratisch zu legitimieren und im Rahmen der KSZE auszubauen. Unter Beteiligung aller KSZE-Staaten ist die Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen den Verpflichtungen der zu schaffenden gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsstruktur unter Einschluß der UdSSR und Polens unterzuordnen. Die Militärbündnisse sind zugunsten dieser Struktur aufzulösen.

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Jetzt haben wir die Chance, die bestehenden Ungleichgewichte (sowohl in Europa als auch im Verhältnis zur 2/3-Welt) durch konsequente Abrüstung und durch eine neue Qualität internationaler Kooperation abzubauen. Diese ermöglichen heute, daß wir uns von Feindbilddenken und Geist, Logik und Praxis der Abschreckung verabschieden. Wir wollen ein Europa, das seine Verantwortung für das neue Denken und eine für die 2/3- Welt gerechte Weltwirtschaftsordnung, in der Frieden und Umweltbelange gefördert werden, wahrnimmt. Wir wollen ein Europa, in dem auch die. sozialen Menschenrechte - wie das Recht auf Wohnung, Arbeit und Bildung, die Gleichstellung der Frauen - verwirklicht werden. Wir wollen ein Europa, in dem die Eigenheiten der Kulturen und Regionen erhalten bleiben und entwickelt werden können. Wir setzen uns dafür ein, daß die KSZE-Gipfelkonferenz im Herbst 1990 eine neue gesamteuropäische Friedensordnung beschließt, mit der ein umfassender Abrüstungs- und Entmilitarisierungsplan für Europa und Nordamerika einhergeht.

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Für uns als Deutsche in West und Ost gilt: Die Kapitulation des Deutschen Reiches vom Mai 1945 ist endgültig und unwiderruflich. Wir fordern die Bundesregierung auf, die politische Neuordnung Europas nicht für neue Ansprüche an Osteuropa zu mißbrauchen. Die polnische Westgrenze an Oder und Neiße ist endgültig und nicht verhandelbar.

Wir wollen ein neues Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten zum Nutzen der Menschen. 45 Jahre Trennung in zwei weitgehend gegeneinander abgegrenzte Gesellschaften sind nicht durch wenige administrative Akte aufzuheben. Beide Gesellschaften müssen sich aufeinander zureformieren. Das Selbstbestimmungsrecht haben sich die Menschen in der DDR im Oktober 1989.nicht dazu erkämpft, um zur Kohlonie der Bundesrepublik zu werden. Ein Beitritt der DDR zur BRD gemäß Art. 23 GG kommt für uns daher nicht infrage.

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Während in der DDR einseitige Abrüstung eingeleitet wird, hält Bonn an der Stationierung von Atomwaffen und an Modernisierungsrüstung fest. Der höchste Militäretat seit Kriegsende wurde beschlossen und die Ausdehnung der NATO nach Osten wird propagiert. Wir treten dem entgegen. In BRD und DDR müssen jetzt endlich alle Atomwaffen beseitigt werden. Alle neuen Waffenprojekte sind zu stoppen und die Bundeswehr abzubauen. Eine deutsch-deutsche Armee ist für uns nicht akzeptabel!

Die Initiativen der DDR-Friedensbewegung zur radikalen Entmilitarisierung (Appell der 89) bedürfen einer bundesdeutschen Antwort in Form einer Kampagne zugunsten einer "Bundesrepublik ohne Armee"; mit beiden wollen wir Vorschläge für eine militär- und manöverfreie BRD und DDR und ihre Einbindung in die neue gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsstruktur fördern.

Beginnen wir jetzt, die dringend benötigten Mittel für soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlichen Aufbau und Bewahrung der Umwelt einzusetzen, indem Kasernen geschlossen, Rüstungsproduktion umgestellt, Truppenübungsplätze rekultiviert, Rüstungsprojekte und -exporte gestoppt und Truppen aufgelöst werden. Beginnen wir jetzt, durch Entmilitarisierung freiwerdende Mittel der 2/3 Welt zu Verfügung zu stellen, so daß sie sich aus politischen und ökonomischen Abhängigkeiten befreien kann. Wir sind nicht bereit, die Politik allein den PolitikerInnen und Bürokraten zu überlassen. Wir wissen, Frieden braucht Bewegung, braucht außerparlamentarische Aktivitäten - wie die Erfahrungen der Runden Tische beweisen. Dies gilt in beiden deutschen Gesellschaften.

Hannover-Linden, 11, März 1990

 

 

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